Società | Geflüchtete

Was bleibt

Was bleibt von den beiden Flüchtlingen, ist eine prall befüllte Lidl-Plastiktüte, mit Kleidungsstücken drin, und einem Zellophantütchen mit ein paar Keksen und Nüssen.
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Verloren steht die Tüte im leeren Wartesaal des Bahnhofs am Brenner. Die, die sie hier abgestellt hatten, sind plötzlich verschwunden und jetzt vielleicht auf dem Weg nach Norden. Sehr wahrscheinlich ist es nicht. Nur noch wenige Stunden, dann wären sie am Ziel ihrer "Reise", die ein Jahr und vier Monate gedauert hat. Ein Jahr und vier Monate: Eritrea, Sudan, Libyen, Italien, Brenner.

Endstation.

Da sage noch eineR etwas gegen Facebook: In kürzester Zeit stellte eine junge, engagierte Frau über diese Plattform die Gruppe "Winterhilfe für Flüchtlinge" auf die Beine. Anfänglich als "bloße" Kleiderhilfe gedacht, kristallisierte sich aus den Reihen der Spenderinnen ebenso schnell wie umstandslos ein Grüppchen Freiwilliger heraus (im "richtigen Leben" haben sie sich nie gesehen!), die am Brenner Dienst tun wollen, um den Flüchtlingen, die dort mitsamt ihren Träumen und Hoffnungen aus den Zügen geholt werden, den bitteren Empfang, der ihnen an dieser "inexistenten" und jedenfalls innereuropäischen Grenze (!) bereitet wird, ein bisschen weniger schwer zu machen. Ein freundliches Wort, ein warmer Raum, vielleicht eine Decke oder ein wintertaugliches Kleidungsstück, ein wenig Trost, ein Schluck Tee. Denn es ist kalt am Brenner, an dieser so unsichtbaren wie schwer bewachten Mauer, und mir will scheinen, dass dieser kalte, unwirtliche Brenner symbolisch ist für ein kaltes, unwirtliches Europa.

Im Zug sitzen mir zwei junge Männer schräg gegenüber, beide schmal, einer hoch gewachsen, hübsch, der andere schmächtig, mit schlecht geschnittenem Haar. Sein rechtes Auge fällt nach rechts außen weg. Bei uns hätte man so einen Irrtum der Natur wohl schon im Kleinkindalter "begradigt". Im Gepäcknetz über den beiden liegt nichts als eine pralle Plastiktüte von "Lidl". Daraus schließe ich, dass die beiden wohl zu der Gruppe Menschen gehören, deretwegen ich heute auf den Brenner fahre. Nur die Schwächsten reisen mit Plastiktüten. Die beiden sprechen wenig, blicken ernst aus dem Fenster, und ich frage mich, ob sie wohl das Gleiche sehen und erkennen werden wie ich, und was sie wohl aus dem Gesehenen  schließen mögen: aus der gepflegten Landschaft und den adretten Häusern, den aufwändig gesicherten Hängen, der Sauberkeit und Ordnung überall, den kahlen Bäumen unter dem grauen Himmel, dem sauber gebetteten Fluss. Ja, und nicht zuletzt: Was lösen wohl die hohen Berge in ihnen aus, die Berge, die jeden Blick nach draußen versperren und das Leben schwierig gestalten? Ich glaube zu verstehen, warum Menschen wie sie hier Reichtum und Überfluss sehen, denn es sieht sehr gut und nach einigem Wohlstand aus, was da draußen an unseren Augen, denen der jungen Männer und meinen, vorbeifliegt.

In Sterzing verlässt ein junges Paar, Schüler wohl, den Zug. Einer der beiden Afrikaner schaut kurz auf und wirft einen raschen, schüchternen Blick auf den jungen Einheimischen, der neben ihm gesessen und die ganze Zeit mit seinem Handy gespielt und seiner Freundin herum gealbert hatte, auf der anderen Seite des Ganges. Unbeschwert und sorgenlos, wie es sich gehört für junge Leute. Sie sind gleich, denke ich mir, zwei junge Männer im selben Alter, die gleichen Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte. Bloß dass der eine schwarz, und der andere weiß ist, dieser von der Schule nach Hause fährt, seine Freundin im Arm, und jener seit einem Jahr und vier Monaten unterwegs ist, in der Hoffnung und dem Willen, seine Familie unterstützen zu können, wie er mir später erzählen wird.

Wie ungerecht das Leben doch ist.

Aus irgendeinem Grunde verlassen die beiden jungen Männer mit Ihrer Lidl-Tüte den Zug in Pfitsch. Ob sie hier bleiben wollen? Oder mit einem Taxi weiter reisen? Zu Fuß? Per Anhalter? Vielleicht sind sie auch nur an der falschen Haltestelle ausgestiegen, die Lautsprecheransagen der Ortsnamen in unseren beiden hauptsächlichen Landessprachen klingen vermutlich fremd und vielleicht gar verwirrend in ihren Ohren. Wie auch immer: Ich treffe sie wenig später wieder, sie drücken sich in eine dunkle Nische des Bahnsteigs. Ich kann nicht erkennen, ob ihnen kalt ist, oder ob sie versuchen, sich unsichtbar zu machen. Aber sie wirken dankbar, als ich sie anspreche, und fragen nach dem Weg zu einer Toilette. Eine Toilette.

Natürlich wusste ich schon immer, dass Flüchtlinge nicht frei sind. Aber es ist eine Sache, in den Zeitungen darüber zu lesen, und eine ganz andere, vor diesem Elend zu stehen und dieser grenzenlosen Traurigkeit in den Augen zweier Zwanzigjähriger ins Gesicht sehen zu müssen: Sie sind gleich alt und gleich unbescholten wie meine Tochter, und doch bleibt ihnen verwehrt, was für letztere und uns alle selbstverständlich ist, nämlich sich jederzeit frei, offen und ungezwungen in der Welt bewegen zu können. Es ist schwer zu ertragen, und fast schäme ich mich, ob all der Freiheit, die ich genießen darf, einfach so, weil ich das Glück hatte, hier geboren zu werden, nichts sonst, kein Verdienst, nichts geleistet dafür. Fast schäme ich mich, vor diesen jungen Männern, die ihr Land und ihre Familie verlassen und sich auf diese große, schwierige und lebensgefährliche Reise begeben haben, nur um dieser Freiheit willen, die uns selbstverständlich ist, ihnen aber mit aller Macht verwehrt werden soll.

Sich als freier Mensch in einer freien Welt zu bewegen.

Und ja, es ist schier unerträglich, zu erkennen, dass sie zwar sehen, was alles unternommen wird, um sie von Europa fern zu halten und an ihrer Weiterreise zu hindern, diese zwei jungen Männer, nur noch wenige Stunden von ihrem Ziel entfernt, nach einem Jahr und vier Monaten, dass sie es aber nicht verstehen. Ich kann nur bestätigen, aber auch nicht erklären, weil's nicht erklärbar ist. Wie auch? Diese übermächtigen, unsichtbaren Kräfte, die von einem Willen gesteuert werden, den niemand so recht versteht, und dem die beiden "Reisenden" und so viele andere wie sie hilflos ausgeliefert sind, wie Riesen, die mit ihrem jungen Leben, ihren Hoffnungen und ihren Ängsten Federball spielen.

Irgendwo in Eritrea sind jetzt wohl zwei Mütter, Mütter wie ich und jede andere Mutter dieser Erde, die in Gedanken bei ihren Söhnen sind, derweil diese Söhne hier am kalten Brenner in einem warmen Wartesaal eine kurze Verschnaufpause genießen, auf ihrer langen Odyssee, und noch nicht wissen, aber vielleicht ahnen, dass alle ihre Hoffnungen und vielleicht auch die ihrer Mütter und Familien sich hier an diesem Brenner zerschlagen werden. Mir wird das Herz schwer.

Als ich von einem kleinen Rundgang an der feuchten Herbstluft zurück kehre, sind die beiden verschwunden. Das Gleis ist leer, und auch der Bahnsteig, wie der ganze Bahnhof. Nur ein deutscher Polizist wartet noch das Ende seines heutigen Dienstes am italienischen Brenner ab, und im warmen Wartesaal steht einsam und verloren eine Plastiktüte von Lidl.

Möge den beiden, die jetzt gänzlich ohne "Gepäck" reisen und doch eine so schwere Last mit sich führen, das Glück hold sein. Ein Jahr und vier Monate: Eritrea, Sudan, Libyen, Italien, Brenner. Vielleicht Deutschland, vielleicht auch nicht.

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Oskar Egger Lun, 12/08/2014 - 09:52

Schöne Worte. Nein, die Hoffnungen dieser Jugend und ihrer Eltern müssen sich nicht zerschlagen. Denn sie haben, wie wenige Verwöhnte unserer Wohlstandsgesellschaft, den Mut, sich auf das Abenteuer Leben einzulassen, Entbehrungen in Kauf zu nehmen, Anstrengung, Verlust, in der Hoffnung auf eine bessere Umwelt, die sie vielleicht auch zu schätzen wissen. Und sie lehren uns viel, wenn wir, wie Du, hinschauen und verstehen.

Lun, 12/08/2014 - 09:52 Collegamento permanente
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Frank Blumtritt Lun, 12/08/2014 - 22:20

Gute Beobachtungen, Silvia! Ich habe einen höllischen Respekt vor Flüchtlingen... Meine Mutter war 20 als sie als Deutsche 1945 aus der Tschechei vertrieben wurde und alleine durch halb Europa irrte. Ich hatte das Glück die Sahara zu bereisen und weiß, was deine Eritreer dort durchgemacht haben müssen. Ich bin auch lange genug zur See gefahren, um zu wissen wie es sein muss ein Meer auf einem Schlauchboot zu durchfahren. Zudem haben diese Leute auf ihrem Weg Konzentrationslager in Lybien und Sklaverei erlebt. Ihr Leben war null und nichts wert. Niemand von uns würde auch nur einen Bruchteil dieser Risiken eingehen. Ich hab wirklich einen höllischen Respekt vor Flüchtlingen im allgemeinen und jenen aus Afrika im besonderen...

Lun, 12/08/2014 - 22:20 Collegamento permanente