Società | Interview

“Das kann doch niemand wollen”

Caroline von Hohenbühel spricht über ihr Engagement für Flüchtlinge, die Flüchtlingspolitik des Landes – und zeigt Verständnis für den Rückzug der Caritas.
hohenbuehel.jpg
Foto: salto

Für Caroline von Hohenbühel ist Flüchtlingshilfe etwas Selbstverständliches. “Als Mensch kümmert man sich einfach um den Nächsten wenn man die Möglichkeit dazu hat”, sagt die 57-jährige Baronin, die mit ihrer Familie in Eppan lebt. Die gebürtige Österreicherin ist in der Evangelischen Kirche aktiv und hat bereits im Elternhaus mitbekommen, was gelebte Nächstenliebe bedeutet. Ihre Mutter nahm Flüchtlinge aus Bosnien und Vietnam auf. Heute kümmert sich von Hohenbühel selbst, in ihrer Kirche und gemeinsam mit den Freiwilligen von Binario 1, mit viel Engagement um Menschen, die in Bozen ankommen und aufgrund ihres Status als “Nicht-Quotenflüchtling” keinen Anspruch auf Unterkunft und Versorgung haben. Im Interview spricht sie über freiwilliges Engagement, die Flüchtlingspolitik des Landes und was sie sich für die Zukunft wünscht.

salto.bz: Frau von Hohenbühel, ist es für Sie als Christin eine Pflicht, Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zu helfen?
Caroline von Hohenbühel: Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Vergangene Woche kam die Mitteilung, dass sich die Kriterien für die Aufnahme der Menschen, die sich nicht im Rahmen der staatlichen Quote im Land aufhalten – insbesondere jene, die besonderen Schutzes bedürfen – geändert haben. Die Caritas hat sich daraufhin aus Protest aus der Flüchtlingsberatung zurückgezogen. Einige der Menschen, die daraufhin auf der Straße gelandet sind, sind in der Evangelischen Kirche untergekommen.
Als christliche Organisation wie es die Evangelische Kirche ist, sind wir verpflichtet, dem Nächsten zu helfen, egal ob von irgendjemandem eine Weisung kommt oder nicht. Deshalb verstehe ich auch die Caritas, dass sie jetzt endlich reagiert hat.

In unserer Kirche nehmen wir Flüchtlinge unabhängig von ihrer Religion auf. Religion wird dort auch thematisiert.

Den Rückzug aus der Flüchtlingsberatung können Sie nachvollziehen?
Ich hätte gehofft, dass so etwas viel früher kommt. Hinter den Türen wird schon diskutiert worden sein, mit dem Land. Aber nach außen hat es kein Signal gegeben. Was nach den jüngsten Änderungen der Kriterien aber vergessen wird, ist, dass die Männer auch schon vorher auf der Straße waren. Die “vulnerabili” sind an verschiedenen Orten untergebracht, während die Männer kein Dach über dem Kopf haben. Wenn sie Glück haben, bekommen sie von der Caritas ein Voucher für das Essen. Aber die gibt es jetzt wahrscheinlich auch nicht mehr. Da bleibt ja fast nichts anderes übrig als zu betteln. Ein Nigerianer in unserer Kirchengemeinde hat zu mir gesagt, wenn er nicht mehr betteln darf, dann muss er stehlen gehen. Wenn man weiterdenkt, was das Aussperren der Flüchtlinge, provoziert... Das kann doch niemand wollen.

Neben den Männern hätten nun auch andere Menschen auf der Straße landen sollen. Darunter Minderjährige ab 14 Jahren...
Das mit den Minderjährigen ist sowieso ein Kapitel für sich. Die Unterbringung für unbegleitete Minderjährige in Bozen ist seit Langem schon voll.  Wenn sie am Bahnhof ankommen und vielleicht auch Asylantrag stellen wollen, sagt man ihnen deshalb, dass sie auf die Straße müssen. Oder rät ihnen, zurückzufahren. Für mich ist das absolut undenkbar, dass man diese Kinder schlechter behandelt wie jeden anderen.

Von der Politik wird immer gesagt, dass alles geregelt und unter Kontrolle sei und dass alle ihre Aufgaben machten.

Wissen Sie, wie viele unbegleitete Minderjährige sich derzeit in Bozen aufhalten?
Nein, das ist ganz schwer abzuschätzen. Ich habe bemerkt, dass Kinder ganz oft ganz schnell irgendwohin verschwinden.

Stehlen sich die offiziellen Stellen Ihrer Meinung nach aus ihrer Verantwortung?
Man will die Menschen loswerden und versucht alles, um es ihnen hier so mühsam wie möglich zu machen, damit sie weggehen. Bereits am Bahnhof wird oft gesagt: “Fahrt am besten gleich wieder zurück.” Ich finde das unmöglich.

Ist es einfacher, unkompliziert und auch mal spontan zu helfen, wenn man das aus freien Stücken macht? Also nicht wie die Provinz an Gesetzesvorgaben oder Organisationen an gewisse interne Regeln gebunden ist?
Für uns als Binario 1 ist es natürlich einfacher. Aber wir haben uns das Ziel gesetzt, dass wir nur im Notfall aktiv werden. Also nur, wenn irgendwo etwas akut falsch läuft. Wir übernehmen keine Arbeit, für die die Provinz andere Organisationen bezahlt. Das ist nicht unser Auftrag. Wir machen nicht die Arbeit von Volontarius oder Caritas, sondern nur wenn zum Beispiel am Bahnhof etwas nicht passt. Das ist für uns natürlich viel leichter weil wir nicht an irgendwelche Weisungen gebunden sind und jeder für seine Handlungen selber gerade steht.

Wenn man sich Kirche nennt, ist man verpflichtet, sich um den Nächsten zu kümmern.

Besteht aufgrund des ehrenamtlichen Engagements wie dem Ihren nicht das Risiko, dass sich die Institutionen bewusst zurückhalten? Nach dem Motto, “Das machen eh die”?
Das wird auch bei uns diskutiert. Wenn man sich mehr und mehr einsetzt, muss man sich irgendwann einfach zurücknehmen. Denn wir wollen und können auf Dauer nicht das alles machen. Wir haben weder das Geld, noch die räumlichen Möglichkeiten noch das Personal. Und außerdem sind wir auch nicht ausgebildet. Wir können nur Impulse geben. Mit dem was wir tun, versuchen wir aufzuzeigen, wo es fehlt.

Landesrätin Martha Stocker sagt, dass man es vermeiden möchte, einen “Anziehungseffekt” zu generieren. Sie sieht die Schaffung von Unterbringungsplätzen für Menschen außerhalb des Asylsystems als “problematisch”. Können Sie diese Überlegung verstehen?
Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Die Leute kommen sowieso, egal welche Zustände herrschen. Die “fuori quota” haben überhaupt nichts, die sitzen auf der Straße. Sie haben nichts zum Essen, keinen Platz zum Schlafen, keinen Deutschunterricht. Aber sie kommen trotzdem. Man muss sich vorstellen, was die alles durchgemacht, was schon alles überwunden haben. Die sind durch Diktakturen, durch die Wüste, durch Libyen. Was soll sie denn noch aufhalten? Und dass wir “anziehend” wären, davon sind wir so weit entfernt…

Bei Binario 1 engagiert sich jeder in Eigenverantwortung und auf eigene Rechnung. Und jeder macht auch nur so viel wie er kann. Wenn jemand nicht mehr kann, springt der andere ein.

Erst gestern (3. Oktober, Anm. d. Red.) wurde in einer Pressemitteilung der Provinz versucht zu erklären, warum die jüngsten Maßnahmen getroffen wurden. Unter anderem, weil sich die Situation in den vergangenen Monaten “klar zugespitzt” habe.
Das kann ich nicht bestätigen. Die Zahlen, die ich kenne sind folgende: Laut Auskunft des Innenimisteriums gab es in Südtirol im August etwa 1.380 Asylbewerber. Frau Stocker sagte jüngst, es gibt 1.080 Quotenflüchtlinge und rund 300 Nicht-Quotenflüchtlinge. Die Zahlen sind aber seit dem Frühjahr unverändert. Aufgrund der Ankünfte in Süditalien müsste die absolute Anzahl der Personen, die Südtirol im Rahmen der Quote von 0,9 Prozent zugewiesen werden, ja steigen. Sie steigt aber nicht. Ich weiß nicht, ob die Nicht-Quotenflüchtlinge jetzt in die Quote hineinzählen…

Die Provinz verlangt ja vehement, dass der Staat die “fuori quota” im staatlichen Asylsystem berücksichtigt – damit würden die Kosten für Unterkunft und Versorgung der “fuori quota” auf den Staat übergehen. Die Provinz sei ansonsten nicht imstande, die Situation zu bewältigen, heißt es.
Das wäre die optimale Lösung. Denn dann müssten sie die Menschen, die heute noch nicht in der Quote drin sind, behandeln wie jene, die im Asylsystem drin sind.

Sie haben gesagt, dass Sie in jüngster Zeit keinen dramatischen Anstieg von Ankünften in Bozen bemerkt haben?
Eigentlich nicht. Soweit wir das beobachten konnten, kommen rund 30 Menschen am Tag am Bahnhof durch. Sowohl von Norden als auch von Süden kommend.

Die Stadtverwalter, allen voran Bürgermeister Renzo Caramaschi und Sozialstadtrat Sandro Repetto, beklagen, dass Bozen mit den Flüchtlingen alleine gelassen werde und überfordert sei. Wie lautet Ihre Einschätzung?
Ich wohne in Eppan, daher sehe ich das Ganze von außen. Ich finde schon, dass Bozen sehr im Stich gelassen wird. Es gibt das Alpi, wo wahnsinnig viele Leute mitten in der Stadt untergebracht sind. Sie sind nicht integriert und nur ganz wenige von ihnen arbeiten. Die hängen alle rum, sie können ja gar nicht anders. Gleich daneben ist der Bahnhof, ein Anziehungspunkt für Leute ohne Obdach, die dann alle im Bahnhofspark landen. Ich verstehe, dass es schon viel für Bozen ist. Nur, es müsste halt verteilt werden. Zahlenmäßig wäre es überhaupt kein Problem, es wäre eine reine Verwaltungssache.

Es gibt immer noch ganz viele Leute, die etwas tun, die helfen wollen.

Können Sie einschätzen, ob die Menschen überhaupt verteilt werden wollen? Welche Absichten haben die “fuori quota” – wollen sie im Land bleiben?
Das ist ganz verschieden. Manche waren bereits schon woanders, manche wollen gerne weg – was dann wieder nicht geht. Manche können Deutsch und würden gerne hier bleiben, manche wollen so nahe wie möglich an Verwandten oder Bekannten in Österreich sein. Es sind lauter individuelle Geschichten. Aber in der Masse würden sie wahrscheinlich lieber hierbleiben. Nicht weil das Land so anziehend ist, sondern weil sie sich, manche sind ja schon seit letzten Sommer da, doch irgendwie eingelebt haben, Beziehungen, kleine Jobmöglichkeiten, Freundschaften aufgebaut haben, und es hier bisschen kennen.

Haben Sie einen Wunsch für die nächsten Tage, Wochen, ja vielleicht Monate?
Was ich mir wünsche? Dass sich alle Organisationen und alle Menschen, die helfen wollen, sich zusammen tun und es durchbekommen, dass die Nicht-Quotenflüchtlinge Quotenflüchltinge werden. Und dass die Behandlung in Ordnung ist und es Integrationsunterricht gibt. Davon gibt es aktuell leider noch viel zu wenig. Aber es gibt noch ein paar andere Wünsche.

Ja?
Es gibt zum Beispiel den Wunsch, dass man kontrolliert, was in den Aufnahmezentren und den Strukturen, in denen die Menschen untergebracht werden, passiert. Und dass das Geld, das für die Aufnahme und Versorgung zur Verfügung gestellt wird, auch tatsächlich dafür eingesetzt wird. Und mehr Transparenz.