Società | Interview

Von Grund auf kritisch

Wie erklärt sich Staatsanwalt Markus Mayr das geringe Vertrauen der Südtiroler in das italienische Rechtssystem? Auch mit dem Misstrauen in die etablierte Politik.

salto.bz: Herr Mayr, laut jüngst veröffentlichten Daten des ASTAT vertraut nur ein Drittel der Südtiroler dem italiensichen Rechtssystem. Geben diese Daten Anlass zur Sorge?
Markus Mayr: Es ist bezeichnend, dass in Italien allgemein – und auch in Südtirol – die Zufriedenheit mit dem Rechtssystem nicht sehr groß ist. Das ist ein Ergebnis, dass natürlich Anlass zum Nachdenken geben muss.

Welche Beobachtungen haben Sie beim Lesen der Daten gemacht?
Ich habe festgestellt, dass die Südtiroler eigentlich im gleichen Ausmaß mit dem Rechtssystem zufrieden sind wie die Italiener insgesamt, von denen 29 Prozent angegeben, dem Rechtssystem zu vertrauen. Ein bezeichnendes Resultat ist hingegen, dass die Italiener in Südtirol zu einem höheren Prozentsatz dem Rechtssystem zufrieden sind als der Durchschnitt.

Inwiefern ist das bezeichnend?
Weil sich bestätigt, dass das eigene Rechtssystem identitätsbildend ist und insofern interpretiert werden muss.

In den nordeuropäischen Ländern gibt es einen grundsätzlichen Konsens über die Ausrichtung des Rechtssystems.

Die italienischsprachigen Südtiroler identifizieren sich stärker mit der italienischen Justizsystem als die deutschsprachigen?
Dazu muss gesagt werden, dass die Zufriedenheit beziehungsweise das Vertrauen in das Rechtssystem einen weit größeren Bereich als die Justiz umfasst. Und zwar auch die Politik, die Steuergerechtigkeit, den Verkehr, das Verhältnis zu den Ordnungskräften. Daher sagen die Daten im Grunde nicht sehr viel über die Justiz aus. Was das ASTAT auch belegt, denn immerhin sind 56 Prozent der Südtiroler mit der Ziviljustiz zufrieden. Das ist ein sehr positives Ergebnis, von dem ich ehrlich gesagt überrascht war.

Sie hätten ein schlechteres Zeugnis ausgestellt?
Unsere Ziviljustiz funktioniert natürlich nicht so, wie sie funktionieren sollte. Ich frage mich schon seit vielen Jahren, und wundere mich heute noch, wieso der Staat Italien nicht mehr in die Ziviljustiz investiert. Das ist mir unverständlich. Denn die Ziviljustiz ist eine ganz wichtige wirtschaftliche Infrastruktur, vergleichbar mit einer Autobahn, einer Verbindung. Ihr Nicht-Funktionieren führt dazu, dass Angst vor Investitionen umgeht, dass Banken kein Geld ausgeben und fremdes Kapital erst gar nicht ins Land kommt.

Warum sollte der Staat Geld in etwas investieren, dass, wie Sie sagen, sowieso nicht funktioniert wie es sollte?
Das ärgert mich an dieser Sache am meisten: Die Ziviljustiz kostet den Staat nämlich im Grunde so gut wie nichts. Menschen, die sich an die Gerichte wenden, müssen natürlich die Gerichtsspesen tragen. Damit wird heute der Aufwand der Gerichte zwar nicht gedeckt. Aber alle würden gerne ein wenig mehr zahlen, wenn die Gerichte funktionieren würden.

Das italienische Justizsystem ist wirklich sehr gebeutelt.

Worin sehen Sie den Hauptgrund dafür, dass sie es nicht tun?
Wir haben kein Personal. Im Vergleich zu Österreich oder Deutschland ist die Verfügbarkeit an richterlichem Personal im Verhältnis zum Bedarf, der da wäre, ich traue mich zu sagen, lächerlich gering.

Was unter anderem zur Folge hat, dass die Prozesse zum Teil unverhältnismäßig lange dauern?
Die Prozessdauer ist ein wichtiger Bestandteil einer funktionierenden Justiz. In Südtirol ist die Dauer zwar für die gesamtstaatlichen Verhältnisse sehr niedrig, aber im internationalen Vergleich immer noch viel zu hoch.

Sie haben vorhin den Vergleich zu Österreich und Deutschland gezogen. Aus den ASTAT-Daten geht hervor, dass dort jeweils zwei Drittel der Bevölkerung dem staatlichen Rechtssystem vertrauen. In Südtirol ist es genau umgekehrt. Haben Sie für sich eine Erklärung dafür gefunden?
Ich glaube, dass kann darauf zurückgeführt werden, dass der politische Konsens grundsätzlich in Italien nicht so groß ist wie in nordeuropäischen Ländern. Und das fällt sicherlich auch auf die Justiz zurück, die ja wirklich sehr gebeutelt ist. Einerseits weil sie aufgrund ihrer personellen Bestückung den Anforderungen nicht gewachsen ist. Andererseits weil allgemein die Italiener, aber auch die Südtiroler, dem etablierten politischen System eher kritisch gegenüber stehen.

Das Ergebnis muss natürlich Anlass zum Nachdenken geben.

Eine weitere Sache, die bei Betrachtung der ASTAT-Daten auffällt, ist, dass ausländische Staatsbürger dem italienischen Rechtssystem zu einem weit größeren Prozentsatz (50 Prozent) vertrauen als die italienischen Staatsbürger (31,5 Prozent). Wie erklären Sie sich das?
Das erklärt sich meiner Meinung ganz einfach durch den Vergleich mit den Herkunftsländern. Im Vergleich zu vielen Ländern, aus denen die Befragten stammen, herrscht in Italien beziehungsweise Südtirol wahrscheinlich ein höheres Rechtsbewusstsein.

Inwiefern?
Wenn Sie zum Beispiel bedenken, dass man in vielen Ländern, die nicht weit weg von uns sind, die Polizei grundsätzlich bestechen muss – was bei uns generell nicht der Fall ist –, dann ist das Vertrauen in unser Rechtssystem für diese Menschen natürlich größer. Hier können sie sich auch an ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde wenden, die sich ihrer Sache annimmt. Auch die sozialen Aufwendungen, die sie hier bekommen, spielen sicher eine Rolle. Vor diesem Hintergrund ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass Menschen, die aus dem Ausland kommen und hier eine Besserung im Verhältnis zu ihrem Herkunftsland sehen, ein gewisses Vertrauen an den Tag legen.

Eine Frage zum Schluss: Haben Sie eine Idee, wie man das verloren gegangene Vertrauen in das Rechtssystem wieder gewinnen kann? Was muss sich ändern?
Vielleicht müsste man diese Daten mehr aufschlüsseln und auch der Frage nachgehen, wie sehr sich die Menschen mit der Verwaltung des Landes zum Beispiel identifizieren.

Eine entsprechende Untersuchung wurde vor nicht allzu langer Zeit gemacht. Das Ergebnis: Je weiter eine Institution von den Menschen entfernt ist, desto niedriger ist das Vertrauen. Die Europäische Union und insbesondere der italienische Staat schneiden bei der Erhebung am schlechten ab, während Gemeinden und Land durchaus großes Vertrauen genießen.
Vor allem die EU leidet darunter, dass immer dann, wenn etwas nicht angenehm ist, auf sie verwiesen wird. Schuld ist immer der, der weit ist und sich nicht wehren kann.

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Albert Hofer Mer, 10/26/2016 - 13:08

Nunja nunja... ich bin nicht wirklich überzeugt, ob da "Politik, Steuergerechtigkeit, Verkehr, Verhältnis zu den Ordnungskräften" wesentlich zum Ergebnis beigetragen haben. Man müsste sich jetzt die konkrete Fragestellungen der ASTAT genau anschaun. Würde ich nach meiner Zufriedenheit mit dem (wörtlich) "Rechtssystem" gefragt werden, dann würde ich in erster Linie tatsächlich mal an die Leistungsfähigkeit und die Meriten des Justizapparats denken.

Für jene, die nicht selber in Rechtsstreitigkeiten verwickelt waren, heißt das in den deutschsprachigen Südtiroler Kontext übersetzt: Wie zufrieden waren die Leute mit der Aufarbeitung des SEL-Skandals (Verurteilung, Rekurs, Freispruch, Rekurs, Verjährung, Rekurs... Überblick verloren...)? Was halten die Leute von Robert Schülmers und der Gerichtsbarkeit am Rechnungshof? Wie schätzen sie die Durnwalder-Prozesse ein? Für patriotisch gesinnte Gemüter: Wie war das mit dem Besen und der Tricolore? Was tut die Staatsanwaltschaft gegen faschistische Wiederbetätigung? Und zuletzt für ältere Semester: Wurden die Folterungen der 60er Jahre geahndet?

Mer, 10/26/2016 - 13:08 Collegamento permanente