Politica | Gastbeitrag

Die andere Glocke

Franz Pahl ist einer derjenigen SVP-Altmandatare, die sich seit Jahren für die Doppelstaatsbürgerschaft einsetzen. In einem Beitrag für salto.bz erläutet er warum.
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Foto: salto
Derzeit wird italienweit sehr kontrovers und heftig über die Doppelstaatsbürgerschaft für die Südtiroler diskutiert. Ich möchte hier einige Anmerkungen zu dieser politischen Forderung machen, an deren Umsetzung ich seit gut sieben Jahren mitgearbeitet habe. Bevor ich auf die politische Argumente für die österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler als zweite Staatsbürgerschaft neben der italienischen eingehe, möchte ich aber die bestehende Praxis einiger europäischer Länder in Sachen Doppelstaatsbürgerschaft darstellen.


Italien

 
Das Gesetz nr 5 febbraio 1992, n. 91, Nuove norme sulla cittadinanza, pubblicato sulla G.U. n. 38 del 15-2-1992 gibt allen die Staatsbürgerschaft, die den Nachweis erbringen, dass ein Vorfahren ausgewandert ist, auch wenn dieser sich zum Zeitpunkt seiner Auswanderung nicht im Königreich Italien befand, sondern bereits anderswo lebte.
Die Fristen wurden mehrfach wieder verlängert. Italien geht damit auf die ersten Auswanderer zurück. Zur ersten großen italienischen Auswanderungswelle kam es aufgrund eines eigenen argentinischen Einwanderer-Gesetzes, um europäische Einwanderer zu gewinnen. Nach Argentinien und Brasilien wanderten ab 1878 vor allem Norditaliener aus. Italienische Auswanderung gab es zur gleichen Zeit auch in andere südamerikanische Staaten.
Weitere Auswanderungswellen gab es nach dem 1. und 2. Weltkrieg nach Südamerika, Nordamerika, Kanada, Australien usw. In europäische Staaten wanderten viele Italiener auf Arbeitssuche aus, vor allem nach Belgien (Bergbau) und nach Deutschland. Italienische Auswanderer gingen in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem damals österreichischen Trentino nach Bosnien-Hercegovina und Kroatien, damals k.u.k. Monarchie.
 

Extensive Auslegung

 
Es erhalten also auch jene die italienische Staatsbürgerschaft (auf Antrag), die in dritter oder vierter Generation im Ausland leben, oft auch keinen italienischen Namen mehr tragen (oder nur einen italienischen Zweitnamen, da es in lateinamerikanischen Ländern üblich ist, den Namen beider Eltern zu tragen) und in den meisten Fällen Italienisch überhaupt nicht mehr können.. Dieses Recht haben Italienischstämmige oder deren Nachfahren weltweit.
Die gesetzten Fristen für den Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft wurden mehrfach verlängert.
Inzwischen können auch die ehemaligen österreichischen Staatsangehörigen bzw. ihre Nachkommen aus den nach 1919 italienisch gewordenen österreichischen Gebieten (Trentino, Triest) die italienische Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sie sie nicht besitzen, weil sie – noch als österreichische Staatsbürger oder deren Nachfahren - 1919 schon in einem anderen Staat lebten.
 

Istrien, Fiume, Dalmatien

 
Die Frage der Staatsbürgerschaft für Italiener in Istrien, Fiume und Dalmatien wurde in einem eigenen Gesetz geregelt: Gesetz Nr. 124 vom 8. März 2006 ermöglicht es Italien allen, die zwischen 1940 und 1947 im Gebiet von Istrien, Fiume und Dalmatien ansässig waren und ihre italienische Staatsbürgerschaft nach Abtretung des Gebietes an Jugoslawien verloren haben, die italienische Staatsbürgerschaft wieder zu erwerben. Dies gilt auch für deren Nachkommen sowie für jene, denen durch den Vertrag von Osimo 1975 die italienische Staatsbürgerschaft abhandengekommen ist.
 

Trentiner Auswanderer

 
Italiener aus dem Trentino z.B., die schon vor dem 1. Weltkrieg ausgewandert waren, hätten sich aufgrund des Friedensvertrages von St. Germain entscheiden können, ob sie die österreichische Staatsbürgerschaft behalten oder die italienische annehmen wollten. Das war den Betreffenden im fernen Ausland natürlich nicht bekannt, und so lief die Frist dafür ab. Inzwischen hat Italien auch ihnen die Chance gegeben, nach den gleichen Regeln wie alle anderen die italienische Staatsbürgerschaft wieder zu erwerben. Interesse daran haben naturgemäß die Nachkommen ehemaliger österreichischer Staatsbürger italienischer Zunge aus dem Trentino.
 
 
Italien kann aber durchaus ein Vorbild dafür sein, wie man sich um seine ehemaligen Staatsbürger auch durch die Pass-Verleihung kümmert.
Für die ausgewanderten Trentiner und ihre Nachkommen leistet die Heimatfernenorganisation „Trentini nel Mondo“ gute Hilfestellung, stellt die Dossiers der Interessenten zusammen und leitet sie an die italienischen Konsulate weiter. Das Interesse ist sehr groß. (insgesamt leben an die 250.000 Trentiner bzw. deren Nachkommen in Südamerika) In der Regel geht es nicht um Rückwanderung nach Italien, sondern um das Gefühl, die innere Zugehörigkeit zur alten Heimat (die in den meisten Fällen gar nicht mehr bekannt ist) wieder zu verlebendigen. Die Provinz Trient bietet dazu viele Hilfestellungen (eigenes Förderungsgesetz für Auslandstrentiner).
Italien hat den Auslandsitalienern auch ein  passives und aktives Wahlrecht eingeräumt und fixe Sitze in Großwahlkreisen reserviert.
 

Kroatien

 
Auf Betreiben von Präsident Tudjman wurde schon in den ersten Jahren seiner Amtszeit (mit Gesetz) allen Kroaten in Bosnien-Hercegovina (damals 530.000, heute kriegsbedingt nur noch 230.000) das Recht auf die Staatsbürgerschaft auf Antrag eingeräumt. Seitdem hat die weitaus größte Zahl von bosnischen Kroaten einen kroatischen Pass beantragt, der sehr leicht zu erhalten ist, auch wenn der Wohnsitz in Bosnien bleibt.
Diese Rechtslage wurde im August 2005 mit einem bilateralen kroatisch-bosnischen Vertrag eigens noch einmal vertraglich verbindlich bestätigt und damit auch von Bosnien-Hercegovina anerkannt, das aber auf die Verleihung der kroatischen Staatsbürgerschaft an bosnische Kroaten ohnehin nicht einwirken konnte.
Für die Kroaten ändert sich nichts, doch wurde das Recht auf die kroatische Staatsbürgerschaft nun auch ausdrücklich auf jene Serben und muslimischen Bosniaken ausgedehnt (darum war die Regierung von Bosnien-Hercegovina daran interessiert), die früher in Kroatien gewohnt haben und die Staatsbürgerschaft eventuell aufgegeben haben, bzw. es  können all jene serbischen oder moslemischen Flüchtlinge, die im Krieg aus ihrer Heimat nach Kroatien geflüchtet sind und bis heute in Kroatien verblieben sind, nun die kroatische Staatsbürgerschaft erhalten, auch wenn sie zugleich eine bosnische Staatsbürgerschaft haben und behalten.
Serben kamen als Neusiedler nach der Vertreibung der Kroaten in die Kraijna (Gebiet von Knin bis nahe Karlovac 40 km vor Zagreb) und nach Westslawonien. Die kroatischen Bosniaken behalten ihren kroatischen Pass auf jeden Fall, auch wenn sie ihren Wohnsitz weiterhin in Bosnien haben.
 

Wahlrecht in Kroatien

 
Auslandskroaten können maximal 14 Sitze im SABOR /Parlament erhalten. Die Sitze für Auslandskroaten werden im Verhältnis zu ihrer Wahlteilnahme zugeteilt. Darum haben die Auslandskroaten in der Regel nur 4-6 Sitze inne. Interessant ist, dass die Auslandskroaten  (im Unterschied zu den Italienern im Ausland, die eigene Wahlkreise haben) nicht auf einer eigenen Liste kandidieren, sondern auf den Listen kroatischer Parteien. Diese Kandidaten werden dann von entsprechenden Schwesterparteien im Ausland unterstützt, konkret: bosnische Kroaten kandidieren z.B. auf der Liste der kroatischen HDZ, werden dann aber von der gleichnamigen Partei in Bosnien, der HDZ-Bih (HDZ von Bosnien Hercegovina) unterstützt. So ergibt sich automatisch eine enge Verbindung beider HDZ.
 

Spanien

 
Im Ausland geborene Kinder von spanischen Staatsbürgern (nur ein Vorfahre muss Spanier gewesen sein) erhalten die spanische Staatsbürgerschaft (Ges. Nr. 52 vom 26.12. 2007, Frist von 2 Jahren, verlängerbar auf 3 Jahre).  Dieses Recht wird auch auf die Enkel ausgedehnt, sofern sie einen Vater haben, der als Sohn eines Spaniers geboren wurde zu einer Zeit, als dessen Vater (also der Großvater) die spanische Staatsbürgerschaft noch nicht verloren hatte.
Mit dem erwähnten Gesetz 52/07 (ley de naturalización) erhalten die spanische Staatsbürgerschaft auch alle Kinder von jenen, die in der Zeit des Francoregimes das Land verlassen mussten oder vom Regime ausgebürgert wurden, mit Passverlust. Dieses Recht ist ebenfalls auf die Enkel ausgedehnt, wenn der Großvater oder die Großmutter, die das Land verlassen mussten, vor 1870 geboren wurden. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist nicht an einen Wohnsitz in Spanien gebunden (ebenso wenig wie bei den Auslandsitalienern, die die italienische Staatsbürgerschaft wiedererlangen).
 

Portugal

 
Alle, die nach Portugal einwandern und Söhne oder Enkel von ausgewanderten Portugiesen sind, erhalten die portugiesische Staatsbürgerschaft. Damit kann nun theoretisch eine große Zahl von Kindern und Enkeln von Auswanderern die portugiesische Staatsbürgerschaft erhalten. Heute gibt es in Brasilien unmittelbar 800.000 potentiell unmittelbar Berechtigte. Anderen Berechnungen zufolge sind es potentiell sogar bis zu 5 Millionen Brasilianer. Das gleiche Recht haben natürlich auch Portugiesen aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien.
Enkel der portugiesischen Auswanderer und alle jene die portugiesische Vorfahren haben, erhalten den Pass innerhalb eines Jahres, sofern es sich um Nachkommen handelt, die einen männlichen portugiesischen Großvater haben, der seinerseits aber die portugiesische Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben haben darf. Die brasilianische Staatsbürgerschaft bleibt den Einwanderern und deren Nachkommen portugiesischer oder anderer Staatsangehörigkeit auch bei mehrfacher Staatsangehörigkeit erhalten.
In Venezuela  sind es etwa 400.000 portugiesische Passinhaber, in Argentinien 12.000, ebenso viele in anderen ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika und Asien. Wegen der kulturellen und sprachlichen Identität der portugiesisch-stämmigen Brasilianer („luso brasileiros“) mit den Portugiesen in Portugal besteht reges Interesse. In vielen Fällen geht es wiederum um ideelle Gründe, aber natürlich verleiht ein portugiesischer Pass auch Rechte in der EU, was für Bürger aus weniger entwickelten Ländern auch existenziell und ökonomisch von Interesse sein kann. Der Zweck der erleichterten Verleihung der portugiesischen Staatsbürgerschaft ist die Integration von Einwanderern in Portugal.
 

Deutschland

 
Alle, die innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 und nach dem Stand vom 31. Dezember 1939 deutsche Staatsbürger waren (bzw. ihre Nachkommen), sind nach wie vor Deutsche. Das waren damals in den deutschen Ostgebieten auch eine Million Polen und rund 17 Millionen - nach 1945/46 vertriebene - Deutsche. Heute leben noch rund 800.000 Deutschstämmige in Schlesien, wenige im polnischen Ostpreußen und im russischen Ostpreußen, Königsberg. Sie alle sind nach wie vor Deutsche und erhalten sofort einen deutschen Pass, wenn sie ihn beantragen (nach dem Prinzip der territorialen Herkunft, des ius solis. Ebenfalls erhalten alle Deutschstämmigen (z. B. aus Russland. Siebenbürgen oder Böhmen-Mähren) bei Nachweis ihrer deutschen Herkunft auf Antrag den deutschen Pass nach dem Prinzip der blutmäßigen Abstammung, des ius sanguinis).
 

Polen

 
Kein Pole kann die Staatsbürgerschaft verlieren, wenn er auswandert, außer er verzichtet darauf. Alle, die erst nach dem 21. August 1962 Polen verlassen haben, behalten die polnische Staatsbürgerschaft, die anderen, die davor ausgewandert sind und eine andere Staatbürgerschaft annahmen, haben die polnische verloren. Das waren meist die deutschen Vertriebenen, die man nicht wiederhaben will.
Die Deutschen, die nach diesem Datum 1962 aus eigenem Antrieb aus dem kommunistischen Polen auswanderten, erhielten ebenfalls den deutschen Pass und behielten die polnische Staatsbürgerschaft nach dem polnischen Recht.
 
 
Ein österreichischer Pass für Südtiroler ist also ein ideeller Wert, ein die Identität verstärkendes Moment und darum ein grundsatzpolitisches Anliegen.
 

Frankreich

 
Kinder mit wenigstens einem französischen Elternteil erhalten die französische Staatsbürgerschaft, auch wenn sie im Ausland geboren wurden und nicht in Frankreich leben (ius sanguinis). Außerdem erhalten alle in Frankreich geborenen Kinder den französischen Pass (ius solis) und alle, die mindestens seit dem 8. bzw. dem 11. Lebensjahr mindestens 5 Jahre in Frankreich gelebt haben. Die Staatsbürgerschaft  kann der in Frankreich Geborene auch ablehnen, wenn er auch eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt und die Ablehnung ein halbes Jahr vor oder bis zu einem Jahr nach der Volljährigkeit bekundet. 
 

Ein Grund-Interesse

 
Für die SVP geht es nicht um irgendeinen individuellen-materiellen oder parteipolitischen Vorteil, sondern um einen ideellen. Der Passinhaber fühlt sich automatisch auch dem betreffenden Staat gegenüber verbunden. Der italienische Pass ist für Südtiroler eine Notwendigkeit, aber kein inneres Bekenntnis, und auch wenn er in der EU weitgehend dem österreichischen gleichgestellt ist. Nicht ganz, weil man mit einem EU-Pass in wenigen Hoheitsbereichen des Staates, wie dem diplomatischen Dienst und im Hochsicherheitsbereich, nicht angestellt werden könnte, hingegen schon im normalen öffentlichen Dienst.
 

Pass auf Antrag

 
Es käme nicht zu einer Abwanderung von Südtirolern nach Österreich, weil die materiellen Lebensverhältnisse die gleichen sind und in der EU ohnehin schon das Niederlassungsrecht besteht. Jeder kann heute nach EU-Recht in allen EU-Staaten ein Gewerbe oder eine Arbeit aufnehmen. Die Antragstellung bliebe frei, also muss niemand einen Pass beantragen.
 

Wehrdienst

 
Keine Wehrdienstpflicht bei Wohnsitz außerhalb Österreichs Diese Frage ist längst geklärt. Österreich verpflichtet nur jene Inhaber eines österreichischen Passes zum Wehrdienst, die ihren Wohnsitz in Österreich haben.
 

Sozialleistungen

 
Kein Anspruch bei Arbeit außerhalb Österreichs. Sozialleistungen erbringt nur jener Staat, indem der Passinhaber gearbeitet und Sozialbeiträge eingezahlt hat bzw. versichert ist. Nur wenn der Passinhaber seinen Wohnsitz in Österreich nimmt, kann er Anspruch auf Sozialfürsorge erheben, die aber keine aus der Lebensarbeit erwachsene Rente ist.
 

Die Kosten

 
Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Österreich kann die Kostenfrage auf zweifache Weise sehr günstig regeln: es kann im Staatsbürgerschaftsgesetz für Südtiroler vorsehen, dass sie – da es ja eine Wiederverleihung und keine Neuverleihung ist – einen Antrag auf „Anzeige“ der Staatsbürgerschaft stellen, wodurch die üblichen Passgebühren, ausgenommen die normalen Passgebühren, entfallen.
Die Passausstellung ist immer mit gewissen Kosten verbunden. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist nur die Voraussetzung dafür.
In Österreich ist der Pass übrigens Ländersache, im Falle Südtirols also naturgemäß das Bundesland Tirol. Die Kosten für den Pass sind also eine politische Entscheidung, ganz unabhängig von der Form der „Anzeige“
 

Die Wiederverleihung

 
Ein freiwillig angenommener Pass ist ein ideelles Bekenntnis (sofern nicht ein fremder Pass zwangsverliehen wird) und würde die alten historischen und kulturellen Bindungen intensiver fühlen lassen. Die Südtiroler haben die österreichische Staatsbürgerschaft 1919 ja nicht freiwillig aufgegeben. Es geht also um eine Wiederverleihung, im Unterschied zu den Türken in Österreich, die als Immigranten einen Pass begehren.
Die politisch so oft beschworene geistig-kulturelle Einheit der österreichischen Minderheit (Südtiroler) mit dem Vaterland Österreich würde leichter lebendig erhalten. Österreich ist - nach allgemeiner, dies- und jenseits des Brenners geltender politischer Diktion - das Vaterland der Südtiroler, wie sollte ihnen da das Vaterland den Pass verweigern?
 
 
Es gibt für Österreich keine Ursache, Rücksicht auf Italien zu nehmen, weil es hier gar keiner Rücksicht bedarf.
Es gibt für Österreich keine Ursache, Rücksicht auf Italien zu nehmen, weil es hier gar keiner Rücksicht bedarf. Erstens ist die Verleihung der Staatsbürgerschaft immer ein souveräner Akt des betreffenden Landes. Zweitens hat Italien mit seinem eigenen diesbezüglichen Gesetz das Gleiche unternommen, ohne auch nur einen der vielen Staaten zu fragen, deren italienisch-stämmigen Bürgern der italienische Staat die italienische Staatsbürgerschaft mit Wahlrecht verleiht.
Die betreffenden Staaten hätten – rein politisch – ja einwenden können, es könnte zu einer größeren Abwanderung von ausgebildeten Kräften kommen, weshalb Italien italienischstämmigen Bürgern die italienische Staatsbürgerschaft – mit automatischem Einwanderungsrecht in die EU! – nicht verleihen sollte. Dabei sind jene Italiener des 19. Jh. freiwillig ausgewandert, sie unterlagen keinem imperialistischen Zwang. Sie hätten auch, wenn sie es damals gewollt hätten, die italienische Staatsbürgerschaft behalten könnten, wenn sie sich darum gekümmert hätten. Die vielen Auswanderer hatten aber andere Sorgen und Interessen.
Italien kann aber durchaus ein Vorbild dafür sein, wie man sich um seine ehemaligen Staatsbürger auch durch die Pass-Verleihung kümmert. Zweifellos sind darin nicht nur parteipolitische Interessen sichtbar geworden, sondern wesentlich doch das Bewusstsein einer die Vergangenheit überbrückenden Zusammengehörigkeit.
Österreich hat dieses Bewusstsein durch seinen Einsatz für Südtirol, der im zerbombten Wien schon im April 1945  begann und bis heute andauert, ebenfalls höchst verdienstvoll bewiesen. Jetzt geht es aber um eine neue Überlegung, um einen neuen wirkungsvollen – natürlich nicht allein entscheidenden – Schritt im Sinne der bewährten Politik. Die Frage des österreichischen Passes für interessierte Südtiroler ist darum nicht gleichgültig. Es geht um eine weitere Möglichkeit, die auf lange Sicht die angelegte österreichische Grundsatz-Politik verstärkt.
Das Gleiche gilt für Südtirol: es muss langfristig denken, und aus diesem Grunde ist es richtig, wenn eine neue weitere Möglichkeit mit positiven Langzeitwirkungen in den Blick gefasst wird, die bewährte Bestrebungen in neuer Weise positiv ergänzt. Mit der Autonomie oder dem Pariser Vertrag kollidiert die Sache keineswegs. Es handelt sich um eine rechtlich völlig differente Angelegenheit. Die Zeit ist reif dafür.
 

Die Einwände

 
Jeder europäische Staat regelt seine Staatsangehörigkeit selbst, ohne Einmischungsrecht eines anderen Landes, obwohl er damit durchaus in gewissem Sinne auch EU-Interessen berühren kann. Wenn Italien vielen Auslandsitalienern und ihren Nachkommen (z. B. in Lateinamerika, den USA, Australien usw.) italienische Pässe gibt, ebenso z.B. Portugal an seine Portugiesischstämmigen in Brasilien (dort immerhin an sprachlich und kulturell Verwandte), in Argentinien, Venezuela oder aus ehemaligen portugiesischen Kolonien, so kann durchaus auch ein gewisses Maß an Rückwanderern erwartet werden. Ganz zu schweigen von der laufenden Einbürgerung von Immigranten. Im Falle Südtirols kommt es zu keiner Wohnsitzveränderung.
Diese würden dann natürlich auch jene österreichischen Parteien wählen, die das Anliegen für den österreichischen Pass unterstützen. In dieser Hinsicht würde für die unterstützenden Parteien auch ein parteipolitischer Nutzen bei Wahlen gegeben sein.
Von Italien kann sachlich gesehen keinerlei Einwand erhoben werden. Hingegen hat Italien sein eigenes historisch-moralisches und kulturell-politisches Selbstverständnis bei seinem Staatsbürgerschaftsrecht für Italienischstämmige eher selbstbewusst-beispielhaft wahrgenommen.
 
 

Gegen Entfremdung

 
Die doppelte Staatsbürgerschaft für interessierte Südtiroler ist also eines der nicht unerheblichen Mittel, die politisch-kulturelle Bindung an Österreich – als Ausdruck der individuellen und kollektiven kulturellen Identität der Südtiroler – zu stärken (Daran kann auch Österreich interessiert sein). Von diesem geistig-kulturellen Selbstverständnis hängt – unbeschadet der Rechtswirkung des Pariser Vertrages – auch die historisch-politische Legitimierung der Autonomie ab und langfristig die Existenz der Südtiroler als Deutscher und Ladiner überhaupt. Dies ist sehr wichtig, um der Langzeitgefahr der langsamen Entfremdung von Österreich entgegenzuwirken, worin sich ja der Identitätsverlust ausdrückt. Für die Politik der Sammelpartei stellt das ein langfristiges südtirolpolitisches Grundinteresse und Anliegen zum Wohle der Bevölkerung dar.
Ein österreichischer Pass für Südtiroler ist also ein ideeller Wert, ein die Identität verstärkendes Moment und darum ein grundsatzpolitisches Anliegen. Genauso ist es ein gesamtösterreichisches Anliegen, da die Abtrennung Südtirol 1919 ein imperialistisches Unrecht bleibt und durch die Autonomielösung nicht vollständig beseitigt wurde. Eine österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler ist auch umso mehr gerechtfertigt - historisch, politisch, moralisch, europäisch - als Südtirol an die österreichische Grenze anschließt, beiderseits die gleiche Sprache und Mentalität gegeben ist und die Abtrennung des Landes - mit dem Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft - gegen den Willen der Bevölkerung durch eine imperialistische Politik Italiens erfolgte. Jede Maßnahme, die die Folgen dieser Unrechtspolitik vermindert, ist politisch geboten.
 

Ein Wahlrecht?

 
Ein Wahlrecht der Südtiroler in Österreich steht nicht im Vordergrund und hängt von der österreichischen Gesetzgebung ab. Sollte eine symbolische Südtiroler Vertretung (z.B. ein Vertreter) vorgesehen werden, dann ist das allerdings von hohem symbolischen Wert, mit der für Südtirol günstigen ideell-politischen Nebenwirkung, dass die österreichischen Anliegen in Südtirol und diese in Österreich besser bekannt und politisch tiefer gefühlt werden. Das liegt im Interesse Österreichs wie Südtirols. Genauso gut wäre es aber, dass österreichische Kandidaten gewählt werden. Doch das ist Sache Österreichs.
Sollten Südtiroler Passinhaber auch an Tiroler Landtagswahlen bzw. Nationalratswahlen teilnehmen, dann würden österreichische Politiker es sich angelegen sein lassen, bei Wahlkämpfen (und auch zwischendurch öfters) nach Südtirol zu kommen und dort aufzutreten und österreichische Südtirol-Politik und ihre Parteipolitik zu erläutern.
Diese häufigere Präsenz von österreichischen Politikern würde eine wesentlich engere politisch-kulturelle und menschliche Verbindung herstellen, als wenn die Südtirolfrage nur als historisch-politische Grundverpflichtung aufgefasst wird, die nicht automatisch mit Stimmen für den Betreffenden oder seine Partei belohnt wird. Diese Grundverpflichtung hat die Republik Österreich allerdings stets wahrgenommen.
Die Südtiroler Stimmen würden sich in diesem Falle auf die österreichischen Parteien verteilen, weil sich auch unter den SVP-Wählern politisch sehr heterogen denkende Wähler befinden. Dabei würden natürlich jene Parteien am meisten profitieren, die sich des Anliegens annehmen. Südtiroler, die einen österreichischen Pass beantragen, würden vor allem patriotisch-österreichisch gesinnte Südtiroler sein. Diese würden dann natürlich auch jene österreichischen Parteien wählen, die das Anliegen für den österreichischen Pass unterstützen. In dieser Hinsicht würde für die unterstützenden Parteien auch ein parteipolitischer Nutzen bei Wahlen gegeben sein.
 

„Europäischer Pass“ – eine reine Fiktion

 
Der öfters erwähnte „europäische Pass“ existiert bislang nur in der Form einer Überschrift (Europäische Union) auf dem nationalen Pass und verleiht keine effektiven Rechte, außer notfalls konsularische Hilfe durch einen Mitgliedstaat. Die Passverleihung wird sich kein europäisches Land nehmen lassen, es ist ein Grundbestandteil der noch verbliebenen nationalstaatlichen Souveränität. Italien würde sich niemals sein Staatsbürgerschaftsrecht nehmen lassen, das gilt wohl für alle Staaten. Den „europäischen Pass“ kann man also nur als billige Fiktion ansehen, die sich seriöserweise nicht als politisches Ersatzversprechen für die österreichische Staatsbürgerschaft verwenden lässt.
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Sigmund Kripp Mer, 12/20/2017 - 19:52

Endlich eine sehr klare Darstellung der möglichen Ausgestaltung der sog. "Doppelstaatsbürgerschaft".
Ich erkläre, kein Freund von Franz Pahl und seiner Politik zu sein und bezeichne mich politisch weiterhin als ökosozial.
Einzig beim Punkt "Wehrdienst" möchte ich anmerken, dass natürlich jeder Südtiroler MANN (Totale Geschlechterungerechtigkeit!!!) , der die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt und in Österreich seinen Wohnsitz hat / haben sollte, auch zum Grundwehrdienst eingezogen werden wird.

Mer, 12/20/2017 - 19:52 Collegamento permanente
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Martin B. Mer, 12/20/2017 - 22:08

In risposta a di Sigmund Kripp

@Sigmund Kripp: ich denke bezüglich Wehrdienst gibt es ein komplexeres Bild, denn ich glaube nicht das "neue" österreichische Staatsbürger, welche auch in Österreich ansässig sind und welche älter als das übliche Musterungsalter sind, noch zum Wehrdienst eingezogen werden; wenn ja was ist die Altersgrenze?
Interessant auch die Frage bei (männlichen) Südtiroler Schülern und Studierenden, ob diese bei Ausbildung und Studium in Nordtirol / Österreich eventuell den Wehrdienst ableisten müssen?

Mer, 12/20/2017 - 22:08 Collegamento permanente
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Ludwig Thoma Mer, 12/20/2017 - 22:00

Zum Glück redet niemand darüber, dass ein großer Konzessionär der öffentlichen Liniendienste die weniger schmackhaften Linien an Subunternehmer vergibt, die dann wiederum Fahrer mit befristeten Verträgen angestellen, die manchmal nichtmal richtig italienisch, geschweige denn deutsch können.
Viel lieber diskutiert man über die scheinbare Wichtigkeit einer "politisch-kulturellen Bindung an Österreich" und "ideellen Werten", während eine der größten Errungenschaften der Autonomie, nämlich das Recht auf Muttersprache, mit Füßen getreten wird.

Mer, 12/20/2017 - 22:00 Collegamento permanente
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Martin B. Mer, 12/20/2017 - 22:16

Ja, sachlich formuliert und eine wirklich interessante Listung, besonders die Ausführungen zu Gesetz nr 5 febbraio 1992, n. 91, welche ich bisher nicht detailliert in dieser Diskussion gesehen habe, bzw. es wurde immer nur über das Gesetz Nr. 124 vom 8. März 2006 (Istrien etc.) diskutiert.
Übrigens hab ich heute mit einer Bozner Italienierin über das Thema gesprochen, welche nicht hier aufgewachsen ist, aber die öst. Staatsbürgerschaft als positiv sieht in dem Sinne als es eine Wiedergutmachung für diejenigen ist, die sie haben möchten. Würden nur mehr Italiener das Thema so reflektierend anstatt beleidigt, neidisch und hassend denken.
N.B.: auch ich bin kein Fan von Franz Pahl.

Mer, 12/20/2017 - 22:16 Collegamento permanente
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Guntram Bernulf Gio, 12/21/2017 - 16:51

Die erschreckenden Reaktionen der meisten italienischen Politiker und Medien, die offenbar die eigene Praxis der Vergabe doppelter Staatsbürgerschaften völlig ausblendet, zeigt einmal mehr, dass Südtirol in diesem Staat kein Vorbild ist, sondern eine unangenehme Tatsache, die man lieber heute als morgen aus der Welt schaffen möchte.
In diesem Zusammenhang ist das Thema wichtig, denn es zeigt, was viele Entscheidungsträger, Medienmacher und Bürger im Süden von Südtirol halten. Werden sie erst zufrieden sein, wenn südlich des Brenners alle nur noch italienisch sprechen und denken?
Traurig und erschreckend!
Gerade hier hilft der Doppelpass Grenzen zu überwinden.

Gio, 12/21/2017 - 16:51 Collegamento permanente