Società | Nachruf

“Ma ti ne gai dit"

Hans Karl Peterlini im Gedenken an seinen Freund Sandro Canestrini. Ein persönlicher Nachruf auf ein Jahrhundertleben.
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Foto: Othmar Seehauser
Caro Sandro, sono tentato di scriverti in Italiano, forse perché era la lingua – che triste dover usare il passato – nella quale abbiamo parlato, discusso, arrabbiandoci per certi fenomeni, divertendoci per altri. Ma so che ti arrabbieresti anche con me: parla la tua lingua, diresti, scrivi a modo tuo, non adattarti troppo a quanto ti chiedono gli altri.
Über Sandro Canestrini einen Nachruf schreiben zu dürfen und zu müssen, ist eine schmerzhaft schöne Pflicht. Schön deshalb, weil es ein Privileg war, ihn gekannt zu haben, seinen unerschöpflichen Erzählungen gelauscht zu haben, die immer eine Lektion darstellten über die italienische Geschichte und Gegenwart, über Zivilgesellschaft, Widerstand und Werte, die keine Fahne haben, keine konfessionelle Erhöhung, die einfach Werte sind, weil sich daran Menschlichkeit zeigt versus Barbarei und Entmenschlichung. Schmerzhaft, weil das letzte Wiedersehen nicht mehr möglich war, weil kein weiteres Wiedersehen möglich ist, weil mir seine Umarmung fehlen wird, mit der er nicht nur mich, mit der er alle, die ihm wichtig waren, beschenkt hat, die er aufgefangen hat, wenn es mal grad nicht so gut lief, die er aufgerichtet hast, wenn sie beim Einknicken waren: „Vieni, caro“, war seine Art, Beistand anzubieten.
„Vieni, caro“, war seine Art, Beistand anzubieten.
Ein Jahrhundertleben ist zu Ende gegangen. 1922 geboren, Mitglied des italienischen Widerstandes gegen den Faschismus, Dissertation beim berühmten Rechtsphilosophen Norberto Bobbio, dann selbst einer der großen Anwälte Italiens, trotz seiner kommunistischen Herkunft und seines unerschütterlichen Bekenntnisses zur politischen Linken hochgeachtet auch in bürgerlichen, liberalen, konservativen Kreisen, im Alter – wie es so oft geschieht – auch daheim entsprechend gewürdigt: 1992 als Trentino dell'anno geehrt, 1993 mit dem Ehrenkranz des Südtiroler Schützenbundes gekrönt, 2006 mit dem Verdienstkreuz des Landes Tirol gewürdigt, 2012 mit dem Ehrenring der Gemeinde Neumarkt endgültig aufgenommen in jene Dorfgemeinschaft, die schon lange vorher seine zweite Heimat geworden war.
Es gäbe viele Möglichkeiten von Sandro Canestrini zu berichten, was jetzt, da wir Abschied von ihm nehmen müssen, in die Erinnerung drängt. Er war, was vielleicht am wenigsten bewusst ist in seiner Biographie und in dieser doch vom Anfang bis zum Ende durchschimmert, zuallererst ein Sohn: Sein Vater war ihm wichtig, war ihm Vorbild, Herausforderung, Ansporn auch zum Widerspruch und zum Widerstand.
 
Mit Sandro Canestrini durch Rovereto zu gehen, der Stadt seiner Herkunft, seiner Kindheit und seiner Jugend, in die es ihn später immer wieder auch zurückzog, war ein Erlebnis, das kulturhistorische Stadtführung, Lebensweltgenuss mit einfachem guten Essen in kleinen Lokalen, politische Geschichtslektion und Familienchronik vereinte. 
Er war, was vielleicht am wenigsten bewusst ist in seiner Biographie und in dieser doch vom Anfang bis zum Ende durchschimmert, zuallererst ein Sohn. 
Die Canestrinis sind eine Welschtiroler Familie mit weit zurückreichender intellektueller Tradition, in der Zerreißprobe des Ersten Weltkriegs zwischen dem jungen Italien und dem alten Österreich hofften sie auf eine liberale neue Republik. Als auf den Scherben der k.u.k. Monarchie der Nationalsozialismus aufkam und in Italien der Faschismus wütete, griff sich der Vater von Sandro Canestrini an den Kopf: „Che monada che gavemm fat“ – was für eine Dummheit haben wir gemacht. „Zerstört Österreich, aber um Himmelswillen nicht seine Ordnung“, war ein anderer Satz, den Vater Canestrini oft zitierte. Kopfschüttelnd zeigte Sandro bei unseren Stadtspaziergängen auf eine Tafel in Rovereto, auf der Österreich heute noch verunglimpft wird. Feindschaften zu überwinden, historische Urteile immer neu zu schreiben, Hetze zu durchschauen war Teil jener Familienkultur, in der er aufwuchs und die er weitergab.
Der Sohn aus einer Anwaltsfamilie wurde Anwalt, das wäre noch keine Leistung. Das Besondere besteht darin, dass Sandro Canestrini sein Privileg nutzte, um es ein Stück weit für jene einzusetzen, die nicht zu den Privilegierten gehörten. Auch ihnen, soweit es geht, zu ihrem Recht zu verhelfen, war das, was Sandro Canestrini seinem Beruf als Berufung hinzufügte. Seine Mandanten waren Sinti und Roma, Triestiner Slowenen, die für den Kampf um ihre Sprache gerichtlich verfolgt und eingesperrt wurden, waren die Pioniere der Wehrdienstverweigerung, als diese noch ein schweres Verbrechen gegen den Staat war. Canestrini liebte den „foro“, die Arena des Gerichts, sie war seine Bühne, auf der er nicht nur für diesen einen Mandanten, für diese eine Mandantin die feine Klinge des scharfen Wortes führte, sondern immer auch für das Anliegen, das dahinterstand, für eine bedingungslose Idee von der Freiheit und Würde des Menschen. Voltaires berühmter, wenn auch kaum belegbarer Spruch, dass er selbst seine Gegner bis aufs Blut verteidigen würde, damit sie ihre Meinung frei äußern könnten, war Sandro Canestrinis Maxime. Er zitierte diesen Satz auch, als er – 1997 – vor dem damaligen Sitz des Wochenmagazins „ff“ in der Bozner Raingasse gegen meine Entlassung als Chefredakteur protestierte; er zitierte ihn, wenn er – der italienische Kommunist – Eva Klotz und die Südtiroler Selbstbestimmungsbewegung verteidigte oder die Schützen, selbst wenn er darunter litt, wie der Kampf um die Rechte der Tiroler mitunter in fehlende Feinfühligkeit für die Rechte Anderer oder Schwächerer mündete. 
Seine Mandanten waren Sinti und Roma, Triestiner Slowenen, die für den Kampf um ihre Sprache gerichtlich verfolgt und eingesperrt wurden, waren die Pioniere der Wehrdienstverweigerung, als diese noch ein schweres Verbrechen gegen den Staat war.
Sandro Canestrini war sodann noch, in gar nicht so logischer Weiterführung seiner eigenen Erfahrungen als Sohn, ein beinahe archetypischer Vater, Patron einer Großfamilie mit Kindern aus zwei Ehen, allen zugewandt und herzlich. Mit seiner ersten Frau, der Trentiner Schriftstellerin Nives Fedrigotti (2017 verstorben) hatte er zwei Söhne und eine Tochter (Duccio, Fausto und Gloria), mit der Südtirolerin Martha De Biasi noch einmal zwei Söhne (Alessandro und Nicola, der die väterliche Kanzlei mit dem gleichen Impetus weiterführt wie der Vater).
 
Die Tochter, ebenfalls Anwältin, verehrte er, der sommerliche Männerurlaub an einem Nacktbadestrand mit allen vier Söhnen war ihm lange Pflicht und Freude. Väterlich nahm er Eleven der Jurisprudenz in seinen Schutz, kümmerte sich um Mandanten, pflegte Freundschaften – das ihm wichtigste wohl. Sandro Canestrini war ein Freund. Das hielt ihn nicht davon ab, streng zu sein, Freunden harte Wahrheiten ins Gesicht zu sagen, mit einigen wenigen auch zu brechen, wenn seine höchsten Werte, die Würde und Freiheit des Menschen, aus seiner Sicht verraten wurden. Er konnte zornig werden, forderte Konsequenz, duldete Nachlässigkeiten in den wichtigen Zielen nicht. Auch unter Freunden nannte man ihn halb scherzhaft, halb ehrfürchtig den Commandante, aber sein Herz war groß, und seine Arme waren weit. 
Das Haus in Neumarkt, Lebensmittelpunkt mit Ehefrau Martha De Biasi, war alljährlich am 1. Mai Treffpunkt einer bunten, auseinanderdriftenden Gemeinschaft, in der die Gäste oft nur den Umstand gemeinsam hatten, dass Sandro sie ins Herz geschlossen hatte. Hühner, Katzen, der Garten seiner Frau, Nachbarn, Kinder – und mitten unter ihnen er, zufrieden lächelnd. Das Konzept der Konvivalität als Idee von sozialer Gemeinschaft, von Frieden mit Mitmensch und Natur, das Alexander Langer von Ivan Illich übernommen und weiterentwickelt hatte, war hier wie in einer duftenden Oase verwirklicht, eine kleine, aber verlässliche Gegenwelt zur Verkommerzialisierung alles Menschlichen, zur Verrohung des Zusammenlebens. Noch als Greis stand er, Begründer und Ehrenmitglied der italienischen Friedensbewegung, mit Schildern auf der Straße und forderte „non violenza“.
Sandro Canestrini war ein Freund. Das hielt ihn nicht davon ab, streng zu sein, Freunden harte Wahrheiten ins Gesicht zu sagen, mit einigen wenigen auch zu brechen, wenn seine höchsten Werte, die Würde und Freiheit des Menschen, aus seiner Sicht verraten wurden.
Martha De Biasi und Sandro Canestrini, die ich in einem Doppelporträt für die „ff“ – damals sie 60 und er 80 –  in Anlehnung an Franziskus und Clara als „Bruder Sandro, Schwester Martha“ porträtieren durfte, haben als Paar Geschichte geschrieben. Sie mehr dem Sinnlichen zugewandt, ein grüner Daumen in Fernsehen, Radio, Zeitung und Buch, er ein Matador der politischen Arena, beide leidenschaftlich politisch, zugleich kunstsinnig, weltoffen, bereit, einen Preis dafür zu zahlen. Als junge Volksschullehrerin in Neumarkt musste sich Martha De Biasi rechtfertigen, weil sie Kindern, die neugierig danach fragten, warum ihr Bauch größer werde, die offene Antwort gab, dass da ihr Baby heranwachse. 
In einer Zeit, in der Sexualität und persönliche Beziehungsgestaltung noch extrem tabuisiert waren, keine leichte Situation für eine Lehrerin, die mit einem geschiedenen Mann zusammenlebte – Martha De Biasi meisterte die Angriffe mutig und selbstbewusst. Wiewohl ihr Mann zeitlebens auch für die Rechte der Frauen kämpfte, juridisch und politisch, so war er unzweifelhaft ein Patriarch. Dass Martha De Biasi neben ihm nicht einging, sondern sich persönliche Wirksamkeit und Strahlkraft bewahrte, spricht für sie und für die Beziehung eines besonderen Paares.
Martha De Biasi und Sandro Canestrini hatten sich anlässlich der Südtiroler Sprengstoffprozesse in den frühen 1960er Jahren kennengelernt. In dieser Zeit ging der Stern des Anwalts Sandro Canestrini auf, als „principe del Foro“ wird er in den Nachrufen apostrophiert. Der „Avvocato Canestrini“ stand praktisch bei allen großen Prozessen Italiens, die den gesellschaftlichen Wandel begleiteten und teils überhaupt erst ermöglichten, im Ring der Verteidigung oder der zivilgesellschaftlichen Anklage: In Mafia-Prozessen in Palermo, in den Verfahren um die Blutbäder der „anni di piombo“ in Italien, den großen Terrorprozessen, in Prozessen um die Missbräuche der Geheimdienste bis hin zum Nato-Krimi wegen des mysteriösen Flugzeugabsturzes über Ustica, in Prozessen gegen Fabriken, deren Schadstoffe für die damals berüchtigten „blauen Flecken“ auf der Haut von Anrainern und für die Erkrankung von Arbeitern verantwortlich gemacht wurden, für die Aufklärung der Naziverbrechen in Südtirol und darüber hinaus.
Mochte auch manches, was etwa im patriotischen Lager Südtirols geschah, ganz und gar nicht seinen Vorstellungen von einer gerechten, solidarischen, verständigungsorientierten Gesellschaft entsprechen, so warf er sich doch ohne zu zögern die Toga über, um für die Rechte der Andersdenkenden einzutreten.
Ein großer erster Triumph war das Verfahren nach der Stauseekatastrophe von Vajont, 1963 mit geschätzten 2000 Toten in Longarone, dem kleinen Ort in Belluno, wo es um die Frage der Wiedergutmachung an den Geschädigten ging. Später verteidigte er auch die Zivilparteien im Prozess um die Schlammkatastrophen 1985 im Fleimstaler Ort Stava (geschätzte 300 Tote). Seine Plädoyers und Anklagereden sind mehrfach in Buchform erschienen.
 
Beinahe ein politischer Stolperstein wurden ausgerechnet die Südtiroler Sprengstoff-Verfahren der 1960er Jahre. Canestrini wurde es in seiner Partei, dem Partito Comunista Italiano PCI, übel ausgelegt, dass er sich der damals in Italien als Nazitäter verschrienen Südtirol-Attentäter annahm. In die politische und mediale Polemik wurde ausgerechnet auch seine junge neue „Compagna“ Martha De Biasi hineingezogen, die als Tiroler Agentin, als Mata Hari verdächtigt wurde, Sandro Canestrini tirolerisch umgepolt zu haben.
Martha De Biasi stammt aus einer Familie mit der in Tirol recht raren sozialdemokratischen Tradition, in der es – entgegen den meist üblen Verleumdungen durch konservative Meinungsmache – durchaus ein waches Bewusstsein für Heimat und Minderheitenrechte gab. Canestrini zog damals die Konsequenzen, er ließ die KPI hinter sich und schloss sich der Bewegung „Neue Linke – Nuova Sinistra“ an, mit der Alexander Langer in den 1970er Jahren die verkrustete und auch parteipolitisch bürokratisierte Linke italienweit aufbrach. Anwalt Canestrini war über lange Strecken seiner Karriere auch Gemeinderats- und Regionalratsabgeordneter. 
Für enge Einordnungen dachte Sandro Canestrini zum einen zu groß und zu weit, zum anderen aber auch zu sehr aufs Kleine bedacht, in dem Sinne, dass er nicht bereit war, für ein großes Konzept – sprich Ideologie – kleine Taten der Menschlichkeit zu unterlassen. Mochte auch manches, was etwa im patriotischen Lager Südtirols geschah, ganz und gar nicht seinen Vorstellungen von einer gerechten, solidarischen, verständigungsorientierten Gesellschaft entsprechen, so warf er sich doch ohne zu zögern die Toga über, um für die Rechte der Andersdenkenden einzutreten. Dafür angefeindet zu werden, scheute er nicht. Eine Trentiner Anekdote liebte er besonders. Sie handelt von einem, der für seine Sache eintritt, sich aufregt und empört und dafür grün und blau geschlagen wird. Er rappelt sich auf, schleppt sich heim und sagt seiner Frau mit ungebrochenem Stolz: „Me ne ga dat, ma mi… mi ne go dit“ – sie haben es mir gegeben, aber ich, ich habe es ihnen hineingesagt.
Hätte er noch gekonnt, wäre er ohne Zweifel wieder auf die Straße gegangen und in die Arena des Gerichtssaals.
Unerschütterlich war er in seiner Haltung gegenüber jeder Form von Faschismus, ob post oder neo, getarnt oder offen. Für den Faschismus galt in viel höherem Maße eine tiefe Skepsis, die er gelegentlich und in milderer Form auch gegenüber der Kirche hegte. Er anerkannte deren caritativen Einsatz, schätzte die Bemühungen um sozialen und ethnischen Ausgleich, war der christlichen Friedensbewegung und der südamerikanischen Befreiungstheologie durchaus freundlich gesinnt, bewahrte sich aber dennoch ein augenzwinkerndes Misstrauen. Sinngemäß: Jetzt, da die Kirche schwach geworden ist, bemüht sie sich um Ausgleich und erhält unseren Respekt dafür, aber als sie mächtig war, hat sie die Menschen niedergedrückt. Seine jüngeren Söhne schickte er dennoch ins Franziskanergymnasium in Bozen, seine Skepsis galt der unheilvollen Vermischung von Religion und weltlicher Macht, nicht jenen, die an etwas glauben, was ihm vielleicht fremd geblieben ist. Gegenüber dem Faschismus gab es kein solches Augenzwinkern, ihm graute nicht nur vor der faschistischen Vergangenheit, sondern auch vor einer ständigen Gefahr des Rückfalls, die er weniger als die meisten unterschätzte: „Ihr würdet uns morgen wieder nachts aus den Betten holen und abführen, wenn ihr könntet“, fuhr er bei einer Tagung in Bozen aufbrausend einen eleganten Repräsentanten der politischen Rechten an. Die Erfahrungen, die er als junger Partisan gegen den Faschismus gemacht hatte, brannten noch bis ins hohe Alter im Gedächtnis. Die Verrohung der politischen Sprache und Gesten der jüngsten Zeit, das rassistische und verhetzende Aufmarschieren einer neuen brachialen Rechten müssen Sandro Canestrini in seinen letzten, zurückgezogen lebenden Jahren das Herz schwergemacht haben. Hätte er noch gekonnt, wäre er ohne Zweifel wieder auf die Straße gegangen und in die Arena des Gerichtssaals. 
Ciao Sandro, Deiner Martha, deinen Kindern mein Beileid, dir meinen letzten Gruß und Dank. Te ne ga dat, ma ti … ti ne gai dit.