Politica | EU zurechtgerückt

Wie gut, dass es die EU gibt!

Keine Ahnung von der EU, also: Brexit! Wir haben die Engländer ausgelacht. Von Warschau bis Rom jedoch betrachten viele die EU als Moloch, der bekämpft werden muss.
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Europa Bruxelles
Foto: Iulm

Die Europagegner haben im Europawahlkampf den Slogan durchgesetzt: Links wie rechts wird unisono gefordert, Europa zu reformieren. Das ist sicher angebracht. Ein Kernproblem: Die Entscheidungsprozesse sollten eine den Gepflogenheiten des Parlamentarismus entsprechende demokratische Legitimation aufweisen. Und es ist eine Phase der Diskussion zu eröffnen, zu welchen Politikfeldern künftig welche Mechanismen der Kompetenzwahrnehmung und der Koordination verwendet werden sollen. Hier sind neue Wege durchaus denkbar. Nach der EU-Parlamentswahl müssen sich die politischen Fraktionen und die EU-Gremien die Zeit nehmen, Lösungen zu den Szenarien des Weißbuches zur Zukunft der EU auszuloten. Die EU muss künftig imstande sein, die Entfernung zwischen den BürgerInnen und den europäischen Institutionen zu überbrücken und die Beratungsprozesse nachvollziehbar machen, die hinter den Entscheidungen der EU-Kommission stehen. Vor den Wahlen jedoch sollte verdeutlicht werden, welche Bedeutung die EU als politisches Gemeinschaftsprojekt, als Wirtschaftsraum und Wertegemeinschaft hat.

Soziale Dimension in den EU-Verträgen und –Richtlinien verankert

Es ist unerlässlich, den Menschen zu erklären, dass die EU als Koordinationsplattform erfolgreich dafür gesorgt hat, dass die Konzepte für die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, die Bildungs- und die Umweltpolitik, für die Bürgerbeteiligung, Umwelt- und Verbraucherschutz modernisiert wurden. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stand stets der Prozess des gemeinsamen Wirtschaftsraumes im Vordergrund. Doch die soziale Dimension der EU ist in den EU-Verträgen verankert und durch Richtlinien in Bezug auf Schutzgarantien (z. B. zu Arbeitszeit, Urlaub, Leiharbeit, Gleichstellung von Frauen und Männern, Mutterschutz) sukzessive bestätigt und ausgebaut worden. Koordinierte Politikprogramme für Beschäftigung, Gleichberechtigung und berufliche Bildung und umfassende Förderungen wie der ESF stützen diesen Ansatz. Durch die Festlegung von Mindeststandards hat die EU wesentlich dazu beigetragen, den Schutz der ArbeitnehmerInnen zu verbessern. Dabei ist konsequent das Ziel verfolgt worden, sich an den Vorreitern in einzelnen Politikbereichen zu orientieren und seit dem Jahr 2000 durch das Konzept der „offenen Koordinierung“ einen Qualitätssprung für die Regelungen in allen Mitgliedsländern zu erreichen.

EU als Motor der Entwicklung guter Politikrezepte

Ganz allgemein liegt in der Verknüpfung der Koordinierung der Politiken der einzelnen Länder mit der Erarbeitung hochwertiger Politikrezepte für die verschiedenen Bereiche eine herausragende Leistung der EU. Die EU war und ist ein Motor für die Entwicklung in den einzelnen Ländern. Ihre Funktion ist vor allem für jene Länder wertvoll, wo Partikularinteressen die Politik und die Gemeinschaftsorientierung korrumpieren und einen Stillstand bewirken, indem herausfordernde Problematiken auf die lange Bank geschoben oder ignoriert werden. Der Moloch ist nicht die EU, sondern die inkompetente Führungskaste, die in einzelnen Ländern am Werk ist. Eine akkurate Personalauslese gewährleistet in Brüssel, dass sehr qualifizierte Leute angestellt werden. Der Beamtenapparat der EU ist mit ca. 50.000 Personen vergleichsweise ausgesprochen schlank bemessen. Die Stadt Wien weist ca. 65.000 Bedienstete auf und in Rom sind es ca. 48.000.

Friedensprojekt durch wirtschaftliche Kooperation gesichert

Als Friedensprojekt nach zwei Weltkriegen hat die EU die Hoffnungen voll erfüllt. Der Neuaufbau der Wirtschaft hat breiten Wohlstand ermöglicht. Die Mitsprache der Gewerkschaften ist zu einem Grundsatz erhoben worden, den die EU auf allen Ebenen propagiert. Menschenrechte und demokratische Grundordnung sind im Staatsmodell der Mitgliedsstaaten verankert. Durch dauerhafte konsistente Förderungsprogramme wird der Aufschwung benachteiligter Regionen unterstützt. Mit der Osterweiterung sind vor allem den neuen Mitgliedsstaaten diese Finanzflüsse zugutegekommen. Bei der Bewältigung der Finanzkrise hat die EU den Mitgliedsstaaten unter die Arme gegriffen.

Der EU-Binnenmarkt ermöglicht einen umfassenden Warenaustausch und die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen. Er stellt den weltweit größten zusammenhängenden Wirtschaftsraum dar. Wirtschaftlich wie politisch liegen die Zukunftschancen Europas darin, gemeinsame Entwicklungsziele zu vereinbaren und umzusetzen. Die großen Herausforderungen im internationalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte und in der Bewältigung der Herausforderungen des Klimawandels, der Migrationsströme und der Berücksichtigung dringender ökologischer und sozialer Erfordernisse bei der Weiterentwicklung der Wirtschaftssysteme können die europäischen Staaten nur mit gemeinsamen Handlungsansätzen bewältigen.

Tektonische Verschiebungen im globalen Machtgefüge

Vor lauter althergebrachten Europazentrismus, Patriotismus und Souveränitätsehrgeiz wird zu wenig beachtet, dass sich global die Wirtschafts- und die politischen Machtkonstellationen verschieben. Im Wettbewerb zwischen demokratischen und oligarchischen Weltmächten kann sich Europa nur als solide Gemeinschaft behaupten, zumal es von der Bevölkerungsentwicklung stagniert und von der Wirtschaftsleistung von Konkurrenten wie China und Indien überholt wird. Die Pflege der Beziehungen zum Partner USA und zu einer Nation mit einer kulturellen Werteverwandtschaft wie Russland wird zu einer zentralen strategischen Frage. Nationale Alleingänge können in dieser Konstellation zwar kurzfristige Prestigeerfolge bringen, aber auf Dauer zu nachhaltigen Souveränitätsverlusten führen.

EU als Eckpfeiler bei der Gestaltung des Übergangs ins digitale Zeitalter

Auf der Tagung des Europäischen Zentrums für Arbeitnehmerfragen EZA in Nals hat kürzlich Prof. Jozef Pacolet von der Universität Leuven in Belgien die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft nachgezeichnet und Parallelen zwischen der heutigen Situation des Übergangs der Arbeitswelt in das digitale Zeitalter und der Gründung der Montanunion im Jahre 1951 aufgezeigt. Damals musste der Neuaufbau der darniederliegenden Industrie bewältigt werden, welcher den Zustrom von zahlreichen Arbeitskräften in die neuen Industriezentren z. B. in Deutschland und Belgien bewirkte. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl diente zur Koordinierung der Industriepolitik, aber sorgte auch dafür, dass den ArbeitnehmerInnen Garantien für eine angemessene Lohn- und Arbeitsbedingungen geboten wurden.

So wie heute die Diskussion um die Daseinsberechtigung und die Ausgestaltung der EU sehr heftig geführt wird, waren damals im Vorfeld der Gründung der EGKS nationale Vorbehalte und Souveränitätsverluste als Risiken ins Feld geführt worden und selbst die Unterzeichnung war von nationalen Sekundarzielen beeinflusst. Letztendlich wurde es eine Erfolgsgeschichte. Heute geht es wieder um die Bewältigung eines großen wirtschaftlichen Umbruchs. Dieser war bisher mit einer Deregulierung des Arbeitsmarktes, der dem Verlust bzw. der Kürzung sozialer Rechte und der Einschränkung der Mitsprache der Gewerkschaften verbunden.

Europäische Säule für soziale Rechte muss konkretisiert werden

Mit der Europäischen Säule für soziale Rechte (ESSR) hat das Europäische Parlament 2017 zusammen mit dem Rat und der Europäischen Kommission ein Grundsatzpapier vorgelegt, das die wesentlichen Themenstellungen für die Anpassung der Arbeitsmarktpolitik und die Definition der sozialen Schutzbestimmungen in der digitalen Arbeitswelt benennt. Dass sich die Unternehmen die neuen technischen Entwicklungen zunutze machen, ist ein Prozess des Wandels, der nicht aufzuhalten ist. Die Gewerkschaften und Sozialverbände müssen sich der Herausforderung stellen, neue Regeln zu erkämpfen, die dafür sorgen, dass die Interessen der ArbeitnehmerInnen in gebotenem Maße zum Tragen kommen. Die ESSR bietet eine Grundlage hierfür.

Auch hier gilt: Die Reformen beginnen nicht bei Null. Die bisherigen Standards sind eine wichtige Richtschnur für die Zukunft. Es ist also zielführend, die Kooperation der Gewerkschaften auf europäischer Ebene zu stärken, um neue Sozialstandards auf ebendieser Ebene zu vereinbaren. Die Regelungen können im Detail an die Rahmenbedingungen auf nationaler oder regionaler Ebene angepasst werden. Anstatt dem reflexartigen Schimpfen über die Entscheidungen auf europäischer Ebene sollten die VertreterInnen von Politik und Verbänden auf die Kompetenzlage Bezug nehmen und zeigen, dass sie die Freiräume nationaler Anpassungen der Entscheidungen kennen und zu nutzen wissen. Damit vermitteln sie politische Managementkompetenz. Die Kultur hierfür kann erst dann erfolgreich entwickelt werden, wenn die Mechanismen der Aufgabenteilung und der Zusammenarbeit zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene neue konkrete Konturen erhalten.

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Karl Trojer Lun, 05/20/2019 - 10:49

Karl Gudauners Analyse und Darstellung der derzeitigen Europäischen Union finde ich sehr treffend. Dankeschön ! Der typisch menschlichen Beschränktheit ist es eigen, unvollkommen zu sein. So stellt die EU eindeutig ein weltweit einmaliges Friedensprojekt dar, selbst wenn die von Georg Lechner aufgezeigten Minderungen vorliegen. Das kürzlich veröffentlichte Strache-Video und das Brexit-Chaos mögen dazu beitragen, dass bei vielen Mitbürgern, insbesondere bei der jungen Generation, die Lust auf Teilnahme an der EU-Wahl vom 29.Mai mit einem zukunftsfähigen Ergebnis stark zunimmt.

Lun, 05/20/2019 - 10:49 Collegamento permanente