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„Olls tranquillo“

Die Geschwister Chen sind Vorreiter einer zweiten Generation von Einwanderer*innen, die ihren eigenen Weg zwischen Tradition und Selbstbestimmung gehen.
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Foto: Georg Hofer
 
In der Woche, in der Hao Chen, alias Alessandro, das Licht der Welt erblickt, ist sein Gesicht in jeder Tageszeitung in Südtirol zu finden. Er ist das erste Kind chinesischer Eltern, das 1995 im Brixner Krankenhaus geboren wird. Ein Jahr darauf folgt ihm seine Schwester Nuo Chen. Auch ihr geben die Eltern einen zweiten italienischen Namen, aus praktischen Gründen und aus Respekt vor dem Land, in dem sie sich niedergelassen haben: Cristina. Im elterlichen Restaurant, in dem die beiden aufwachsen, treffen Südtiroler und Chinesische Mentalität aufeinander. „Fu Xing Fortuna“ steht über dem Eingang in roten, fetten Schriftzeichen: Glück auf Chinesisch und Glück auf Italienisch. Doppeltes Glück. Zweigeteiltes Glück. Ganz so, wie es gerade jedem passt.
 

Schicksalsschlag und Chance zugleich

 
Als erste Südtirol-Chines*innen besuchen die Geschwister Chen Anfang 2000 die Mittelschule des Vinzentinums in Brixen. Während Alessandro die technische Ausrichtung des Realgymnasiums Fallmerayer besucht, absolviert Christina die Berufsschule Kaiserhof in Meran. Selbst den katholischen Religionsunterricht besuchen sie, obwohl sie, wenn auch nicht praktizierend, Buddhist*innen sind. Als ihr Vater 2016 einen Schlaganfall erleidet, müssen die damals 19- und 20-Jährigen ins kalte Wasser springen. Fast über Nacht übernehmen sie die Führung des Restaurants in Milland mit seinen zehn Mitarbeiter*innen. Dreieinhalb Jahre später läuft alles wie geschmiert. Vor allem dank der „Mutti“, die im Hintergrund noch immer die Fäden zieht.
 
 
„Ursprünglich wollte ich Architekt werden, doch dann hatte ich keine Lust mehr zu studieren und habe in Vicenza das Sushi-Machen gelernt“, erzählt Alessandro. Das habe ihm beim unerwarteten Arbeitseintritt sehr geholfen. Seitdem kümmert er sich neben den Bestellungen und der Buchhaltung auch oft um die Sushi-Theke im Restaurant. In Vicenza hat man ihm dafür das Geheimrezept für den Sushi-Reis beigebracht, das jeder Sushi-Meister nochmals mit Zucker, Salz und Reisessig persönlich verfeinert. Für Cristina, die schon von klein auf gerne im Betrieb mithalf, bedeutete der Arbeitseintritt weniger Umstellung. Sie kümmerte sich schon zuvor um den Service im Restaurant. Heute stellt sie sich ab und zu daheim in die Küche und kocht zum Ausgleich ein paar Knödel und Schlutzkrapfen – so wie sie es beim Kaiserhof gelernt hat.
„Mir schmecken beide Küchen, die Südtiroler genauso wie die Asiatische. Aber auch die typische chinesische Küche ist ganz anders als im Restaurant. Viel würziger, mit viel Soja und süß-saurer Sauce!“, erzählt sie. Mit Sushi hat das wenig zu tun, denn diese Spezialität kommt ursprünglich aus Japan. Auch die Glückskekse, die die junge Gastwirtin jedem Gast zum Abschied schenkt, sind eine New Yorker Erfindung– was die junge Wirtin pragmatisch nimmt: „Ich finde es nett, wenn ich den Leuten mit den Keksen eine Freude machen kann. Ob sie dann glauben, was drin steht, ist ihnen überlassen!“ Chinesischer Pragmatismus, egal ob es um Religion geht, um Sternzeichen oder ums Essen: Die Basis sei ja immer dieselbe.
 

Reset? Alle 24 Stunden!

 
Dabei ist Ausdauer gefragt. 356 Tage im Jahr betreiben die Geschwister gemeinsam mit ihrer Mutter den Gastbetrieb. Gesprochen wird Südtirolerisch, Italienisch und Mandarin. Feiertage gibt es nicht, einmal die Woche hat jede*r frei. Dann besucht Alessandro seine Freundin, die in Venedig studiert oder spielt mit seinen Kollegen das Videospiel „LOL“. Cristina trifft ihre Freundinnen in Brixen oder Kastelruth. Und wenn im Familienbetrieb mal die Köpfe rauchen, dann gilt die Regel: Reset nach 24 Stunden- am nächsten Tag ist der Streit vom Vortag vergessen. Wenn dann doch das eine oder andere Gespräch auf Mandarin für Südtiroler Ohren nach Zank klingt, haben die Geschwister eine simple Erklärung: „Im Chinesischen redet man grundsätzlich lauter.“ Die Familien-Kultur sei eher wie die der Süditaliener*innen: laut und gesellig. Einen hohen Stellenwert nimmt dabei nicht umsonst das gemeinsame Familienessen bei Feierlichkeiten ein.
 
 
Dem starken Zusammenhalt der Familie und der chinesischen Diaspora verdanken auch Alessandros und Cristinas Eltern ihr Glück in Brixen. Beide stammen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Qingtian, südlich von Shanghai und kamen im Zuge der chinesischen Auswanderungswelle nach Ende der Mao-Ära in den 80er-Jahren nach Europa. Als Margherita Ye Jing 18 Jahre alt war, zog sie zu ihrer Tante nach Holland. Als sie über Bekannte Filippo Chen Xiang Bin in Bozen kennenlernte, heiratete sie ihn und zog mit ihm nach Brixen. Innerhalb kurzer Zeit gelang es ihnen durch „Guan Xi“, die Hilfe von Freunden und Verwandten, das Restaurant in Milland aufzubauen. Seitdem hat sich in ihrem chinesischen Heimatort viel verändert. „Als unsere Eltern von China weggezogen sind, konnte man mit der Lire zehn Mal so viel kaufen wie mit dem Renminbi, der chinesischen Währung“, so Alessandro. Der 24-Jährige ist stolz darauf, dass sich die Lage in China inzwischen verbessert hat und die Chinesen durch den Wirtschaftsaufschwung wieder international einen besseren Ruf genießen – und auf die 4.000 Jahre alte chinesische Kultur. Davon zeugen auch die riesigen chinesischen Schnitzereien im Restaurant, die sein Vater extra von Handwerkern in Italien hat anfertigen lassen. Sie zeigen den Drachen, der in der chinesischen Mythologie als Urahn der Menschen gilt und der seit Jahrtausenden das Symbol des chinesischen Kaisers und Staates ist.
 

Zwischen Qingtian und Brixen 

 
Noch wohnen beide Geschwister Zuhause bei den Eltern, ein Stockwerk über dem Restaurant in Brixen. Auch sie haben die Familientradition vermittelt bekommen, die in China tief verwurzelt ist und verbinden sie mit der Mentalität in Südtirol. „Wenn Jugendliche in China volljährig werden, dann ziehen sie nicht weg, so wie es in Südtirol Brauch ist, sondern kümmern sich um ihre Eltern und Großeltern“, erklären sie. Zwar können sich die jungen Wirt*innen durchaus vorstellen, für die Liebe einmal aus dem elterlichen Haus auszuziehen. Weit weg von Milland wollen sie aber trotzdem nicht. „Wir sind hier aufgewachsen, kennen die Kultur und auch unsere Freund*innen und die meisten unserer Verwandten leben hier. In China sind wir nur Touristen“, so Cristina. Auch weil die Geschwister weder auf chinesisch schreiben noch lesen gelernt haben. Das Schicksal der zweiten Einwanderergeneration? Vielleicht. Die junge Wirtin sieht es wenig dramatisch. Auch in China rede man sie nur allzu oft auf Englisch an, da sie dort aufgrund ihres etwas dunkleren Hautteints oft für eine Philippinerin gehalten wird. Ihr Bruder hätte dieses Problem nicht: Er schaue aus wie ein typischer Chinese.
 
 
Im Fu Xing Fortuna bleibt nie viel Zeit für Nostalgie. Das geschäftige Treiben lenkt auch ab vom Zweigeteilt-Sein und rückt das Positive des Kulturmix in den Mittelpunkt. Wenn die Familie alle paar Jahre in die Heimatprovinz Zhejiang reist, dann besuchen sie dort ihren Großvater, ihren Onkel und ihre zwei Cousinen. Traditionell auch einen der buddhistischen Tempel. Die Arztvisite ihres Vaters in China, die demnächst ansteht, wird sie vielleicht das nächste Mal ins Land der Mitte führen. Denn wenn es um alternative Heilmethoden wie Akupunktur, Physiotherapie und Kräuter geht, ist China im Vergleich zu Europa Vorreiter. Trotzdem sind sich die beiden Geschwister einig: Sie könnten es sich nicht vorstellen, je fest dorthin zu ziehen. „Das Großstadtleben ist nichts für uns. Die Hektik und das heiß-feuchte Klima in China – das gefällt uns nicht. Uns gefällt es hier in Milland. Hier ist es tranquillo“, sagen sie. Hier ist das Leben entspannter.

Fotos: Georg Hofer

 

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gorgias Sab, 06/22/2019 - 10:58

>Auch ihr geben die Eltern einen zweiten italienischen Namen, aus praktischen Gründen und aus Respekt vor dem Land, in dem sie sich niedergelassen haben: Cristina.<

Warum gibt es so wenig Problemeinwanderer aus Fernost, während man dauernd Integrationsnachhilfe Enwanderer aus anderen Regionen geben muss ohne dass man mit den Ergbnissen wirklich zufrieden sein kann.

Nebenbei ist dieses penetrante Gender-Sprech kaum auszuhalten:
>Zwar können sich die jungen Wirt*innen durchaus vorstellen, für die Liebe einmal aus dem elterlichen Haus auszuziehen.

Sab, 06/22/2019 - 10:58 Collegamento permanente
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Manfred Klotz Dom, 06/23/2019 - 08:22

In risposta a di gorgias

Verschiedener kultureller Background aber auch verschiedene Möglichkeiten. Die Chinesen, die gegen Westen auswanderten kamen nicht mittellos, nicht aus Dritte-Welt-Verhältnissen und waren deshalb in der Lage sich ein wirtschaftliches Standbein aufzubauen, das ist das um und auf der Integration. Abgesehen davon, dass man den Asiaten weit weniger Misstrauen entgegengebracht hat und entgegenbringt, da man - anders als bei Afrikanern - hinter ihnen keine Moslem vermutet.
Bezüglich Gender-Sprech, stimmt. Ist schon beinahe lächerlich. Da wäre es fast besser am Anfang eines jeden Textes zu schreiben, dass Berufsbezeichnungen u.ä. immer für beide Geschlechter zählen.

Dom, 06/23/2019 - 08:22 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Dom, 06/23/2019 - 10:04

In risposta a di Manfred Klotz

"für beide Geschlechter zählen." Das ist überholt Manfred! Das Sternchen ersetzt nicht das große "I" im Wort sondern steht "... im Rahmen des Sprach-Gendering, also des geschlechterbewussten Umgangs mit der Sprache, sowohl männliche und weibliche wie auch nicht-binäre Geschlechtsidentitäten ...." " Um Transsexuelle, Transgender und intersexuelle Personen nicht zu diskriminieren".
Ich kann mit dieser Schreibweise und Überbetonung ähnlicher Forderungen auch nicht viel anfangen, obwohl ich die Problematik kenne und verstehe.

Dom, 06/23/2019 - 10:04 Collegamento permanente
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Manfred Klotz Lun, 06/24/2019 - 07:18

In risposta a di Sepp.Bacher

Der Hinweis der Allgemeingültigkeit von geschlechterbezogenen Bezeichnungen, der bei jeder Ausschreibung üblich ist, soll Sternchen und Versalien ersetzen. Es wäre positiv für die Lesbarkeit. Damit hätte, denke ich niemand ein Problem. Ich habe noch nie, beispielsweise von einer Stellenausschreibung gehört, die beanstandet worden wäre, weil am Anfang obiger Hinweis steht und nicht das Sternchen benutzt wird.

Lun, 06/24/2019 - 07:18 Collegamento permanente
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Peter Gasser Dom, 06/23/2019 - 10:33

In risposta a di Manfred Klotz

Ich habe letzthin ein Buch mit dem „Zwischen-I“ gelesen und ein Buch, bei dem zu Beginn stand: „Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter“. Dies wird künftig, der entspannten Lesefreude, für mich ein Entscheidungskriterium beim Kauf eines Buches oder beim Lesen eines Textes sein. Jetzt die Sprache auch noch mit „nicht-binären Geschlechtsidentitäten“ zu überlasten: also ich mache diesen Krampf nicht mehr mit, mögen dies kommende Generationen tun.
Eine halbwegs und auch geschlechtsgerechte Form zu wahren ist ja in Ordnung, aber SPRACHE zu vergewaltigen, um es auch allen und jedem Recht zu machen, geht für mich zu weit. Ich reiche meiner Frau auch nicht die Salzstreuerin beim Essen, und sie kann gut damit leben.

Dom, 06/23/2019 - 10:33 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Dom, 06/23/2019 - 10:12

Meine Erfahrung zum Thema:
Ich hatte das Glück vor Jahren einen netten Chinesen kennen zu lernen und später auch sein Frau. Ich lernte einige seiner Freunde kennen und wurde auch zu ihrem Neujahrsfest eingeladen. Die ich kennen gelernt habe, sind stolz auf ihre Tradition, Kultur und ihr Land. Sind auch eher unkritisch gegenüber der Politik in ihrem Land. Ich habe erlebt, dass sie auch hier sehr viel Wert darauf legen, dass ihre Kinder gute Schüler sind. In den Sommermonaten werden sie zum Teil nach China zu ihren Verwandten geschickt, damit sie dort ihre Sprache, Schrift und Kultur erlernen. Mein Freund hat sogar überlegt, seinen kleinen Sohn schon im Vorschulalter für längere Zeit zu den Verwandten nach China zu schicken, da war aber seine Frau dagegen.
Ich finde es ein gutes Beispiel von Integration – im Unterschied zu Inklusion und Assimilierung – , so wie es die Chinesen machen, dass sie sich im Beruflichen und Geschäftlichen anpassen, aber weiterhin ihre Sprache und Kultur pflegen. Meiner Meinung nach tun sich Menschen, die aus Ländern mit einer alten hochentwickelten Kultur stammen, leichter sich anzupassen, sich zu integrieren. Der Stolz auf ihre Kultur gibt ihnen Kraft und Sicherheit.

Dom, 06/23/2019 - 10:12 Collegamento permanente