Weihnachtsmarkt Meran
Foto: Othmar Seehauser
Società | fritto misto

Santambrotscho-Blues

Nach dem Weihnachtsmarkt ist vor dem Weihnachtsmarkt. Plädoyer für ein mercatino-freies Meran.

Gehen wir gleich in medias res: Stellen Sie sich vor, es ist Weihnachtsmarkt, und keiner geht hin. Oder, noch besser: Es ist gar kein Weihnachtsmarkt. Weil er ausgelagert wurde, in ein strukturschwaches Gebiet wie Vöran oder Pawigl, oder, weil er ganz einfach nicht mehr stattfindet in Meran. Moment, höre ich Sie, was soll das, grad eben lag ich noch am Schwimmbad, und jetzt kommt mir die olle Kienzl schon mit Weihnachten, geht’s noch? Aber Sie wiegen sich in falscher Sicherheit: In etwa einem Monat schon, so sage ich euch, tauchen die ersten Schoko-Nikoläuse in den Supermärkten auf, nur wenig später wird die Weihnachtsbeleuchtung in der Stadt montiert, und noch ein paar Tage drauf stehen sie dann schon da, die ersten Holzhüttchen an der Passerpromenade. Immerhin ist in drei Monaten Weihnachten. Rechnen Sie ruhig nach, es ändert nichts daran. Die schrillste Zeit im Jahr, sie steht wieder vor der Tür.

Die Feinstaubwerte, freilich, die wären etwas traurig, weil sie es nicht mehr so locker in die Schlagzeilen schaffen würden ohne die „verkehrsreichen Wochenenden“...

Es ist mir ja fast ein wenig peinlich, schon wieder eine „Früher war alles besser“-Lamentele anzufangen, aber gut, ich werde 40, da beginnt das dann halt, dass man sich immer öfter an die alten Zeiten erinnert, und diese zunehmend rosiger scheinen als die aktuellen. Beziehungsweise öder. Denn mehr Ödnis, Langeweile, Leerlauf, das würde ich mir wünschen für Meran, zumindest in der Weihnachtszeit. Die jungen Menschen von heute kennen das ja gar nicht mehr, aber es gab einmal eine Zeit, da konnte man winters über die Promenade spazieren, ohne dass man das Gefühl hatte, wäre doch ganz praktisch, wenn alle einen eingebauten Winker hätten, beziehungsweise wenn der Personenverkehr in Spuren gelenkt würde und alle zwanzig Meter eine Ampel stünde. Wo man kaum jemandem begegnete. Wo einfach Ruhe war.

 

Ruhe, das wird ja immer mit der Weihnachtszeit in Verbindung gebracht, genauso wie Besinnlichkeit, Introspektion. Finde ich schön, finde ich wichtig. Leider steht der Weihnachtsmarkt, vulgo mercatino, so ziemlich für das Gegenteil: Seine Ruhe ist das nie versiegende „Jingle Bells“-Gedudel, seine Besinnlichkeit der Glühwein-Rausch, seine Introspektion das Stieren auf Menschen („Du aa do?“) und Waren („Quanto costa?“), die man nicht braucht. Beide nicht, wohlgemerkt.

Meinen 40er feiere ich am Tag nach Sant’Ambrogio, der hieß früher mal Maria Empfängnis, aber mittlerweile ist es einfach der Tag nach Santambrotscho, weil an Santambrotscho ist, seit es den mercatino gibt, ganz unchristlich der Teufel los, und deshalb ist ganz Südtirol Santambrotscho ein Begriff. An Santambrotscho staut‘s auf der Autobahn, staut‘s in den Städten, an Santambrotscho kommt die ganze Fregatte an Stinkebussen und Campern, und wer nur einen Funken Verstand hat, der geht an Santambrotscho einfach nicht vor die Tür. Ich bin leider nicht so schlau, weil ich gern draußen bin und kein Stubenhocker, und schon gar nicht meinen Geburtstag zuhause sitzend verstreichen lassen will, und deshalb verbringe ich seit einigen Jahren zumindest einen Teil des Freudentages damit, irgendwo im Stau ein wenig meine Sturheit und sehr viel den mercatino zu verfluchen. Man muss gar nicht Geburtstag haben, um betreffendes Wochenende (nur noch einmal: Santambrotscho!) zu hassen. Man muss bloß an seiner Lebensqualität hängen.

Stellen Sie sich vor, es ist Weihnachtsmarkt, und keiner geht hin. Oder, noch besser: Es ist gar kein Weihnachtsmarkt.

Es wäre doch gar nicht so schlimm, wenn Meran keinen Weihnachtsmarkt mehr hätte. Es wäre mutig. Es wäre modern. Die Eventlosigkeit als Event. Die Holzhüttchen könnte man ja ruhig stehen lassen, als Mahnmale, wie eine Kunstinstallation: Sie würden sagen: Wisst ihr noch, der ganze Irrsinn? Wer würde ihn vermissen, den mercatino? Die Kaufleute, die eh kaum mehr was verkaufen, weil jede*r nur schaut? Die Hoteliers, die auch nichts daran verdienen, weil die Besucher*innen ja eine tour de force der mercatini absolvieren und nicht bleiben? Die Kinder, deren Spielplatz nicht mehr stiefmütterlich von dem Tohuwabohu eingepfercht würde? Die Stadttauben, die nicht mehr zu einer körperwarmen Bröckelsuppe kommen, die sich unverhofft hinter einem Glühweinstandl in den Kies ergießt? („Mama, wos frisst die Taube do?“ „Schnell, gehen wir weiter.“) Die Angehörigen, die keine auf dem Mercatino erstandene ätherische Specklampe, mundgestrickten Kräutersocken oder handgeblasene Hopfenseife mehr unter dem Christbaum finden? Die Meraner*innen, die wieder  unbehelligt über ihre Promenade spazieren könnten, während in den Lauben ja eh der unerbittliche Weihnachtskrampf tobt, und eine kleine Verschnaufpause nach dem geschäftigen Herbst und vor der betriebsamen Osterzeit hätten? Die Feinstaubwerte, freilich, die wären etwas traurig, weil sie es nicht mehr so locker in die Schlagzeilen schaffen würden ohne die „verkehrsreichen Wochenenden“, aber da helfen ja wir Einheimische mit unseren ach so gemütlichen Holzöfen ordentlich nach.

„Last Christmas I gave you my heart“, singt der unvergleichliche Maikl Dschordsch alle Jahre wieder (und es ist erst richtig Weihnachten, wenn sie es bis dahin mindestens zwanzig Mal im Radio gehört haben), und drückt damit eigentlich alles aus: „But the very next day you gave it away. This year, to save me from tears, I’ll give it to someone special.” Sei es das Herz, sei es money: Geben Sie es nicht dem Mercatino. Denn Herz hat er keines (und Seele übrigens auch keine), und auch Ihr Geld ist anderswo besser aufgehoben.