Società | Interview

“Es geht um eine Systemfrage”

Gewalt wird es immer geben, aber einfache Antworten auf komplexe Fragen nie, sagt Thomas Kobler nach den Gewalttaten in Meran. Er fordert Geld – und eine Wertediskussion.
Thomas Kobler
Foto: Doris Zelger

Eine versuchte Vergewaltigung, ein Raubüberfall auf eine junge Frau, ein tätlicher Angriff auf einen Pfleger im Krankenhaus – und ein fataler Faustschlag gegen den Wirt des Café “Darling”, Oswald Trojer, bei dem sich dieser lebensgefährliche Verletzungen zuzieht: In Meran ist es in den vergangenen Tagen zu mehreren Gewalttaten gekommen, die eine nicht neue Frage neu entfachen: Hat die Stadt, hat das Land ein Sicherheitsproblem?

Thomas Kobler ist Sozialpädagoge und Politikwissenschaftler, hat Erfahrung in der Jugendarbeit und ist unter anderem im Meraner Ost West Club als Kulturarbeiter tätig. Derzeit belegt er ein Masterstudium in Soziale Arbeit an der Uni Bozen. Wie blickt er auf die Debatte über seine Stadt? Und wie soll mit straffällig gewordenen jungen Menschen umgegangen werden?

 

salto.bz: Herr Kobler, hat Meran ein Problem?

Thomas Kobler: Mit der Sicherheit?

Sehen Sie in Meran ein Problem?

Ich sehe viele Probleme in Meran, aber nicht ausschließlich ein Sicherheitsproblem. Grundsätzlich glaube ich, dass solche verachtenswerten Taten, die sie ja ohne Zweifel sind, nicht verhindert werden können, dass Gewalt im öffentlichen Raum nicht verhindert werden kann. Sie hat immer stattgefunden und findet immer statt.

Das ist eine resignierende Feststellung. Gehört Gewalt einfach zu unserer Gesellschaft?

Gewalt findet nicht nur im öffentlichen Raum, sondern in den allermeisten Fällen im privaten Raum statt, in der Familie: Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die von ihren Eltern geschlagen werden, oder Gewalt erleben, wenn der Vater die Schwester oder die Mutter schlägt.

Immer wieder wird Gewalt in Zusammenhang mit der Herkunft der Täter gebracht. Reicht das Stichwort “Migrationshintergrund” aus, um Gewaltepisoden zu erklären?

Gewalt ist absolut kein herkunftsspezifisches Problem. Es genügt, all die Frauenmorde zu erinnern, die es im heurigen Sommer in Italien gegeben hat. Die wurden hauptsächlich von hier geborenen italienischen Staatsbürgern verübt. Vor 10, 15 Jahren war in Meran das Nazi-Problem ganz akut, die schlagend und gewalttätig durch die Stadt gezogen sind. Momentan wird versucht, den Fokus auf die Migranten zu legen – aber wie das Beispiel von Ossi Trojer zeigt, greift das ja auch wieder zu kurz.
Zusätzlich ist klarzustellen, dass Gewalt nicht nur körperliche Gewalt betrifft. Gewalt beginnt nicht erst, wenn die Nase schon blutet. Sondern Gewalt passiert ganz stark auch auf struktureller Ebene. Wer gesellschaftlichen Ausschluss dauerhaft erfährt, egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, sondern einfach, wegen einer “falschen” Frisur, eines “falschen” Aussehens, einer “falschen” Sprache oder Attitüde, die in der Mehrheitsgesellschaft nicht als akzeptabel gilt, erfährt teilweise schon strukturelle Gewalt.

In der Präventionsarbeit gilt es, den Jugendlichen nicht als Störenfried oder Gewalttäter abzustempeln, sondern zunächst zu versuchen, die Hintergründe zu verstehen: Wo kommt die Gewalt her?

Die Problematik ist vielschichtiger als sie häufig dargestellt wird?

Die ganze Gewalt-Diskussion müsste insgesamt auf viel mehr Feldern stattfinden und gesamtgesellschaftlich betrachtet werden. Aber das fällt oft viel zu schwer. Und komplexe Problemsituationen ziehen in der öffentlichen Debatte fast immer nach sich, dass einfache Lösungen gefordert werden. Aber einfache Lösungen gibt es einfach nicht. Das müssen sich Politiker und Bürger ein für alle Mal hinter die Ohren schreiben.

Nichtsdestotrotz sind nach den jüngsten Episoden in Meran Rufe nach mehr Polizeipräsenz, mehr Videoüberwachung, einem Sicherheitsgipfel für die Stadt laut geworden. Die Lega fordert sogar Bürgerwehren.

Das ist nichts, was es nicht schon gegeben hat. Das Wort “Sicherheitsgipfel” hört man immer wieder bei verschiedensten Gelegenheiten.

Sie werden nicht abstreiten, dass die Verunsicherung, das Gefühl der Unsicherheit nach solchen Vorfällen in der Bevölkerung zunimmt – und erwartet wird, dass reagiert wird?

Klar, das ist auch legitim und menschlich. Aber das sind eben meist kurzfristige Lösungen: Das Problem ist da und dann schreit man nach solchen Maßnahmen. Aber das Problem existiert ja schon seit Jahren und Jahrzehnten. Das heißt, um diesen Problemen dauerhaft entgegenzuwirken, kann ich dauerhaft nur über Prävention arbeiten.

Mehr Sicherheitsbeamte und Videoüberwachung sind nicht notwendig?

Natürlich braucht es Polizeipräsenz, natürlich muss den Bürgern das subtile Gefühl von Sicherheit am besten tagtäglich vermittelt werden. Aber wozu führt das? Dass wir überall nur mehr Überwachungskameras und Polizeikräfte haben? Wie Bürgermeister Paul Rösch gesagt hat: Wir können schon einen Polizeistaat schaffen, aber wollen wir den? Wir wollen unsere Freiheiten ja trotzdem leben können. Letztlich will niemand in einem restriktiven oder autoritären Staat leben.

Was braucht es abgesehen von mehr Polizei und Überwachung?

Kurzfristig ist das sicher sinnvoll, kann aber nur funktionieren, wenn es eine gute Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Judikative, Polizei und Gerichten gibt. Die Vernetzung aber muss weiter greifen. Auch Menschen, die in anderen Bereichen tätig sind, müssen einbezogen werden: Sozialpädagogen, Sozial- und Kulturarbeiter – Menschen, die tagtäglich mit Jugendlichen zu tun haben und die reellen Problematiken viel, viel besser kennen als jemand, der diese Realität nur von außen wahrnimmt und dann nach mehr Polizeipräsenz und härteren Strafen schreit. Denn das ist nichts, was dem gesamtgesellschaftlichen Problem der Gewalt im öffentlichen Raum entgegenwirken kann.

Vor 10, 15 Jahren war in Meran das Nazi-Problem ganz akut, die schlagend und gewalttätig durch die Stadt gezogen sind.

Bei der Gewalttat gegen Oswald Trojer waren drei einheimische Jugendliche zugegen. Ein 19-Jähriger wurde inzwischen als vermeintlicher Täter, der dem Opfer einen Faustschlag verpasst hat, festgenommen. Alle drei sollen aus gutbürgerlichem Elternhaus stammen und sind auch den Jugendarbeitern in Meran bekannt. Wer hat versagt, wenn offenbar gut integrierten junge Männer gewalttätig werden?

Niemand alleine. Da sind wir wieder beim komplexen Problem: Du kannst nicht einem Einzelnen oder einer einzelnen Institution die Schuld geben. Die gesamte Gesellschaft ist gefordert: Richter, Polizei, die öffentliche Verwaltung, die mehr finanzielle Mittel für Freizeitaktivitäten, pädagogische Maßnahmen, Gewaltprävention zur Verfügung stellen muss. Und natürlich muss man die Frage nach der Familie stellen: In welchem Kontext wurde der Junge erzogen und sozialisiert? Mit welchen Werten ist er aufgewachsen?

Seine politischen Gegner suchen eine Mitverantwortung bei Bürgermeister Paul Rösch. Die Lega etwa wirft ihm vor, es verabsäumt zu haben, “strenge und dringliche Vorkehrungen” zu treffen. Worin besteht die Gefahr solcher Schuldzuweisungen?

Dadurch wird das eigentliche Problem komplett ausgeblendet. Warum soll der Bürgermeister Schuld sein, wenn ein Sohn aus offenbar gutem Hause plötzlich ausrastet? Dem Bürgermeister in seiner institutionellen Rolle eine Verantwortung zuzuschieben, greift viel zu kurz.
Und: Hätte die Aufstockung des Polizeiapparats wirklich verhindern können, dass es in einer Tiefgarage zu dieser Gewalttat kommt? Das würde bedeuten, dass jetzt in jedem Parkhaus eine Polizeistreife patrouillieren müsste. Wie soll das finanziell und organisatorisch umsetzbar sein? Erhöhte Polizeipräsenz in den Nachtstunden ist nicht schlecht, aber Einzelfälle in einer dunklen Gasse verhindert es nicht. Dasselbe gilt für Kameras. Das ist ein Schlag, eine Sekundentat, im Affekt. Wie will ich eine Affekttat durch eine Kamera oder höhere Polizeipräsenz verhindern?

Gewalt wird es immer geben und hat es immer gegeben in der Geschichte der Menschheit.

Eine Verschärfung der Haftstrafen könnte zumindest eine abschreckende Wirkung haben?

Es kann grundsätzlich gesagt werden, dass harte Gefängnisstrafen dem Problem der Gewalt und Gewaltbereitschaft nicht Herr werden. Inzwischen gibt es genügend wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass jugendliche Intensivtäter, die über viele Jahre eingesperrt werden, das Gefängnis nicht als bessere Menschen verlassen. Die Studien zeigen alle ganz klar und deutlich, dass die Intensivtäter in fast 80 Prozent der Fälle nach ihrer Entlassung Intensivtäter bleiben. Weil sie im Gefängnis häufig noch verstärkt in Richtung Gewalt sozialisiert werden. Die Rückfallquote unter jugendlichen Straftätern, bei denen – auch – andere Maßnahmen angewandt wurden, ist mit 59 Prozent deutlich niedriger.

Welche Alternativen gibt es für straffällig gewordene Jugendliche?

Viel besser und nachhaltiger sind solche Vorgangsweisen, die zwar klare und harte Maßnahmen vorgeben, die aber nicht ausschließlich über härtere Strafen zu wirken versuchen. In Deutschland gibt es etwa mit dem Täter-Opfer-Ausgleich eine Möglichkeit, die nicht nur die Gefängnisstrafe in Betracht zieht. Beim Täter-Opfer-Ausgleich geht es darum, dass der Täter für das Opfer Leistungen erbringt, angefangen bei einer aufrichtigen und klaren Entschuldigung, die eingefordert wird. Das Opfer muss natürlich zunächst akzeptieren, dass derjenige, der ihm Schaden und Gewalt zugefügt hat, ihm nun sozusagen “hilft”.

Was braucht es Ihrer Meinung nach also, um Gewalt im öffentlichen Raum wirksam einzuschränken oder zumindest vorzubeugen?

Noch einmal: Gewalt wird es immer geben und hat es immer gegeben in der Geschichte der Menschheit. Und mit kurzfristigen Maßnahmen werden wir sie nicht aus der Welt schaffen. Verändern kann sich nur etwas, wenn man bereit ist, für komplexe Problemstellungen auch komplexe Lösungen anzudenken und nicht mit einer einfachen Pressemitteilung, die schnell zusammengezimmert ist, nur und ausschließlich fordert, dass es eine harte Hand, mehr Polizei, mehr Staatsgewalt braucht. Damit kommst du einem Jugendlichen, der sich aus diesem gesamtgesellschaftlichen Kontext eh schon ausgeschlossen fühlt, nicht bei. Außerdem ist es wichtig, jeden Fall für sich zu betrachten. Es gibt nicht ein allgemein gültiges Erklärungsmuster dafür, wie Gewalt aus dem öffentlichen Raum bzw. grundsätzlich aus unserer Gesellschaft verbannt werden kann. Weil Gewalt eben an und für sich zum menschlichen Dasein gehört.

Hässliche Taten wie die jüngsten Gewaltakte auf offener Straße in Meran stören die Idylle, als die sich die Kurstadt, aber auch Südtirol nach außen gerne präsentieren. Ist das eine mögliche Erklärung dafür, dass die Debatte um Gewalt und Sicherheit regelmäßig hohe Wellen schlägt, aber ernsthafte Gegenmaßnahmen auf sich warten lassen – weil es einfach unbequem ist, genauer hinzuschauen?

Das ist ein Riesenthema. Wir leben hier sicher in keinem Schlaraffenland. Nur weil wir meinen, es sollte so sein und der Tourismus eine riesengroße Rolle spielt und alles schön und gut sein soll, heißt nicht, dass es keine Problemsituationen gibt. Was passiert etwa mit einer Gesellschaft, in der der Alkoholkonsum zum guten Ton gehört, so man doch weiß, dass Alkoholismus ganz stark mit Gewalt zusammenhängt?

Wie will ich Menschen inkludieren oder integrieren, wenn es das System überhaupt nicht möglich macht?

Nicht nur Sie beklagen, dass Forderungen nach mehr Geldern für soziokulturelle Projekte, Jugend- und Kulturarbeit, Freiräume, Präventionsarbeit und Anti-Gewaltprogramme in Meran seit jahrelang ungehört verhallen. Reicht mehr Geld allein aus, um in Sachen Gewaltprävention erfolgreich zu arbeiten?

Nein. Nichts reicht alleine aus. Aber die zusätzlichen finanziellen Mittel sind unausweichlich. Es braucht mehr kompetente Menschen, die mit problematischen Jugendlichen oder Menschen aus anderen kulturellen Kontexten entsprechend arbeiten können. Denn es geht immer darum, eine Verhaltensänderung zu erzielen. Dafür gilt es in der Präventionsarbeit, den Jugendlichen nicht als Störenfried oder Gewalttäter abzustempeln, sondern zunächst zu versuchen, die Hintergründe zu verstehen: Wo kommt die Gewalt her?

Was riskiert eine Gesellschaft, wenn das nicht passiert, wenn nicht versucht wird, die Ursachen von Gewalt zu ergründen oder tiefer zu gehen?

Das Risiko ist sicherlich, dass solche Situationen häufiger werden, dass dass man das Problem nicht in den Griff bekommt. Dabei muss man aber unbedingt betonen: Wir reden hier von einer absoluten Minderheit, die gewalttätig wird. Der Großteil der Jugendlichen, auch jener mit Migrationshintergrund, begeht keine schweren Straffälligkeiten oder Gewalttaten. Wird aber jemand auffällig, geht es nie nur um den Jugendlichen, sondern auch um eine Systemfrage.

Inwiefern?

Einkommensschwache Familien können sich in der Regel nur Mietwohnungen am Stadtrand leisten. Und schlecht bezahlte Berufe werden eben häufig von Menschen mit Migrationshintergrund oder niedrigem Bildungsstand ausgeführt. Das führt dazu, dass es in der Peripherie fast nur noch Menschen mit einem bestimmen kulturellen oder sozialen Kontext gibt – was wiederum zu Ausgrenzung und Nicht-Inklusion führt. Es heißt immer, Integration und Inklusion ist unser Hauptziel in der pädagogischen Arbeit. Aber wie will ich Menschen inkludieren oder integrieren, wenn es das System überhaupt nicht möglich macht?

Sind die 35 Millionen Gamer in Deutschland also potenziell alle gewalttätig? Das ist eine völlig verrückte Diskussion.

Zur Meraner Peripherie zählt Sinich. Dort leben die jungen Männer, die seit Kurzem mit einem Rap-Video für Diskussionen sorgen, in dem sie in fünf Sprachen rappen und machohaft mit Pistolen auftreten. Kennen Sie diese Jugendlichen?

Nein.

Haben Sie das Video gesehen?

Ja.

Fühlen Sie sich von diesen Jugendlichen mit ihrer angeblichen Gewaltverherrlichung bedroht?

Nein, überhaupt nicht (lacht). Aber das ist ja auch eine interessante Diskussion. Das Video hat nichts mit reellen Gewaltepisoden zu tun, wird aber immer damit in Zusammenhang gebracht. Plötzlich sind Rap-Videos, die es schon seit 40 Jahren gibt, ein Thema. In den USA haben Menschen ihre sozialen Problemlagen, ihr Ausgeschlossensein, das sie tagtäglich von der Mehrheitsgesellschaft vermittelt bekommen haben, über diese Musik erstmals überhaupt kenntlich gemacht und damit Eingang in den Mainstream, in die öffentliche Debatte gefunden. Die ersten Reaktionen waren, “das ist ja schlimm, schockierend” – ja, aber das ist die Realität.

Auch Provokation, zu der man das Posieren mit Waffen zählen kann, ist Teil der Rap- bzw. Hip-Hop-Kultur.

Genau. Aber mir ist hundert Mal lieber, ein Jugendlicher setzt sich mit Themen wie sozialen Problemen und Gewalt über eine Kunstform auseinander, indem er einen Song schreibt und ein Video macht, als Tag für Tag auf der Straße herumzuhängen und damit potenziell eher gewalttätig zu werden. Ob das Video einem gefällt oder nicht, ist jedem selbst überlassen, aber grundsätzlich kann man nicht sagen, nur weil jemand ein Rap-Video macht, ist er potenziell gewalttätiger. Auch hier gibt es Studien, die überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Gewalt in Rap-Videos und effektiver Gewalt sehen. Natürlich gibt es sie auch, aber nicht nur. Und Gewalt ist nicht ein ausschließliches Thema der Rap- oder Gangsta-Rap-Kultur, sondern findet auch in der Pop- oder Rock-Kultur statt. Alice Cooper hat bei seinen Live-Konzerten auf der Bühne einer Henne den Kopf abgeschlagen und mit Blut herumgespritzt. In der Metal-Szene gibt es auch genügend Beispiele. Das ist Teil der Kunstfreiheit. Das haben auch Gerichte in Deutschland mehrmals befunden, in den Diskussion um die Rapper Kollegah, Farid Bang und Bushido.

Kollegah und Farid Bang haben 2018 für das Aus des Musikpreises Echo gesorgt, der ihnen für ein Album verliehen wurde, in der es Textzeilen wie “Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen” und “Mache mal wieder ‘nen Holocaust, komm’ an mit dem Molotow” gibt. Immer wieder finden sich antisemitische und vor allem frauenerniedrigende und -feindliche Passagen in den Songs deutscher Rapper. Für Sie ist das Kunstfreiheit?

Nein, es müssen klare Grenzen gezogen und strafrechtlich relevante Fälle verfolgt werden. Aber nur weil ein Musiker mit Codes und bestimmten Tatsachen wie Gang-Kriminalität spielt, bedeutet das nicht automatisch, dass dieser Musiker ein Krimineller ist. Doch genau das wird in der öffentlichen Debatte ständig suggeriert. Hier haben natürlich auch die Medien eine Verantwortung. Klar, es lassen sich mehr Klicks generieren und Zeitungen verkaufen, indem die Schlagzeile so krude und brutal wie möglich gestaltet wird – denn das spricht die Leute an. Die Menschheit hatte immer schon eine Faszination für Gewaltsituationen. Aber man kann einfach nicht sagen, dass solche Videos dafür verantwortlich sind, was Ossi Trojer oder dem Pfleger im Krankenhaus passiert ist. Das ist nicht wahr und nicht in Ordnung.

Nach der Bluttat von Halle, bei der ein 27-jähriger Deutscher zwei Menschen auf offener Straße erschossen hat und ein Massaker an Juden in einer Synagoge verrichten wollte, hat der deutsche Innenminister Horst Seehofer verlauten lassen, man müsse sich jetzt die Gamer-Szene genauer anschauen – weil sich der Täter von Halle offenbar in Online-Foren von Gaming-Plattformen radikalisiert hat.

Das ist das beste Beispiel! Sind die 35 Millionen Gamer in Deutschland also potenziell alle gewalttätig? Das ist eine völlig verrückte Diskussion. Bei Einzelnen, die eine bestimmte Prädestination mitbringen, mag das natürlich eine Rolle spielen. Dann können auch solche Rap-Videos, wo Frauenfeindlichkeit, Gewalt, Geld die einzigen Werte sind, die dir vermittelt werden, das verstärken. Aber ein Mensch, der in einem “normalen” Umfeld erzogen wurde, wo Werte wie Liebe, Wertschätzung, Achtsamkeit, Verständnis vermittelt wurden, läuft sicherlich weniger stark Gefahr, sich von so einem Video oder Spiel beeinflussen zu lassen. Weil er zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann.

Wir müssen uns endlich eingestehen – und damit meine ich vor allem jene Politiker, die jetzt schnelle Maßnahmen fordern –, dass es für komplexe Probleme keine einfachen Strategien gibt.

Die Gewalt-Diskussion in Südtirol ist noch am Laufen, Landeshauptmann Arno Kompatscher will einen Sicherheitsgipfel einberufen. Und dann besteht das Risiko, dass alles wieder versandet – bis zum nächsten Vorfall. Wie wünschen Sie sich, dass es jetzt weitergeht, um das zu verhindern?

Natürlich wünsche ich mir mehr finanzielle Aufwendungen im soziokulturellen, freizeitkulturellen, jugendkulturellen Bereich. Die braucht es gerade jetzt in Südtirol, wo der Tourismus, die Landwirtschaft, das Handwerk vorherrschend und auch medial omnipräsent sind. Ohne Zweifel sind es wichtige Sparten, die dem Land zu Wohlstand verholfen haben. Aber wir müssen auch sehen, dass an diesem Wohlstand nicht alle teilhaben. Und es ist unsere Aufgabe, gesamtgesellschaftlich – Politik, Sozialpädagogen, Familie, Lehrer –, gemeinsam Strategien zu überlegen.
Ich wünsche mir, dass der Versuch gestartet wird, uns zu überlegen, wie wir als Gesellschaft leben wollen, dass wir versuchen, neue Prioritäten zu denken, weg vom wirtschaftlichen Wachstum als oberstes Ziel. Es kann etwas anderes geben als nur die Ellbogen-Gesellschaft, die dir vermittelt, dass du nur ein funktionierender Teil der Gesellschaft bist, wenn du eine gut bezahlte Arbeit hast, ein großes Auto und eine große Wohnung – wenn du etwas leistest. Wir haben gelernt, dass nur dieses System das einzig wahre und richtige sein kann. Das führt dazu, dass ganz viele Menschen, die nicht Teil dieses Systems sein können – aus welchen Gründen auch immer –, an diesem System überhaupt nicht partizipieren können. Wir müssen viel, viel stärker eine Wertediskussion beginnen, uns überlegen, wie wir es als Gesellschaft schaffen können, dass so viele Leute wie möglich partizipieren, dazu gehören können, das Gefühl haben, dazuzugehören. Denn am Ende will jeder Mensch Wertschätzung erfahren, gesehen und wahrgenommen werden, Akzeptanz und Empathie spüren.

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Peter Gasser Mer, 10/23/2019 - 08:30

Ich kenne dies gut, es kann auch nur ein nicht genehmer, in den Augen einzelner “falscher” Arbeitsvertrag sein:
“Sondern Gewalt passiert ganz stark auch auf struktureller Ebene. Wer gesellschaftlichen Ausschluss dauerhaft erfährt, egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, sondern einfach, wegen einer “falschen” Frisur, eines “falschen” Aussehens, einer “falschen” Sprache oder Attitüde, die in der Mehrheitsgesellschaft nicht als akzeptabel gilt, erfährt teilweise schon strukturelle Gewalt.”

Mer, 10/23/2019 - 08:30 Collegamento permanente
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Karl Trojer Mer, 10/23/2019 - 10:16

Aus allen Medien, den Fernsehkanälen, dem Internet, den neuen Medien prasseln permanent und in großen Mengen Gewaltdarstellungen auf uns Menschen nieder ! Selbst im "Kampf des Guten gegen das Böse" bleiben Tote und Verwundete auf der Strecke bis schließlich "das Gute gewinnt"... absurd...So wird GEWALT als NORMAL vermittelt und die Sensibilität für Unrecht breit untergraben. Was wundert´s, wenn dann Gewalt auch umgesetzt wird. Es bräuchte dringend einschränkende Regeln gegen diesen Missbrauch von Freiheit und einen Verbund von gesellschaftlichen und von politischen Initiativen, damit eine menschenfreundlichere Unterhaltung angeboten wird.

Mer, 10/23/2019 - 10:16 Collegamento permanente
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Elisabeth Garber Mer, 10/23/2019 - 19:43

In risposta a di gorgias

Na um mich brauchen sie sich keine Sorgen machen, Gorgias...aber manchmal kommt mir vor, dass gerade sie vielleicht nicht immer Medien konsumieren, die ihnen gut tun. Aber bleiben wir sachlich: haben sie den Kommentar von Herrn Trojer tiefgründig verstanden? Wissen sie über (mehr als genug) neurologische Studien Bescheid, was die emotionale Abstumpfung via Brot und Spiele im Netz ( Krieg, Blut, Gewalt) betrifft? Finden sie, ausgerechnet sie, der immer auf der sachlichen Welle herumreitet, es besonders sachlich, auf meinen Kommentar hin *mich* zu fragen, ob ich mündig sei? Mit 50+? Ich rede von Kindern und Jugendlichen...und der Tatsache, dass nach dem 17 Lebensalter synaptisch nimmer viel passiert. Compris?

Mer, 10/23/2019 - 19:43 Collegamento permanente
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Peter Gasser Mer, 10/23/2019 - 21:09

In risposta a di gorgias

„Wer zwingt Sie bestimmte Medien zu konsumieren? Sind Sie etwa nicht mündig genug ihren Medienkonsum selbst zu gestalten?“ schrieben SSie.
„Sie“ großgeschrieben meint in Ihrem Beitrag „Kinder und Jugendliche“?
Dann hätten SSie dieses „Sie“ kleinschreiben müssen...
(... ich lese auch nirgends was von „Jugendlichen“...?)

Mer, 10/23/2019 - 21:09 Collegamento permanente
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gorgias Mer, 10/23/2019 - 23:41

In risposta a di Peter Gasser

Warum sollten Eltern nicht auch für Ihre Kinder Erziehungsverantwortung haben? Hier muss man halt aus dem Kontext verstehen was mit Kinder gemeint ist.

Aber im Kommentar Garber 23.10.2019, 11:54 wird nicht ersichtlich, dass etwas falsch verstanden wurde. Auch in 23.10.2019, 19:43 ist es nicht der Fall. Sie haben es anscheinend als einziger nicht verstanden.

Mer, 10/23/2019 - 23:41 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Mer, 10/23/2019 - 14:26

Was mir an dieser Diskussion fehlt (und da rechne ich auch das gestrige Pro&Kontra, und das heutige Hörer-Forum um 13:10 Uhr im Radio dazu): Die Diskussion wird zwischen freiheitlichen Politikern und Sozialpädagogen geführt. Kann das fruchtbar sein? Ich glaube nicht. Profi gegen politische Hetzer!
Meines Erachtens sollte entweder Politiker gegeneinander streiten; z. B. Oppositionellem gegen politisch Verantwortlichen für Migration und Integration.
Um eine weitere (die weiter sein müsste, als sie hier Kobler denkt) gesellschaftliche Diskussion zu erwirken, müsste man einerseits Wissenschaftler, z. B. Politologen gegen Soziologen oder Sozialpsychologen diskutieren lassen, und andererseits eben die Leute aus der Praxis, wie Streetworker/Sozialarbeiter gegen z. B. einem Polizisten, der in diesem Bereich arbeitet.
Mich hat schon dauernd gewundert, dass niemanden von den Journalisten/Redakteurinnen eingefallen ist, zu dieser komplexen gesellschaftlichen Entwicklung entsprechende Fachleute zu befragen. Da kommen auf der einen Seite Psychiater und auf der anderen Sozialarbeiter vor, aber niemand denkt oder weis, dass es an der Fakultät für Bildungswissenschaften der UNI-Bozen, auch Professoren und Fachleute wie Sozialpsychologen, Sozialpädagogen, Soziologen, Philosophen und Historiker gibt, welche zu dieser komplexen Geschichte etwas zu sagen haben und die in die öffentliche Diskussion eingebunden gehörten. Denn es gibt eine Geschichte der Migration. Es gibt wahrscheinlich auch ein Sozialwissenschaft der Migration. Es gibt Fachleute bezüglich gesellschaftliche Entwicklungen. Einfach den politischen Hetzern und den Hasskommentatoren Raum geben, wie es gestern und heute die Rai in der Person von Christian Bassani gemacht haben, ist mE total kontrapoduktiv !

Mer, 10/23/2019 - 14:26 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Ven, 10/25/2019 - 08:23

In risposta a di Franz Hilpold

Ja Franz, ich nehme das stark an, weiß es aber nicht ganz genau. Meine Frage dann an dich: Wer unterrichtet dann dort die entsprechenden Fächer z. B. in den Studiengängen Sozialarbeit oder Sozialpädagogik?
Ich wollte aber auch darauf hinweisen, dass es an UNIs Fachleute gibt, die nicht nur für den Unterricht und die Forschung da sind, sondern auch von der Gesellschaft in Anspruch genommen werden könnten. Die Wirtschaft und die Landwirtschaft nutzt die Expertise reichlich.

Ven, 10/25/2019 - 08:23 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Ven, 10/25/2019 - 14:46

In risposta a di Thomas Kobler

In diesem Bereich unterrichten ja auch die bei uns allgemein bekannten Urban Notdurfter und Walter Lorenz. Frage, machen die Studiengänge Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik keine konkreten Projekte oder Studien, mit denen sie auch mehr in die Öffentlichkeit gehen könnten. Außerdem könnten sie sich dadurch auch die Gesellschaft, welche die UNI umgibt, konkret einbringen.

Ven, 10/25/2019 - 14:46 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Ven, 10/25/2019 - 08:36

In risposta a di Sepp.Bacher

Zu den oben geschriebenen Inhalten möchte ich - heute ganz aktuell - zwei Dinge ergänzen:
Die Chefredakteurin der Rai hat sich heute morgen von bestimmten Aussagen, die im Laufe der oben genannten Sendungen getätigt wurden, ohne unterbrochen zu werden, distanziert und versprochen, dass es solche Vorfälle nicht mehr geben wird.
Eine Südtiroler Tageszeitung (nicht das Tagblattl) bringt heute eine sehr gutes Interview mit dem Jugendrichter Benno Baumgartner zur aktuellen Gewalt-Problematik von jungen Menschen. Mir fällt dazu ein, dass man auch Staatsanwälte, die eine reflektierte Position vertreten, ich würde z. B. Markus Mayr vorschlagen, bei solchen Diskussionen mit einbeziehen könnte.

Ven, 10/25/2019 - 08:36 Collegamento permanente