Cultura | Salto Weekend

Alphabet des anarchistischen Amateurs

Anstöße zur Auseinandersetzung mit dem Anarchismus. Kunst und verdrängte Literatur, die sich nicht verdrängen lässt. Und was der Bozner Philipp Mock damit zu tun hat.
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Foto: Gamlet Zinkovsy

In einer Zeit, in der nationalistische Verengungen und totalitaristische Tendenzen wieder um sich greifen, bringt eine Ausstellung im angesagten Grazer Zentrum für zeitgenössische Kunst  Schriften des Anarchisten Herbert Müller-Guttenbrunn mit den Werken zeitgenössischer Künstler*innen in Verbindung. Mentor der Schau, die von Margarethe Makovec, Anton Lederer kuratiert wurde, war der Soziologe Reinhard Müller, einer der größten und wichtigsten Sammler anarchistischer Geschichte.


Ausgangspunkt der Schau ist das Alphabet des anarchistischen Amateurs des österreichischen Publizisten, Schriftstellers und Satirikers Herbert Müller-Guttenbrunn, 1887 in Wien geboren und am 10. April 1945 in Klosterneuburg irrtümlich von einem russischen Soldaten vor seinem Haus erschossen. 2007 wurde sein unvollständig gebliebenes Alphabet von der Germanistin Beatrix Müller-Kampel fertiggestellt und als Buch herausgegeben. Es versammelt Aphorismen, Sentenzen und Betrachtungen von Müller-Guttenbrunn – auch zu seinem Periodikum Das Nebelhorn. Für die Ausstellung wurde das Buch neu aufgelegt.

 

Buchstaben mit klugen Sentenzen führen die AusstellungsbesucherInnen durch die Räume und öffnen anhand zeitgenösssischer Positionen neue Türen zum komplexen Thema. Der junge Bozner Philpp Mock ist Teil einer Videoarbeit von Hubert Lobnig (Die verpackte Bibliothek, 2019. Video, 37min19sec.), die im letzten Raum am Bildschirm auf Rädern daherkommt und die Geschichte einer jüngsten Bibliotheksräumung in Wien erzählt, die Mock nicht nur körperlich sondern auch ideell unterstützte. salto.bz hat beim jungen Anarchisten nachgefragt und fand in den Bücherkartons sogar anarchistische Spuren zum Bozner Philosophen Carl Dallago.

 

salto.bz: Sie sprechen in einem Ausstellungsvideo über den überraschenden Umzug der Anarchistischen Bibliothek in Wien. Wie ist es dazu gekommen?

Philipp Mock: Neun Jahre lang war die Bibliothek in der Lerchenfelderstraße im 8. Bezirk in Wien zu Hause. Explodierender Immobilienmarkt und das "Nichtreagieren der Politik" darauf, drängen subversive und kritische Projekte und Menschen an die Peripherie, wo sie niemanden mehr stören. Bei uns war es auch so, dass der Mietvertrag ausgelaufen und nicht mehr verlängert worden ist, weil es anscheinend Platz für eine neue Hofer-Supermarktfiliale benötigt, obwohl es 200m entfernt schon eine gibt. Aber so einfach lassen wir uns nicht verdrängen. Wir schlagen zurück und sind dabei Geld aufzustellen, um uns Räumlichkeiten zu kaufen.

In wieviel Kartone hat man die Bücher, Zeitschriften und Broschüren unterbringen müssen? Und wo wird das historisch wertvolle Material nun gelagert?

Wir haben eine große Umzugsaktion gemacht und über 250 Bananenkartons mit den Büchern und Archivmaterialien in einem trockenen Keller gelagert. Das soll aber keine Zeitkapsel für die Zukunft werden, sondern bald wieder an die Oberfläche.

Die Geschichte der anarchistischen Bewegung zu dokumentieren und sichtbar zu machen ist enorm wichtig. 

Welche Bedeutung hat dieses Kulturgut für Sie? Für die Gesellschaft?

Die Geschichte des Anarchismus ist sehr vielfältig und divers. Dass der Generalstreik von Anarchist*innen erfunden wurde, wissen die wenigsten. Anarchismus war immer ein Aufschrei gegen Unterdrückungsverhältnisse und der ständige Kampf selbstverantwortlich und frei leben zu dürfen. Das war für die Mächtigen und Sklavenhalter immer schon die größte Angst und solche Projekte wurden und werden versucht zu zerstören. Wie beispielsweise bei den Kurd*innen, die einfach dafür kämpfen selbstverwaltet zu leben, wie es auf der anderen Seite des Erballs die Zapatistas machen. Solche Projekte sind ständig bedroht. Aber die Kämpfe flammen immer wieder an verschiedenen Orten auf. Der Wille zur Freiheit scheint ein Urbedürfnis des Menschen zu sein.
Die Geschichte der anarchistischen Bewegung zu dokumentieren und sichtbar zu machen ist enorm wichtig. Man kann das nicht anderen überlassen, da es dann falsch dargestellt oder verdrängt wird. Bezüglich Geschichtsverdrängung sind die Südtiroler*innen ja auch Spitzenreiter.

Nun werden Spenden für einen neuen Platz gesammelt. Wie kann man das Projekt der Anarchistischen Bibliothek und des Archivs unterstützen?

Wir haben schon einiges an Spenden gesammelt, es fehlt uns aber noch ein bisschen Kleingeld. Man kann unsere Kampagne A-bib braucht Raum (Verein zur Förderung libertärer Bibliotheks- und Archivkultur, IBAN: AT78 1400 0108 1000 0703) unterstützen, indem ein Betrag überwiesen wird oder indem unser Wandkalender für 2020 angefordert wird.


Der neue Kalender der Anarchistischen Bibliothek widmet sich anarchistischen Schriftstellerinnen…

Jährlich gibt es unseren Soli-Jahreskalender, bei dem wir immer Frauen aus der anarchistischen Geschichte in den Vordergrund rücken. Frauen sind nach wie vor marginalisiert. Dem gilt es entgegenzuwirken.

Was begeistert Sie an der Geschichte des Anarchismus? Wie versuchen Sie die Freiheitsidee in Ihren Alltag einzubauen?

Wenn man erfährt, dass in der Nähe des Siegesplatzes – unmittelbar dort wo ich aufgewachsen bin – eine faschistische Buchhandlung aufgesperrt hat, dann stimmt mich das nachdenklich. Ich finde ja, dass man da nicht auf die Politiker*innen vertrauen sollte etwas dagegen zu machen, sondern selbst aktiv werden sollte. Da sind wir auch bei dem, was es heißt anarchistisch zu leben. Einerseits Nein! zu sagen, wenn etwas nicht in Ordnung geht, also widerständig sein. Andererseits ist es der Versuch so zu leben, dass man dabei nicht den gesamten Planeten und seine Mitmenschen zerstört. Der Südtiroler Carl Dallago hat über ein Leben im Einklang mit der Natur viel geschrieben. Das solche Experimente funktionieren und immer wieder gemacht worden sind, davon kann man sich hoffentlich bald wieder in der neuen Anarchistischen Bibliothek in Wien überzeugen lassen.

Carl Dallago sympatisierte mitunter mit dem Anarchismus. Was kann man von ihm in der Bibliothek nachlesen?

Ja, Dallago kann man sich in der Bibliothek entlehnen. Er stammte aus einer Bozner Kaufmannsfamilie, hat sich dann aber von seinem bürgerlichen Leben gelöst und eine antiautoritäre Naturphilosophie entwickelt – mitunter von Ideen von Laotse inspiriert. Vielleicht kann man ihn sogar als Anarchisten bezeichnen. Er war jedenfalls ein starker Kritiker, sowohl des Nationalsozialismus als auch des italienischen Faschismus. In Südtirol ist Dallago leider kaum bekannt. Interessant im Zusammenhang mit der Ausstellung ist, dass auch Herbert Müller-Guttenbrunn die Dallago-Übersetzung des Tao-te-king sehr schätzte und ihm auch seine Zeitschrift Das Nebelhorn zusandte.

Ein Auszug aus der Tao-te-king Übersetzung:

Das Reich klein, die Menschen verstreut wohnend,
nicht vielerlei Geräte im Gebrauch.
Den Tod ernst nehmen und danach leben.
Der Scholle treu bleiben.
Schiffe und Wagen, ob auch vorhanden, nicht benützen.
Wehr und Waffen, ob auch vorhanden, nicht gebrauchen.
Rückkehr zur Einfachheit

 

 

 

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△rtim post Dom, 11/10/2019 - 14:46

Leider wissen hierzulande zu wenige: Carl Dallago ist nicht nur für seinen Kampf gegen den faschistischen und nationalsozialistischen Wahnsinn bekannt, sondern auch für seine sehr eigene Nachdichtung, eine "anarchistische Übersetzung" des 道德经.
Dallago hat dabei vielleicht sogar etwas vom antik-chinesischen Denken (vgl. Wolfgang Bauer, Das Antlitz Chinas...) erahnt.
Mehr zum Thema "Anarchismus" im Allgemeinen - aus einer europäischen Perspektive zwar - ist der interessante Link:
https://www.mangoes-and-bullets.org/kein-gott-kein-herr/

Dom, 11/10/2019 - 14:46 Collegamento permanente