Europa stirbt in Lampedusa

Wir sind empört: Über 100 Tote, Männer, Frauen, Kinder, elendig ersoffen im Mittelmeer. Die Schuldigen sitzen aber nicht in nordafrikanischen Beduinenzelten, sondern in Brüssel.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

Seien wir ehrlich: Wir wissen, dass diese "Tragödie von Lampedusa" nur eine Episode des Horrorszenarios ist, das sich im Mittelmeer abspielt. Täglich sterben Menschen im Mittelmeer, beim Versuch, nach Europa zu gelangen, fernab jeglichen Medieninteresses. 1500 sollen es vor zwei Jahren gewesen sein: Eine Randnotiz in den Zeitungen.

Jetzt wird wieder über die unverantwortlichen Schlepper geschumpfen. Und ein bisschen schuld sind die EinwandererInnen auch selbst, was nehmen sie auch diese brüchigen Boote, oder bleiben nicht frisch dahuam. Ich muss widersprechen: Die Schuldigen sitzen in Brüssel.

Seit Jahren sind die europäischen Grenzen dicht, befindet sich die EU im Krieg mit jenen, die versuchen, hereinzukommen. Hat sie eine legale Einreise de facto abgeschafft, macht Deals mit Diktatoren, die die armen Teufel schon in Nordafrika abfangen und einsperren. Unterhält sich mit Frontex einen gewaltig hochgerüsteten Militärapparat, um die Grenzen vor den Menschen zu schützen. Muss noch erwähnt werden, dass Italien jene Kapitäne vors Gericht gezerrt hat, quasi als Exempel, die den Ertrinkenden zu Hilfe geeilt sind? Tatsache ist: Die EU ist voll verantwortlich.

Wer die Augen vor all dem verschließt, sollte schweigen über die Toten in Lampedusa. Er macht sich mitschuldig, dass es so weitergeht, wie es ist. "Europa muß Zeugnis ablegen und handeln.", schreibt ein aus vollstem Herzen empörter Alexander Langer kurz vor seinem Tod. Seine Anteilnahme ist aufrichtig und voll im Angesicht der Untätigkeit der EU im Jugoslawienkrieg. Dasselbe gilt heute für die Tragödie im Mittelmeer. Die Komplizenschaft mit dem Sterben lassen beginnt mit einer Stimme für die Rechtspopulisten, die die Grenzzäune noch höher sehen wollen. Tatsache ist: Europa stirbt oder wird wiedergeboren in Lampedusa.

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Benno Kusstatscher Ven, 10/04/2013 - 09:42

Wir können uns nicht kommod aus der Verantwortung stehlen, in dem wir nach Brüssel zeigen. Verantwortlich sind nämlich nicht die in Brüssel sondern wir EU Bürger! Ja auch wir hier bei uns. Oder sind wir etwa nicht gerade in Begriff eine Festung Südtirol aufzubauen?

Ven, 10/04/2013 - 09:42 Collegamento permanente
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Sylvia Rier Ven, 10/04/2013 - 10:00

In risposta a di Benno Kusstatscher

und Europa, das sind wir, das sind du und ich. Und: Haben wir eigentlich schon einmal bei unserem "Vaterland" angeklopft, und unsere guten Beziehungen nach dorthin spielen lassen, und (auch) in dieser Sache um Unterstützung/Hilfe gebeten, im europäischen Sinne/Geiste - oder sind die Mauern unserer Festung schon zu hoch, als dass wir noch über unsere eigenen Befindlichkeiten à la Doppelstaatsbürgerschaft hinaus denken könnten?!

Ven, 10/04/2013 - 10:00 Collegamento permanente
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no name Ven, 10/04/2013 - 10:24

Eben. Und: Wer profitiert denn von den illegalen Arbeitskräften? Ganze Industrien und Landwirtschaftszweige nicht nur in Südeuropa (Stichwort: Rosarno) leben köstlich von den billigen, leicht auszubeutenden EinwandererInnen.

Ven, 10/04/2013 - 10:24 Collegamento permanente
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Harald Knoflach Sab, 10/05/2013 - 14:47

mir kommt vor, ihr redet aneinander vorbei, denn in dieser diskussion hier wird die frage nach schuldigen und die suche nach ursachen miteinander vermengt. jemand, der sich in dieser angelegenheit schuldig macht (schlepper usw.) muss nicht notwendigerweise ursache des problems sein. das lindert jedoch nicht im geringsten seine schuld. ich gebe milf recht, wenn er von komplexitätsreduktion spricht.
die schlepper sind eindeutig ein symptom des problems der flüchtlingsströme (wobei ich betonen möchte, dass niemals die menschen das "problem" sind, sondern die umstände, die sie zum wandern zwingen), welche wiederum ein symptom verfehlter interventions- und wirtschaftspolitik - auf beiden seiten des mittelmeeres - sind. man kann den kolonialismus nicht rückgängig machen - man muss von seiten der eu aber sehr wohl wirtschaftliche und politische praktiken abstellen, die das elend mitverursachen. z.b. ausbeutung der meere mit schleppnetzen (http://www.youtube.com/watch?v=ceWTy46-DwM), kolaboration mit despoten, agrarsubventionen nach gießkannenprinzip (http://ec.europa.eu/budget/img/figures/2011/2011_budg_voted_de.gif) usw. und freilich beeinflusst auch unser aller konsumverhalten die menschen in afrika.
des gibt also viele schuldige und auch mehrere ursachen. das letzte was wir jetzt brauchen sind schuldzuweisungen und eine diskussion darüber, wer der "alleinige schuldige". vielmehr müssen wir endlich beginnen, unseren beitrag zur behebung der ursachen beizutragen. das geschieht durch unser konsum- und wahlverhalten.
p.s.: wenn man vom demokratiedefizit in der eu spricht, kann man zwar dagegensetzen, dass niemand in der eu einen wichtigen posten besetzt, der nicht direkt oder indirekt demokratisch legitimiert ist. das problem ist aber vielmehr, dass die bestellung nach wie vor auf nationaler und nicht auf europäischer ebene passiert und dass das prinzip der gewaltenteilung unterlaufen wird (rat = nationalstaatliche exekutiven, die legislative "spielen", kommission = exekutive mit nahezu alleinigem initiativrecht).

Sab, 10/05/2013 - 14:47 Collegamento permanente
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no name Sab, 10/05/2013 - 15:23

mir komplexitätsreduktion bei einem bewusst polemischen artikel von ein paar zeilen vorzuwerfen, geht etwas an der sache vorbei weil es die sache eines solchen artikels ist, genau das zu bewirken: auf einen kritischen punkt der diskussion aufmerksam zu machen.

und ich bleibe dabei: ich habe niemals die schlepper verteidigt (in deinem artikel, milf, geht es um räuberbanden. ist nicht ganz das selbe.), sondern die grenzpolitik der EU als hauptursache für das sterben im mittelmeer angeprangert. die aufgezählten kritikpunkte sind mit etwas google oder hier nachprüfbar (http://www.kontext-tv.de/node/369).

was ich also bezwecken wollte: dass dieses sterben nicht als "naturkatastrophe" wahrgenommen wird, sondern als das ergebnis von politischen entscheidungen. halte das für komplexitätserweiternd.

Sab, 10/05/2013 - 15:23 Collegamento permanente
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Harald Knoflach Sab, 10/05/2013 - 18:48

In risposta a di no name

"die grenzpolitik der EU als hauptursache"
ein komplettes öffnen der grenzen löst doch nicht das problem. im gegenteil. wir müssen mehrere stellschrauben drehen. eine grenzöffnung bringt wenig bis gar nichts und ist somit auch nicht "hauptursache".
sehr richtig ist, dass europa das "flüchtlingsproblem" mehr als sicherheits- den sozial- und wirtschaftspolitisches problem sieht (stichwort frontex usw.). das ist in der tat fatal. in den meisten zeitungen lese ich nur kommentare, wie man derartige katastrophen durch bessere überwachung (boote am auslaufen hindern und dergleichen) vermeiden kann. kaum einmal ein wort über die wahren ursachen.

obwohl: eine vollständige weltweite reise- und niederlassungsfreiheit könnte schon was bewirken - siehe http://www.brennerbasisdemokratie.eu/?p=6253

Sab, 10/05/2013 - 18:48 Collegamento permanente
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Benno Kusstatscher Sab, 10/05/2013 - 15:52

Können wir uns darauf einigen, dass der Schlüssel des Problems zu einem Großteil in Europa liegt, und dass das Verantwortungsbewusstsein einer jeden einzelnen von uns geschärft werden sollte?
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Ob wir dann bei europäischem Demokratieverständnis, bei nationalstaatlichen Fischerei-, Waffenexport- oder Wirtschaftsinteressen, bei Lösegeldpraxis, bei Lobbyismus in der Agrarpolitik, oder bei Konsumentenverhalten bei der Urlaubswahl, beim Müll, im Klamottenshop oder im Sushilokal weiterdiskutieren, halte ich eher für willkürliche Reihenfolge.
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Sicher ist, wir können nicht mehr wegschauen und die Verantwortung nicht mehr von uns weisen.

Sab, 10/05/2013 - 15:52 Collegamento permanente