Società | Notstand

„Wir wollen Maßnahmen mit Augenmaß“

In einem offenen Brief an die Landesregierung fordert man ein Überdenken der derzeitigen Corona-Strategie. Einer der Erstunterzeichner ist Eduard Egarter-Vigl.
Egarter
Foto: Quelle: Edition Raetia
Ich bin vom Inhalt dieses Briefes absolut überzeugt, deshalb habe ich ihn auch sofort unterzeichnet“, sagt Eduard Egarter Vigl.
Der Pathologe, langjährige Primar und ehemalige Präsident der Gesundheits-Hochschule „Claudiana“, der es als Ötzi-Doktor zu internationaler Bekanntheit gebracht hat, ist einer der Erstunterzeichner eines offenen Briefes an die Landesregierung. Die Forderung im Schreiben: Man muss die Strategie und die Ausgangsbeschränkungen im Corona-Notstand grundlegend überdenken.
Seit Samstag ist der offene Brief in den sozialen Netzwerken viral unterwegs. Geschrieben und initiert wurde der Brief von der Bozner Wirtschaftsjournalistin Sabine Holzknecht. "Ich habe das Schreiben am Samstagnachmittag an eine Handvoll Freunde geschickt", sagt Holzknecht zu Salto.bz. Auch die Autorin des Briefes ist überwältigt vom Echo ihres Schreibens. "Ich erhalte unglaublich positive Rückmeldungen von so vielen Menschen aus ganz Südtirol. Fast alle bedanken sich, dass endlich angesprochen wird, was so viele Menschen bewegt", meint Holzknecht.
Bisher haben das Schreiben 1.800 Südtiroler und Südtirolerinnen unterzeichnet.
 

Der offene Brief

 
 
Dieser offene Brief will nicht kritisieren, sondern möchte den öffentlichen Diskurs anstoßen.
 
1. Zum heutigen Zeitpunkt (Stand 11.4.2020) wurden in Italien laut Gesundheitsministerium 906.864[i] Tests durchgeführt. Bei mindestens 2 Tests pro Person[ii] entspricht das 0,75 Prozent der Gesamtbevölkerung und zeigt, dass wir über keine aussagekräftige Datenmenge verfügen. Dennoch leitet die Regierung daraus Maßnahmen von unüberschaubarer Tragweite ab.
2. Obwohl fundierte Grundlagen für die Maßnahmen und eine transparente Begründung derselben fehlen, werden unsere Grundrechte[iii] drastisch beschnitten (z.B. diritto di libertá, diritto di istruzione, diritto al lavoro). Laut Gesetz müssten alle, die nicht arbeiten dürfen, entschädigt werden – und damit ist nicht die Möglichkeit gemeint, sich günstig zu verschulden.[iv]
Wir benötigen Lösungsvorschläge für eine kontrollierte Rückkehr zu einer Form von Normalität, die es den Menschen ermöglicht, ihre Existenzgrundlage zu sichern.
3. Es gibt keine Evidenz für die Wirksamkeit von Ausgangssperren oder die Begrenzung auf eine maximal erlaubte Entfernung von 200 Metern[v] vom eigenen zu Hause. In Ländern Deutschland, die keine Ausgangsperre, sondern nur eine Kontaktsperre praktizieren, beträgt die Sterberate von Corona-Patienten nur ein Zehntel der Sterberate in Italien[vi]: 31 Tote pro Million Einwohner versus 312 Tote pro Million Einwohner. Sollten wir einen Herdenschutz anstreben, sind Ausgangssperren sogar kontraproduktiv.
4.  Angelo Borrelli, der Leiter des nationalen Zivilschutzes, hat bestätigt[vii], dass in Italien nicht unterschieden wird, ob jemand durch Covid19 oder mit Covid19 stirbt. Auch Patienten, die an einer anderen Pathologie versterben, aber positiv sind, werden als „Corona-Tote“ gezählt werden. Eine stringente Kausalität ist damit nicht gegeben.
5. Gian Carlo Blangiardo, Präsident der ISTAT, hat am 2. April erklärt[viii], dass im 1. Trimester 2019 in Italien 15.189 Menschen an Atemwegserkrankungen verstorben sind, im 1. Trimester 2018 waren es sogar 16.220 Menschen. Im selben Zeitraum 2020 waren 12.352 Menschen mit Covid19 verstorben. Warum haben uns diese Zahlen der Vorjahre nicht ebenso alarmiert und in Panik versetzt und wie groß ist wohl die Schnittmengen zwischen den Menschen, die an einer Atemwegserkrankung ähnlich wie in den Vorjahren verstorben sind mit jener, die aktuell als Corona-Tote gezählt werden?
6. In Italien sterben jährlich 11.000 Menschen an Krankenhauskeimen/-infektionen (182 pro Million Einwohner). In Deutschland sind es 2.500 (30 pro Million Einwohner), in den Niederlanden sind es 230 (13 pro Million Einwohner).[ix] Die Sterberate an Krankenhausinfekten ist in Italien somit 6 Mal so hoch wie in Deutschland und 14 Mal so hoch wie in den Niederlanden. Knapp 40 Prozent von Südtirols Corona-Todesfälle entfallen auf die Seniorenheime.[x] Dieses und ähnliche Beispiele sollten wir mitberücksichtigen, wenn wir über die Gefahr und mögliche Verbreitung von Covid19 sprechen.
 
 

7. Die von der Istat am 31.3. veröffentlichen Daten belegen, dass 40 Prozent der aktuell bekannten Covid19-Fälle und mehr als 60 Prozent der offiziellen Corona-Todesfälle in der Lombardei sind[xi]. Das heißt weniger als 40 % der Todesfälle verteilt sich über Rest-Italien. Kann es anhand dieser Verteilung sinnvoll sein, dieselben restriktiven Maßnahmen auf alle Regionen und Provinzen gleichermaßen anzuwenden und alles Leben lahmzulegen oder sollte differenzierter vorgegangen werden?
All das wirft die Frage auf, ob die jetzigen Maßnahmen noch verhältnismäßig und zweckmäßig sind.
All das wirft die Frage auf, ob die jetzigen Maßnahmen noch verhältnismäßig und zweckmäßig sind. Wir verstehen, dass jedes Leben schützenswert ist. Aber wir steuern auf eine wirtschaftliche Katastrophe ungeahnten Ausmaßes zu, die die Existenzgrundlage von Millionen von Menschen bedroht? und von der wir nicht wissen, wie wir uns wieder daraus erholen sollen.
Wir sollten anfangen, über alternative Strategien und Wege nachzudenken. Das betrifft den wirtschaftlichen Lock-down und den „Hausarrest“ ebenso wie die stark panikgetriebene mediale Berichterstattung.
Wir benötigen Lösungsvorschläge für eine kontrollierte Rückkehr zu einer Form von Normalität, die es den Menschen ermöglicht, ihre Existenzgrundlage zu sichern. Wir tragen auch Verantwortung für all jene, die jetzt ohne Sicherheitsnetz für ihre Familien sorgen müssen.
Wir benötigen eine differenziertere Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation, die die unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten mitberücksichtigt.  
Wir wollen Transparenz. Wir wollen Maßnahmen mit Augenmaß für Südtirol!
 
Update: Dieser Artikel wurde am 13. April um 16.40 Uhr ergänzt.
 
 

[ii] Wahrscheinlich sind es weniger getestet Personen. Jeder genesene Patient müsste theoretisch 4 mal getestet worden sein (2 x positiv um sicher zu sein, 2 x negativ um sicher zu sein).
[iv] Staatliche Notverordnung Nr. 18 vom 17.03.2020
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Elisabeth Garber Ven, 04/17/2020 - 18:52

In risposta a di Klaus Griesser

Da könnte ich jedes Wort unterschreiben (K. Griesser) - genau so war/ist es. Geholfen haben Deutschland und Österreich erst als der Patient Italien schon zu dreiviertel erstickt war - in jeder Hinsicht - und das war und ist zynisch. Las/liest man sich Kommentare italienischer Zeitgenossen in den Medien durch - so hat es die Mehrheit tatsächlich genau so empfunden, wie K. Griesser es in seinem Kommentar beschreibt.

Ven, 04/17/2020 - 18:52 Collegamento permanente
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Christian Mair Ven, 04/17/2020 - 19:45

In risposta a di Klaus Griesser

Ich stimme zu, dass der Neoliberalismus die Institutionen und Eliten durchtränkt und damit Kultur, Werte und Demokratie der goldenen Kuh geopfert hat. Gerade jetzt gilt es nicht nur bei ECB, blackrock machzuschauen, sondern auch konkret vor Ort darauf zu achten, wo die Kröten hinwandern und wer das bestimmt. Förderungen sollten mit Bedingungen verknüpft werden.
Ich denke es ist notwendig, ein lokales Netzwerk einer geeinten Progressiven nach Vorbild DIEM25 zu gründen, um erfolgreich Ideen der Vordenker Varoufakis, Guerot oder sogar einem geläuterten Macron umzusetzen:
- Gemeinwohlökonomie
- Kreditreform um Wachstumszwang zu minimieren
- Verwaltungs-und Demokratiereform
- Autonomieverfassung
- Besteuerung leistungsloser Einkommen
- progressiver Immobiliensteuersatz und Leerstandsabgsbe

Ven, 04/17/2020 - 19:45 Collegamento permanente
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lösch hans Ven, 04/17/2020 - 20:28

In risposta a di Klaus Griesser

Kann Ihnen nur zustimmen Herr Griesser, bei der Finanzkrise wurden am Ende jene gerettet und belohnt die diese verursacht hatten. Sodass sie daraus noch stärker und unantastbarer hervorgegangen sind. Bezahlen mußte dafür die Bevölkerung mit Kürzungen im sozialen Bereich vor allem im Gesundheitswesen aber auch bei der Fürsorge und Kultur. Auch bei dieser Krise werden wieder Milliarden in die Hand genommen um die Fetten noch fetter zu machen. Dabei ist es sonst in der Wirtschaft doch selbstverständlich das man breit aufgestellt sein muß um kriesensicher agieren zu können. Aber anscheinend hat dieses Prinzip gesellschaftlich keine Richtigkeit, hier ist es sinnvoll wenn wenige immer mehr haben und ganz viele immer weniger.

Ven, 04/17/2020 - 20:28 Collegamento permanente
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Michael Bockhorni Sab, 04/25/2020 - 16:54

@Peter Gasser: Die Wirklichkeit in den genannten Orten ist abhängig von der Anzahl der Intensivbetten, dem ausreichendem Schutz des Krankenhauspersonals, dem Verhältnis von ambulanter häuslicher Isolation und stationärer Aufnahme uvm. Das es nicht nur *eine Wirklichkeit* gibt, hat Paul Watzlawik (den ich übrigens 1999 in Bozen erleben durfte) und Kollegen in den 1970er Jahren erkannt. Auch der Film "Rashomon" handelt davon, wie 3 Zeugen von einer Vergewaltigung drei verschiedene Wirklichkeiten erzählen. Die *eine Wirklichkeit* aus der Poebene, Madrid und New York kennen wir ja nicht einmal aus eigenem Erleben, sondern durch den Filter der Massenmedien. Daher braucht es auch mehr als eine (Sammle)Partei, ein Tagblatt, eine Kirche und eine Biermarke.

Sab, 04/25/2020 - 16:54 Collegamento permanente
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Peter Gasser Sab, 04/25/2020 - 17:02

In risposta a di Michael Bockhorni

Da stimme ich Ihnen in allem zu. Watzlawick habe ich mehrmals gelesen, Buch steht aktuell grade neben mir.
Aber trotzdem: Sie schreiben von Erfahrungen, Sichtweisen, subjektiven "Wirklichkeiten": dem allem zugrunde aber liegt ein empirisches Geschehen, welches unabhängig von der Betrachtungsweise des einzelnen i m m e r d a s s e l b e ist - im konkreten fall das Virus und seine Ausbreitung.
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Zu Ihrem Beispiel: empirisch hat die Vergewaltigung auf eine einzige Art und Weise in räum und Zeit stattgefunden; genauso wie Bergamo, Madrid, New York nur auf eine Weise stattgefunden haben, wenn auch unterschiedlich wahrgenommen.
Wir leben alle in ein- und derselben - nennen wir es nun - "Realität".

Sab, 04/25/2020 - 17:02 Collegamento permanente