Società | Fernunterricht

„Die Nerven liegen blank“

Lehrer sitzen seit dem Lock Down auf der faulen Haut? Von wegen! Eine Lehrperson gibt Einblicke in ihren derzeitigen Arbeitsalltag.
Schulkind
Foto: Pixabay

Salto.bz: Frau Frenademez, Sie arbeiten als Grundschullehrerin für Deutsch, Englisch und Kunsttechnik. Wie hat sich Ihr Berufsalltag seit der Ausnahmesituation und der Schließung der Schulen verändert? 

Gloria Frenademez: Der Unterricht hat sich sehr stark und in sehr kurzer Zeit verändert. Von heute auf morgen musste eine komplett neue Form des Unterrichts auf die Beine gestellt werden. Die größte Umstellung war der Verlust des direkten Kontaktes mit den Schülerinnen und Schülern. In der Klasse gehörte es zum Alltag, die Lernprozesse der Kinder zu beobachten. Das ist jetzt anders.

Ein Vorwurf, der auf sozialen Netzwerken zurzeit häufiger zirkuliert ist, Lehrerinnen und Lehrer bekämen weiter Ihr volles Gehalt, obwohl sie auf der faulen Haut säßen.

Diesen Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Die Lehrpersonen sitzen stundenlang am PC und planen den Heimunterricht. Hier gilt es viele verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Wir sprechen nicht mehr nur von Vorbereitung der Unterrichtseinheiten. Jetzt kommen die (teilweise sehr) unterschiedlichen Dispositionen der Familien, technische Einschränkungen und sprachliche Vielfalt dazu. All dies verlangt nicht nur jungen Lehrpersonen, sondern auch jenen mit mehr Arbeitserfahrung viel ab. 

Zudem werden Unterlagen zur Korrektur zurückgeschickt, die verwaltet, ausgedruckt, verbessert, wiedereingescannt und zurückgeschickt werden müssen. Zuletzt muss ein ständiger Austausch mit den Eltern aufrechterhalten werden, was ebenfalls viel Zeit in Anspruch nimmt. In der Schule gibt es dafür Sprechstunden, Elternsprechtage und Klassenratssitzungen, die jetzt gänzlich wegfallen.

 

Sehen Sie auch Chancen in dieser Situation? 

Ja, ich sehe in der derzeitigen Situation große Chancen, einerseits für die Lehrpersonen, aber auch für das Bildungssystem. Bezogen auf die Lehrpersonen erfahre ich zurzeit, dass viele über sich hinauswachsen. Technische Fähigkeiten werden angeeignet, neue Lernmethoden entdeckt und es besteht ein reger Austausch unter den Lehrpersonen, was für alle ein Mehrwert ist. 

Das Bildungssystem hat jetzt die Chance sich auf die digitale und technisierte Welt einzulassen. In vielen Schulen in der Schweiz, Deutschland und Österreich gehört es schon zum Alltag Tablets in den Unterricht einzubauen, die Schülerinnen und Schüler direkt am Gerät arbeiten zu lassen und Hausaufgaben digital mitzuschicken. Dieser Schritt fehlt bei uns im Land noch. Die Kompetenzbeschreibung „Kommunikations-und Informationstechnologie“ existiert zwar, ist aber an vielen Schulen noch schwer umzusetzen. In einer so digitalisierten Welt wie unserer, ist es sehr wichtig, die Schülerinnen und Schüler gut vorzubereiten. Auch schon in der Grundschule. 

Leistungsschwächere Schüler profitieren teilweise von der Situation, denn die Konzentration steigt, wenn keine 20 Mitschüler im Raum sind. Bei anderen erschweren Bewegungsdrang und Langeweile aber das Lernen

In letzter Zeit wird der Schrei nach Kinderbetreuung immer lauter. Familien fühlen sich vom Staat alleine gelassen und starten Petitionen, Verbände fordern mehr Unterstützung. Zu Recht?

Ich als Lehrperson erfahre immer wieder, dass Eltern an ihre Grenzen stoßen. Das ist auch mehr als verständlich. Die Schulen sind geschlossen, Eltern müssen langsam wieder zur Arbeit und die Kinder können nicht betreut werden. Die Familien sind von der Corona-Krise sehr mitgenommen und möchten Klarheit. Das ist uns Lehrpersonen auch klar. Ich bin der Überzeugung, dass von Seiten des Staates und des Landes angemessene Angebote ermöglicht werden müssen. Schulen, Jugendzentren, Jugenddienste und viele weitere Institutionen arbeiten bereits darauf hin. Wichtig ist jedoch, dass sich Institutionen auf Personalaufstockung für kleinere Gruppen, Schutzausrüstung usw. vorbereiten. 

Auch die Betreuung der Schülerinnen und Schüler durch das Lehrpersonal wird zurzeit heftig diskutiert. Hier gilt es genauso die Rahmenbedingungen zu schaffen und zusammen mit den Gewerkschaften zu besprechen, was im Rahmen des Kollektivvertrages möglich ist. Ich kenne viele Lehrpersonen, die kein Problem damit haben, im Sommer zu arbeiten. Aufklärung und transparente Information ist aber zentral. 

Eltern haben die Arbeit im Nacken und müssen ihre Kinder jetzt nicht nur betreuen, sondern auch unterrichten. Viele sind mit den Nerven am Ende

Was bekommen Sie von Ihrem Standpunkt aus mit, wie es Familien mit dem Fernunterricht und der fehlenden Kinderbetreuung zurzeit geht? 

Da wir in stetigem Austausch mit den Familien stehen, erfahren wir sehr viel. Ich möchte vorausschicken, dass alle Familien ihr Bestes geben. Trotzdem habe ich einen Wandel wahrgenommen. Zu Beginn der Corona-Krise war die Motivation sehr hoch, trotz der Überforderung mit dem Heimunterricht für viele. Nach einigen Wochen bemerkte ich, dass die Eltern unter einem enormen Druck stehen. Sie haben die Arbeit im Nacken und müssen ihre Kinder nicht nur zu betreuen, sondern auch unterrichten. Vor allem in Familien, die mehrere Schulkinder zuhause haben, kann ich sehen, dass viele mit den Nerven am Ende sind. Sie fühlen sich im Stich gelassen und wissen nicht wie es weiter geht. Wir Lehrpersonen zeigen stets Verständnis für die jeweiligen Situationen und Gefühle und versuchen den Familien nach unseren Möglichkeiten den Druck und die Angst zu nehmen. 

Einige Eltern meinen es auch zu gut mit ihren Kindern und setzen diese unbewusst unter Druck. Das lässt sich leicht durch die Arbeitsweise und die Handschrift der Schülerinnen und Schüler erkennen. Gerade diesen Familien muss geholfen werden.

Die aktuelle Krise zeigt, wie wichtig der Lehrerberuf für den Fortbestand einer Gesellschaft ist. Finden Sie, Eltern wird das jetzt mehr bewusst, und fühlen Sie sich also stärker wertgeschätzt?

Ich denke schon, dass die Eltern die Arbeit der Lehrpersonen wertschätzen. Wir bekommen regelmäßig positives Feedback und haben einen guten Austausch mit den Familien. Natürlich gibt es Situationen, in denen nicht nur die Eltern, sondern auch die Lehrpersonen überfordert sind. Auch die Auswirkung der Ausgangssperre auf die Psyche ist da nicht zu vernachlässigen. Die Nerven liegen blank. Die Aufgabe der Pädagogen ist es in solchen Situationen professionell zu sein und Verständnis zu zeigen. Oft sind wir auch das Auffangnetz für Frustration und Unzufriedenheit. Trotzdem nehmen wir es nicht persönlich und verstehen die Hintergründe gewisser Aussagen, bzw. schriftlicher Mitteilungen.

Wie wirkt sich die Situation auf die Leistung und das Verhalten der Kinder aus?

Da ich nicht in den Familien vor Ort bin, kann ich das nicht genau sagen. Auf Grund der Rückmeldungen durch Hausaufgaben konnte ich aber beobachten, dass leistungsschwächere Schüler teilweise von der Situation profitieren, da sie in einer bekannten Umgebung und in Ruhe lernen können. Die Konzentration steigt, wenn keine 20 Mitschüler im Raum sind. Einigen Schülerinnen und Schülern fällt der Heimunterricht aber schwerer. Bewegungsdrang und Langeweile sind da stetige Begleiter der Kinder und erschweren ihnen das Lernen. 

Nicht alle Kinder akzeptieren ihre Eltern als Lehrer

Merken Sie Unterschiede bei Kindern aus bildungsferneren Familien? Treten soziale Ungleichheiten mehr zu Vorschein?

Eltern müssen zurzeit nicht nur Eltern, Begleiter, Betreuer sein, sondern auch die Rolle der Lehrperson einnehmen. Für bildungsferne Familien ist dies sehr schwierig. Das wäre dasselbe, wie wenn ein ausgebildeter Tischler plötzlich Elektriker sein müsste. Ich glaube in der Grundschule ist das Problem noch nicht so groß, das betrifft eher die Mittel- und Oberschule, auch wenn viele Schülerinnen und Schüler da schon autonomer sind. Trotzdem ist es eine große Herausforderung für die Eltern. Außerdem akzeptieren nicht alle Kinder ihre Eltern als Lehrer, sie sind es halt auch anders gewohnt.

Wie ist es bei Kindern mit Migrationshintergrund, wo Eltern zum Teil die Landessprache nicht ausreichend beherrschen? Stießen Sie hier auf Schwierigkeiten?

Teilweise ja. Der E-Mail-Verkehr funktioniert bei diesen Eltern meist nur schwer. Daher wird telefoniert. Ich persönlich telefoniere auch mit den Schülerinnen oder Schülern selbst, da diese meist die Sprache weitestgehend beherrschen. In diesen Fällen gilt es, mehr als sonst Verständnis zu zeigen. Die Eltern habe oft Angst, dass ihre Kinder nicht weiterkommen, im Herbst benachteiligt sind und den Anschluss verlieren. Wichtig im Moment ist der Wille. Der Wille zuhause zu arbeiten, sein Bestes zu geben und nicht aufzugeben. Die Schülerinnen und Schüler sind sehr schlau. Die Wiederholungsphase im Herbst wird sicherlich länger dauern als gewohnt, um verpasste Inhalte aufzuholen und sicherzustellen, dass alle Schülerinnen und Schüler dieselben Möglichkeiten erhalten, Lernstoff mit ausgebildeten Lehrpersonen nachzuarbeiten.

Bild
Profile picture for user △rtim post
△rtim post Sab, 05/02/2020 - 22:55

Wenn man Kommentare gegen Lehrer-innen liest oder: "Mütter zu Hause und bekommen dafür keinen Lohn", stimmt das traurig.
Elternschaft und die Liebe gegenüber den eigenen Kindern sind für die meisten noch glücklicherweise keine "Lohnarbeit".
In einer freien und demokratischen Gesellschaft ist primär auch nicht das Personal irgendeiner Direktion für die Erziehung und Bildung zuständig, wo man seine eigenen Kinder einfach abgibt.
Das dt. Grundgesetz meint: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."
Das ist auch in Italien ähnlich - Art. 30 der Verfassung: "E` dovere e diritto dei genitori mantenere, istruire ed educare i figli, ..."
Aber ich verstehe, dass in dieser Zeit sich manche ein Problem und die Nerven angespannt sind. Überfordert sind manche Lehrer-innen auch.

Sab, 05/02/2020 - 22:55 Collegamento permanente