Cultura | Salto Weekend

Lebensnotwendig wie der Tod

Kulturpolitische Überlegungen zum Vermögen der Kunst in Krisenzeiten. Ein Kulturelemente-Gastbeitrag von Julius Heinicke.
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Foto: Kulturelemente

Im Angesicht des Todes. Diese drastische Metaphorik bedrohlicher Endlichkeit menschlichen Seins geistert durch die Darstellungen von Medien und Politiker*innen der letzten Monate, um nicht nur die Gefahr des Coronavirus zu verdeutlichen, sondern ebenso die folgenschweren Einschnitte in das Leben der gegenwärtigen Gesellschaften zu begründen. Bewusst konkret wird dieses Angesicht des Todes in das persönliche Umfeld eines jeden hineingespiegelt. So zeichnete Angela Merkel in ihrer denkwürdigen Fernsehansprache das dunkle Szenario, dass möglicherweise am Ende der Krise jede und jeder Opfer des Virus in der Familie oder dem Bekanntenkreis zu beklagen habe. Die Lage war und ist ernst und es scheint, als könne nur das Angesicht des Todes, welches mit Bildern von Beatmungsgeräten und täglich aktualisierten Todeszahlen immer wieder präsentiert wird, die Menschheit zu vernünftigem Verhalten bewegen. Doch nicht nur dieser Respekt vor dem Tod erscheint in heutiger Zeit lebensnotwendig. Auch die Maßnahmen bis hin zum Stillstand des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens, die Quarantänebestimmungen und Abschottungen, die Masken und der Abstand verweisen auf eine tote Umgebung, auf das Anorganische vor und nach dem Leben, den Friedhof, darauf, dass am Ende jeder mit sich allein ist. Beklommenheit macht sich breit, weil die Angst vor dem Virus ansteigt, aber auch, weil der Alltag und das menschliche Leben auf ein Minimum zurückgefahren wurden. Errungenschaften der Zivilisation wie der Fußball, Einkäufe, Restaurantbesuche, Feiern, Unterricht, Konzerte und Urlaub waren von einem Moment zum anderen Geschichte, eine Situation, die der auf dem Sterbebett sehr ähnlich sein kann.
So verwundert es zunächst nicht, dass in den Tagen der Isolation ein ungeheures Potenzial an künstlerischer Kreativität freigesetzt wurde. Gemeinsames Singen von den Balkonen, Klavierkonzerte via Stream, Telefonanrufe von Schauspieler*innen die Texte vorlasen, Podcasts mit Gedichten und Geschichten. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde künstlerisch aktiv und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies als eine Gegenbewegung zum Virus gelesen werden kann, woraufhin die UNESCO „Resiliart“ ins Spiel gebracht hat, einen Begriff, der unter anderem auf das Resilienzvermögen der Künste und Kulturen gegenüber den Folgen des Virus hindeutet. Künstlerisches und kulturelles Schaffen ist vielleicht nicht systemrelevant wie Toilettenpapier und Tütensuppe, es kann die Menschheit auch nicht gegen das Virus immunisieren, doch – so scheint es – ist es lebensnotwenig, um mit der Krise umgehen zu können und diese zu überstehen. Das Gemeinschaftsstiftende der künstlerischen Darbietungen mag eine Rolle für diesen kreativen Aufschwung gespielt haben; die freie Zeit, mit der ein*e jede*r nun erst einmal umgehen musste und sich vielleicht so an das eigene kreative Potential erinnert fühlte, sicherlich auch. 
Ich glaube jedoch darüber hinaus, dass Kunst- und Kulturschaffen in Krisenzeiten lebensnotwendig ist, da es ein Vermögen birgt, dem Angesicht des Todes begegnen zu können. Kulturelle und künstlerische Praktiken haben sich in allen Kulturen, die mir bekannt sind, immer schon von den alltäglichen Techniken des Lebens abgesetzt, indem sie über das notwendige Befriedigen von Bedürfnissen und Lüsten hinausgingen. Rituale, Zeremonien und künstlerische Produktionen – seien es literarische Texte, Performances, Musik, Jahreszeitenrituale, Filme oder Games – bearbeiten Themen und Phantasien, welche optional und nicht zwingend erscheinen und dennoch notwendig zum Leben sind wie der Tod. Obwohl oder weil letzteres aus vielen Bereichen des Alltags verbannt ist – Sexualität, Arbeit und Freizeit konzentrieren sich bewusst auf das Lebendige –, spielen kulturelle und künstlerische Räume mit dem Wissen um den Tod: Auf der Bühne und in der Literatur wird viel gestorben, die Malerei hat unzählige Bilder vom Sterben und einem möglichen Danach hervorgebracht und auch in der Musik spielt der Tod eine große Rolle. 


Doch nicht nur diese konkreten Bezugnahmen erscheinen mir für den Umgang mit der Krise lebensnotwendig, schaffen sie doch Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von Angst, Trauer und Verlust. Darüber hinaus zeugt insbesondere künstlerisches Schaffen seit jeher von einer Fähigkeit, Wandel- und Transformationsprozesse zu initiieren und Phantasie- und Utopiewelten zu erfinden. Obgleich vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar, sind diese Techniken mit dem Tod verknüpft, oder anders ausgedrückt: Das Wissen um den Tod, um die Sterblichkeit, legt den Grundstein für das Vermögen, Kreativität und Phantasie zu entfalten und macht uns bewusst, dass Wandel und Transformation jederzeit möglich sind. Wie häufig beschreiben Menschen, die meinen, ihre Tage seien gezählt, was sie anders gemacht, wo sie sich gewandelt hätten. Siegmund Freud hat dem Todestrieb in seinem Werk „Jenseits des Lustprinzips“ vor genau hundert Jahren ein lebensnotwendiges psychologisches Vermögen zugesprochen, das sich in dem steten Versuch des Triebes ausdrückt, einen vergangenen anorganischen Zustand herzustellen, um die Endlichkeit des Seins zu umschiffen, da der Mensch sich nach dem Tod wieder ins Anorganische verwandelt. Für die künstlerische Kontextualisierung würde ich die Bedeutung des Todestriebs jedoch ein wenig anders konturieren, denn Freud ging es in erster Linie um das Begreifen psychologischer Phänomene, welche zudem zum Teil eng an die Diskurse seiner Lebenszeit und der Psychoanalyse angelehnt sind. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive setzen das Unwissen, was nach dem Tod passiert, und doch die gleichzeitige Gewissheit über die Endlichkeit, ein enormes kreatives Potential frei, das zuweilen wichtiger erscheint, als die Funktionen, die uns am Leben halten, weil letztlich diese den Tod nicht umgehen können, in der Kunst der Tod aber überlebt, verändert, reflektiert, erzählt und beschrieben und auch vielleicht erfahrbar werden kann, soweit es unsere Phantasie und unser künstlerisches Vermögen erlauben. Es ist also eher ein künstlerischer Trieb, der durch die Gewissheit des Todes in Gang gesetzt wird. Die auffallende künstlerische Produktivität der Gesellschaften in der Coronakrise verdeutlicht, dass viele Menschen der Unsicherheit, der Angst und dem Un- und Nichtwissen über den Ausgang der Pandemie, aber auch den Ein- und Beschränkungen insbesondere mit künstlerisch-kreativen Ausdrucksformen begegnen, weil diese es vermögen, mit dem Angesicht des Todes umgehen zu können.
Eine solche Erkenntnis führt zu entscheidenden kulturpolitischen Forderungen. Der Staat und die Gesellschaft müssen nicht nur dafür Sorge tragen, dass die Bevölkerungsgruppen medizinisch versorgt sind, ernährt und ausgebildet werden und möglichst unversehrt bleiben. Eine Krise solchen Ausmaßes benötigt neben diesen systemrelevanten weitere lebensnotwendige Maßnahmen. Räume und Möglichkeiten, Kunst zu erleben und zu erschaffen, sollten jedem Menschen in diesen Zeiten offenstehen. Gerade den vulnerablen und marginalisierten Gruppierungen, Menschen in Senior*inneneinrichtungen, mit Handicaps, Kranken, Einsamen und sozial Abgehängten ist der Zugang zu diesen Sphären verwehrt. Sie können ihre künstlerischen und kreativen Potenziale nicht ausschöpfen, weil die Unterstützung über das, was zum reinen Überleben aus Sicht des Systems notwendig erscheint, die sogenannte Grundsicherung, nicht hinaus geht. Doch gerade das Vermögen mittels Musik, Literatur, künstlerischen Phantasiewelten, Performance und gestaltender Kunst mit der unmittelbaren Bedrohung durch den Tod umgehen zu können und die Unsicherheit, aber auch Abschottung verarbeiten zu können, erscheint lebensnotwendig. Es wird zum einen darum gehen müssen, sicher zu stellen, einer viel größere Zahl an Menschen Kunsttechniken zu vermitteln und Formate der Kulturellen Bildung, der Theater-, Musik- und Kunstpädagogik flächendeckender anzubieten, auch in Zeiten der Isolation und Abschottung. Zum anderen müssen etablierte Kunst- und Kulturinstitutionen umdenken und eruieren, welchen Beitrag sie leisten können, dass Menschen, die beispielsweise ihre Einrichtung nicht verlassen können, die aufgrund von sozialen oder gesundheitlichen Barrieren nicht die Kunsträume erreichen, partizipieren können. Das ermöglicht ganz ungeahnte innovative Formate und bindet Menschen mit ein, für die in Krisenzeiten Kunst lebensnotwendig ist.

Salto in Zusammenarbeit mit Kulturelemente