Società | Recht

„Eine Ausnahmesituation“

Der Verfassungsrechtler Francesco Palermo über die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Südtiroler Corona-Verordnung und die Verbindung von Arbeitserlaubnis und Massentest
Francesco Palermo
Foto: Twitter/Council of Europe
Salto.bz: Herr Professor Palermo, nicht nur der Präsident der Handelskammer Michl Ebner geht davon aus, dass die neue Corona-Verordnung des Landehauptmannes in einigen Punkten verfassungswidrig ist. Haben die Kritiker Recht?
 
Francesco Palermo: Es ist eine Frage, die sehr komplex und nicht so leicht zu beantworten ist. Man muss davon ausgehen, dass wir uns derzeit in einer Art Notstandssituation befinden. In dieser Ausnahmesituation können wir als einzige Richtschnur die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hernehmen. Das Verfassungsgericht hat in ähnlichen Situationen – wir sprechen hier von Erdbeben, Naturkatastrophen aber auch von der heißen Zeit des Terrorismus in Italien – erklärt, dass das was unter normalen Bedingungen illegitim ist, in einer solchen Phase durchaus rechtens ist.
 
Das heißt Covid-19 rechtfertigt eine Art übergesetzlichen Notstand.
 
In der Theorie ja. In der Praxis hat aber der Verfassungsgerichtshof das letzte Wort. Es würde mich aber auf der Grundlage der Präzedenzfälle nicht überraschen, wenn das oberste Gericht selbst objektive Einschränkungen der Grundrechte als gerechtfertigt angesehen würde.
Das Verfassungsgericht hat in ähnlichen Situationen erklärt, dass das was unter normalen Bedingungen illegitim ist, in einer solchen Phase durchaus rechtens ist.
„In Privatwohnungen ist es verboten, neben den Mitbewohnern andere Personen zu empfangen, außer aus Arbeitsgründen oder in Situationen der Notwendigkeit.“, steht in der letzten  Corona-Verordnung des Landeshauptmannes. Die Privatsphäre in den eigenen vier Wänden und die Unversehrtheit der eigenen Wohnung ist aber die Verfassung geschützt?
 
In diesem konkreten Fall gehe ich davon aus, dass dieses Verbot kaum haltbar ist. Denn hier werden das Recht und die Freiheit des Einzelnen zu klar und zu extrem eingeschränkt. Aber das ist meine Meinung als Staatsbürger und als Verfassungsrechtler. Die Frage klären, kann aber nur das Verfassungsgericht. Dabei müssen wir aber daran denken, dass wir uns in einer Ausnahme und Notstandssituation befinden.
 
Ministerpräsident Giuseppe Conte hat dieselbe Bestimmung aber anders formuliert. „Con riguardo alle abitazioni private, è fortemente raccomandato di non ricevere persone diverse dai conviventi, salvo che per esigenze lavorative o situazioni di necessità e urgenza.“
 
Auch hier hat man Skandal geschrien. Durchaus zu Recht. Denn seit wann werden in Gesetzen oder Dekreten Empfehlungen (raccomandazioni) an die Bürger festgeschrieben? Auch hier ist die Optik etwas schief. Diese Diktion kann man aber so interpretieren, dass dem Gesetzgeber bewusst ist, dass er mit einem Verbot seine Kompetenzen überschreitet. Deshalb würde ich sagen, wird man die Südtiroler Verordnung korrigieren müssen.
Seit wann werden in Gesetzen oder Dekreten Empfehlungen (raccomandazioni) an die Bürger festgeschrieben?
Vor allem aber wird es kaum möglich sein, die Einhaltung dieser Bestimmung zu kontrollieren?
 
Das kommt dazu. Kann man ein Verbot nicht kontrollieren, wird es automatisch obsolet.
 
 
Aber auch zu dem für dieses Wochenende geplanten Südtirol weiten Massentestn gibt es verfassungsmäßige Bedenken. Der Bozner Anwalt Anton von Walther geht in einem Rechtsgutachten davon aus, dass die Koppelung der Arbeitserlaubnis an den Test nicht rechtens ist?
 
Auch das ist keine absolute Neuheit. Und diese Bestimmung ist keineswegs von vornherein verfassungswidrig. Es gibt unzählige Kategorien und Branchen, wo solche Tests seit Monaten obligatorisch sind. Zum Beispiel muss sich das Personal der Sanitätsbetriebe periodisch testen lassen. Oder nehmen wir die Profisportler, die wöchentlich einem Hals-Nasen-Abstrich unterzogen werden, um an Wettkämpfen teilnehmen und ihre Arbeit ausführen zu können. Vor diesem Hintergrund ist es also nicht von vornherein unrechtmäßig die Arbeitserlaubnis mit dem Testergebnis zu verbinden.
 
Man spricht in Südtirol aber von einem freiwilligen Test. Von Freiwilligkeit ist in diesem Fall aber nichts mehr zu sehen?
 
Damit sind wir bei der entscheidenden, rechtlichen Grundsatzfrage. Wenn der Massentest formal freiwillig bleibt, ist er es mit dieser Bestimmung im Wesentlichen nicht mehr. Damit wird das Ganze aber zu einer obligatorischen Gesundheitsbehandlung (Trattamento obligatorio sanitario –TSO). Diese kann aber laut Verfassung nur durch ein Gesetz verordnet werden. Hier sprechen wir aber von einer Verordnung. Formal steht das Ganze damit sicher auf wackeligen Beinen. Meiner Meinung nach hat ein Rekurs aus formalen Gründen deshalb weit größere Chancen angenommen zu werden, als eine Klage in der Sache.
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Pafeiler Matthias Mer, 11/18/2020 - 14:42

Leider ist das Konzept der Gewaltenteilung nicht sehr präsent in unserer Gesellschaft. Viel zu oft werden Exekutive und Legislative vermischt und verwechselt. Eine deutlichere Trennung der beiden, würde der Demokratie in unserem Land nur gut tun!

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