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Eine Facette der Ortlosigkeit 

Der Sammelband "Kafka in Meran" zeigt den Autor beim Versuch, alles um sich herum auszublenden.
Kafka Meran
Foto: edition raetia

War Kafka überhaupt in Meran? Vermutlich schon, sonst hätten sie dort kein Kafkajahr zum 100. Besuchsjubiläum ausgerichtet. Immerhin ein Drittel der Briefe an Milena ist aus dem Südtiroler Städtchen abgeschickt. Inhaltlich lässt kaum etwas auf Kafkas Anwesenheit dort schließen. Es hätte auch jedes andere Heilbad sein können. „Kennen Sie es?“, fragt Kafka im allerersten Schreiben die in Wien lebende Milena Jesenská. Mehr fällt ihm zu Meran nicht ein. An sich selbst gestellt hätte Kafka die Frage kaum positiv beantworten können, jedenfalls was den außerhalb des Balkons seiner Pension gelegenen Teil der Stadt betrifft. Im ganzen weiteren Verlauf der Meraner Korrespondenz fällt der Name Meran nur noch ein weiteres Mal.   

Das Wichtigste an Meran wird für Kafka das Postamt gewesen sein, dann folgte der Bahnhof mit der Möglichkeit zur jederzeitigen Flucht, schließlich eine Unterkunft, die seine Reisekasse nicht zu sehr belasten durfte.

Zur Verteidigung Merans muss gesagt werden, dass Orte (außer Berlin vielleicht) Kafka nie viel bedeutet haben. Prag mit seinem Gewimmel aus klaustrophob empfundenen engen Gassen musste er hinnehmen. Die Heim- und Arbeitsstätte zu lieben war ihm unmöglich, dafür ließ ihn sein „Mütterchen mit Krallen“ nicht mehr aus ihren Fängen. Selbst in Wien, großzügiger und urbaner angelegt als Prag, sah Kafka nur das „absterbende Riesendorf“, das keinem Vergleich zu Berlin standhielt.  Zwischen Prag und Wien lag Meran. Aus Prag kommend, rollte der Zug mit Kafka als Passagier am 3. April 1920 im Bahnhof ein. 86 Tage hielt es Kafka im Alpenvorland aus, bevor Jesenská ihn nach Wien lockte; für jemand, der seinen Geburtsort nur für Bäderkuren verlassen hatte (ein halbes Jahr in Berlin und ein weiteres dreiviertel auf dem Land bei der Schwester blieben die Ausnahme) eine ungewöhnlich lange Zeit! An Meran lag es nicht. 
Kafka suchte im Kurort Heilung, für den Geist und für den Körper. In letzterem hatte sich die Tuberkulose eingenistet, woran Kafka ein wenig auch seiner Psyche die Schuld gab, sah er doch in der „Lungenkrankheit nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit.“ Der Patient versuchte es mit vegetarischer Kost und guter Luft, reichlich Sonne und viel Bewegung. Die Kombination half, den Verlauf der Krankheit zu mildern. Noch mehr als alle physischen Mittel wirkte, als mentale Therapie, das Briefeschreiben an Jesenská.  
Das Wichtigste an Meran wird für Kafka das Postamt gewesen sein, dann folgte der Bahnhof mit der Möglichkeit zur jederzeitigen Flucht, schließlich eine Unterkunft, die seine Reisekasse nicht zu sehr belasten durfte. In dieser Hinsicht erwies sich das zuerst gewählte Grand Hotel als Fehlgriff. Einmal ganz entschlossen, korrigierte er ihn rasch und wählte mit der Pension Ottoburg eine preiswerte Alternative, die dem scheuen Kafka zudem eine gewisse Abgeschiedenheit vor den übrigen Gästen gestattete. Nur abseits von Prachtbauten und Promenaden und außerhalb der Salons und Speisesäle bestand überhaupt eine Möglichkeit der Annäherung zwischen dem mondänen Kurbad und ihrem enthaltsamsten Gast.


Die „geringe Aufmerksamkeit für seinen Aufenthaltsort bedeutete keine Missachtung“, konzediert der Germanist und Historiker Hans Heiss, sondern „bildete eine Facette der Ortlosigkeit, die auch sein Arbeiten bestimmten, da seine Erzählungen und Romane reale Orte oder Gegenden kaum je erwähnten.“ Heiss‘ Aufsatz ist Teil einer Sammlung, die sich unter dem Titel Kafka in Meran mit dem knapp dreimonatigen Intermezzo des Autors in der Kurstadt befasst. Aufschlussreicher als das, was in seinen Briefen steht, scheint bei Kafka häufig das Weggelassene. Der  Untertitel des Bandes, Kultur und Politik um 1920, hat daher durchaus seine Berechtigung, trotz Kafkas hartnäckigem Schweigen hinsichtlich dieser Themen. 
Gelegenheiten, sich zu öffentlichen Anlässen zu äußern, boten sich selbst im betulichen Meran reichlich. Gleich der erste Tag seines Eintreffens lieferte Kafka ein zumindest ein paar Zeilen der Erwähnung würdiges Spektakel. Möglich, dass er es wegen der fortgeschrittenen Ankunftzeit, verbunden mit reisebedingter Müdigkeit, nicht sogleich registrierte; möglich auch, dass er in einem gerade erst aufgenommenen, eher amourös als weltanschaulich inspirierten Briefkontakt die Politik zunächst außen vor lassen wollte: Die Einweihung des Hoferdenkmals in einem Park in unmittelbarer Bahnhofsnähe wird einem derart aufmerksamen Beobachter schwerlich entgangen sein. Und selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, hätte Kafka im weiteren Verlauf seines Aufenthalts der Tiroler Freiheitsheld noch öfter begegnen müssen. 
Am 9. Mai etwa: An diesem Tag hielten die deutschstämmigen Südtiroler auf demselben zentralen Platz eine Autonomiekundgebung ab, zu der mit 15 000 exakt so viele Demonstranten erschienen, wie Meran Einwohner hatte. Kafka erwähnt sie mit keinem Wort. Dabei war er sogar unter den Teilnehmern, wie Reiner Stach vermutet. Der Verfasser mehrerer Kafkabiographien legt in seinem Beitrag eine Fotografie der Kundgebung vor, dessen Vergrößerung einen schlanken Herrn im hellen Sommeranzug zeigt. „Auch wenn die letzte Gewissheit fehlt“, räumt Stach ein, „lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen: Er ist es.“ Pech für Stach, dass die Kopfbedeckung des Infragekommenden zwei entlarvende Beweisstücke verbirgt. Tief in die Stirn gezogen lässt der Hut kein Urteil zu, ob darunter kafkaeske Ohren stecken oder nicht. 

Sobald Kafka sich als Jude zu erkennen gab, verließ die Gesellschaft demonstrativ den Speisesaal.   

Das „Ereignis muss er wahrgenommen haben, entweder direkt oder in der ausgiebig hierzu berichtenden Presse“, meint auch der Historiker Hannes Obermair. Sein Aufsatz beleuchtet den Zwiespalt der mehrheitlich deutschen Bevölkerung Merans zwischen staatlicher Loyalität (wie sie die Südtiroler Sozialdemokraten verfolgten) und der Orientierung an der ein halbes Jahr vor Kafkas Ankunft etablierten Republik Österreich. Ein ähnlicher Interessenskonflikt begann zu jener Zeit die deutsche Minderheit in Kafkas Heimat, immerhin die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe noch vor den Slowaken, zu spalten. Während die Sozialdemokratie und die Deutsche Demokratische Freiheitspartei – deren Mitbegründer Bruno Kafka ein Cousin des Schriftstellers war und in deren der Partei nahestehenden Zeitung Bohemia Kafka bereits über einen vorangegangenen Italienaufenthalt publiziert hatte – eine aktivistische, den tschechoslowakischen Staat unterstützende Haltung an den Tag legte und sich um den Einzug in die Parlamente bemühte, verweigerten genau dies die negativistischen sudetendeutschen Konservativen und Nationalisten.
In den Meraner Briefen ist von Separatismus und Assimilierung, Deutschtümelei und Völkerverbindung nie die Rede. Anders als viele seiner deutschstämmigen Landsleute hatte Kafka keine Probleme, sich den neuen politischen Verhältnissen anzupassen. Er sprach ein ausgezeichnetes Tschechisch und überstand bei der Arbeiterunfallversicherung, wo er angestellt war, anders als seine auschließlich Deutsch sprechenden Vorgesetzten nicht nur mühelos das Stühlerücken, nachdem die Anstalt in tschechische Hand übergegangen war, sondern rückte rasch in der Hierarchie vor. 
Probleme bereitete Kafka dagegen sein Judentum. Der wachsende Antisemitimismus  jener Zeit war auch in Meran präsent. Er setzte Kafka so zu, dass er die Auswüchse nicht länger verschweigen konnte und sich in seiner Korrespondenz seitenlang darüber ausließ. Neben Jesenská berichtete er den Vorfall auch den Journalistenfreunden Max Brod und Felix Weltsch. Kafkas Pragerdeutsch war den Gästen der Pension Ottoburg aufgefallen. Zu Tisch erkundigte man sich zunächst freundlich nach der Herkunft, doch prompt schlug die Neugier in Abneigung um. Sobald Kafka sich als Jude zu erkennen gab, verließ die Gesellschaft demonstrativ den Speisesaal.   
Es ist ein Verdienst des Sammelbands, die verhängnisvollen politischen Entwicklungen zu Beginn der 1920er Jahre, die in faschistischen Regierungen beinahe überall in Europa, einem Weltkrieg und der industriellen Vernichtung der Juden eskalieren sollten, im Mikrokosmos des scheinbar beschaulichen Meran herauszuarbeiten und in einen größeren Kontext zu stellen. So entsteht insgesamt der Eindruck, dass selbst ein Kosmopolit wie Kafka, der die Ortlosigkeit zu seinem Prinzip gemacht hatte, Auswüchsen wie Nationalismus und Antisemitismus nicht entgehen konnte.

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△rtim post Dom, 12/20/2020 - 12:30

Wer beginnt, sich mit Literatur(en) zu befassen, lernt bereits in seiner Schulzeit, Autor und Texte vor eilfertigen, eigenen und anderen Zuschreibung in Schutz zu nehmen. Das gilt auch für Kafka mit seiner Literatur und Topographie. Denn solche Vereinnahmungen, Zuschreibungen .. sind meist falsch oder irrelevant. Die Aussage, Kafkas Werk sei durch "Facetten der Ortlosigkeit" gekennzeichnet, nur weil er das italienisch besetzte Meran in Tirol im Jahr 1920 als Tourismusort offensichtlich nicht ausreichend gewürdigt habe, ist für Kultur- und Literaturforscher, aber auch für Kafka-Leser und Kenner nicht unbedingt zwingend. Nicht alle sind Touristenführer, Fernsehjournalisten oder sonstige Vermarkter.
Ich kann an dieser Stelle nur die Werke Kafkas selbst und u.a. Reiner Stachs Biografie über Franz Kafka empfehlen.

Dom, 12/20/2020 - 12:30 Collegamento permanente