Books | Salto Afternoon

So viele Fragen. So wenige Antworten.  

Bob Dylan, die ewige Sphinx, wird 80.
Titelbild
Foto: Wikipedia

Ein Mann schreibt einen Roman, zerreißt ihn, bekommt trotzdem Geld, klebt alles wieder zusammen, behält das Geld, veröffentlicht den Roman, kriegt irgendwann sogar den Nobelpreis. So ließe sich Bob Dylans literarische Karriere zusammfassen, stünden einem nur 25 Wörter zur Verfügung. Wozu braucht es mehr? Die Zusammenfassung ist, mein Wort drauf, besser als der Roman.
Was, Sie glauben mir nicht? Dann lesen Sie doch mal Tarantula! Am Ende (falls Sie wider Erwarten so lange durchhalten) werden Sie mit mir übereinstimmen. Schließlich hat Dylan den Literaturnobelpreis nicht für seine schriftlichen Bemühungen erhalten,  sondern für sein songtextliches und musikalisches Genie. Solches ist durchaus vorhanden.

Oh, the streets of Rome are filled with rubble
Ancient footprints are everywhere.
You could almost think that you're seeing double
On the cold, dark night on the Spanish Stairs.

So beginnt ein Lied Dylans über eine Reise, die ihn von Italiens in Europas Hauptstadt führt und bizarr endet. Versuchen wir mal eine Übersetzung: 

Die Straßen Roms sind voller Trümmer,
 antike Fußstapfen überall, 
es kommt dir vor, du siehst alles doppelt, 
in einer kaltdunklen Nacht vor dem … Quirinal.  
 

War jetzt mal eben so dahergereimt. So hört es sich bei Dylan übrigens immer an, nur besser. Vermutlich hätte er den Paarlaut am Zeilenende auch auf Deutsch und ohne geografischen Kunstgriff hingekriegt (der Quirinal ist gleich hinter der Treppe, habe ich mir sagen lassen, man muss nur hochschauen). Dylan scheint zu improvisieren, nie sieht man den Texten die Mühe an, die dahintersteckt. Oder ist Dylan wirklich so spontan? Dann wäre er einer der ersten Slampoets überhaupt gewesen. Womöglich war er das auch. 
In Brüssel endet das oben zitierte When I paint my masterpiece. Wohl auf der Grand Place promenierend und hie und da einkehrend, sieht er junge Mädchen Muscheln pulen, sieht Dienstboten in Uniform, freut sich, dass jede und jeder ihn grüßt, und sieht plötzlich, wie ein großes Polizeiaufgebot anrückt und zuvor friedlich Süßigkeiten verzehrende Zeitungsverkäufer in den Schwitzkasten nehmen. Erkläre jemand wie Dylan Belgien! Er versteht ja nicht einmal Amerika. Und bindet nichts drumherum. Zu unser aller Vergnügen, denn diesem Nichtverstehen verleiht er in seinen Texten sehr variabel Ausdruck, oder? 
Nehmen wir mal den Subterranean Homesick Blues: Das Stück ist ein Rap, atemlos in exakt zwei Minuten  heruntergebetet, ohne die Vorsilbe Gangsta und doch höchst subversiv, indem alles in Frage gestellt und nichts beantwortet wird. Darin heißt es: 

Users, cheaters
Six-time losers
Hang around the theatres
Girl by the whirlpool
Lookin' for a new fool
Don't follow leaders
Watch the parkin' meters

Dylan scheint einen hier zu warnen, vor Ausnutzern, Betrügern und ewigen Verlieren, die abseits der Bühnen lungern, vor dem Mädchen am Pool, das nach einem neuen Bezahltrottel Ausschau hält, vor allem aber davor, irgendwelchen Führern zu folgen. Und dann die letzte Zeile, die alles wieder verwirft: Leute, achtet auf Eure Parkuhren! Ja, sind wir denn in Bozen? Nein, in London! Ein frühes Musikvideo, wirklich eines der ersten überhaupt, zeigt Dylan, den Subterranean Homesick Blues rezitierend, mit einem Stapel von Papptafeln auf dem Arm, die er einzeln von sich wirft, sobald er das auf der Pappe stehende Schlagwort im Text gesungen hat. Im Hintergrund ist mal eine Dachterrasse, mal ein Baugerüst, mal ein Londoner Park zu sehen. Auf der letzten Tafel steht „What?!“ Dann geht Dylan aus dem Bild. Alles klar? Warum auch!

Und wer kein Moos ansetzt, ist niemals altmodisch, sondern kreativ und wartet öfter mal mit frischen Ideen auf.

Über Dylan ließe sich vieles schreiben. Mögen andere das tun!  Manche haben es schon getan. Die meisten Bücher über Dylan wetteifern mit Tarantula um den Platz in der nächsten Mülltonne. Es gibt zum Glück Ausnahmen.
Greil Marcus etwa: Bob Dylans 'Like a Rolling Stone'. Die Biografie eines Songs (Verlag Kiepenheuer & Witsch), lautet der Titel des Buchs, das sich auf 300 nie langweilig werdenden Seiten monothematisch, aber nicht monoton mit nur einem Lied befasst. Ein Rolling Stone ist ein Wandervogel, ein unruhiger Geselle, jemand, der es nie lange irgendwo aushält. Das ist durchaus wertfrei gemeint. "A rolling stone", besagt ein englisches Sprichwort, "gathers no moss." Und wer kein Moos ansetzt, ist niemals altmodisch, sondern kreativ und wartet öfter mal mit frischen Ideen auf. Mit Rolling Stone kann aber auch ein Obdachloser gemeint sein, und so sah es auch Dylan. Marcus‘ kongeniales Buch erzählt die Entstehungsgeschichte des Songs, geht auf die vielen Anspielungen im Lied ein und befasst sich mit den zahlreichen Coverversionen. Und erwähnt natürlich auch den 9. November 1967: An diesem Tag gründeten die Journalisten Jann Wenner und Ralph Gleason in San Francisco ein Musikmagazin, das sie nach Dylans Erfolgssong Rolling Stone tauften und heute eine Leserschaft von anderthalb Millionen aufweist. Als Reverenz wählten die Redakteure das namengebende Stück zum besten Rocktitel aller Zeiten. 

Like a Rolling Stone ist das Titelstück von – wie nicht wenige meinen – Dylans bestem Album. Dessen Geschichte erzählt Mark Polizzotti packend, gründlich recherchiert und mit einem profunden Blick hinter die Kulissen ausgestattet. In seinem gleichnamigen Buch Highway 61 Revisited (die deutsche Version erschien in der Edition Tiamat) schildert der Autor, wie Dylan in der Vorbereitung nichts dem Zufall überließ, minutiös die geeigneten Musiker auswählte, alles perfekt plante und dann doch neun kostbare Studiotage verschwendete, bis der erste Song auf Band war: Desolation Row. Für die übrigen acht Stücke brauchte das endlich eingespielte Ensemble nur noch jeweils einen Tag. Alles in allem höchst professionell: Das Studio war zuvor für zweieinhalb Wochen gemietet worden, Verlängerung ausgeschlossen. 

Eine letzte Empfehlung: Heinrich Deterings als Reclam-Taschenbuch erschienene Biografie kostet gerade mal 4 Euro 80. Sie ist kritisch, kenntnisreich, kunstvoll formuliert; in einem Wort: lesenswert. Schon der erste Halbsatz trifft ins Schwarze: "'Bob Dylan': das ist der Name einer Kunstfigur.“ Anschließend zitiert der Autor den schwer zu Begreifenden oder gar Fassenden mit den Worten: "I'm Bob Dylan only if I have to", um sich im weiteren Verlauf bisweilen zweifelnd, oft zustimmend, stets elegant mit der daraus resultierende Frage "Wer aber ist er, wenn er nicht Bob Dylan ist?" auseinanderzusetzen. Das kann nur jemand, der bei aller Sympathie zum Sänger stets die journalistisch notwendige Distanz einhält – was die meisten Kollegen nicht tun – ohne sich in den Ansprüchen zu versteigen. 

Am 24. Mai wird Dylan 80. Was bleibt? Vor allem Fragen. So viele Fragen, da geht es mir wie Brechts lesendem Arbeiter. Bei Dylan frage ich mich beispielsweise, was ihn anno 2007, mit 66 Jahren, bewegt hat, für die "New Angels Collection" auf der Webseite der New Yorker Unterwäsche-Firma Victoria's Secret zu posieren. Nun ja, nicht auf jede Frage gibt es eine Antwort. (Das Video, in Venedig gedreht, ist leider vom Netz. Ich kann nur mit diesem Beitrag des geschätzten Willi Winkler dienen.
"Dass deine Hände immer etwas zu tun haben, deine Füße immer flink sind, du immer fest verankert bist, wenn der Wind sich wieder dreht, dass dein Herz froh ist und deine Lieder stets gesungen werden, dass Du für immer jung bleibst", wünscht Dylan einer unbekannten Bezugsperson auf der gemeinsam mit The Band aufgenommenen Langspielplatte Planet Waves. Forever Young heißt das Stück. So zu bleiben wünsche ich (aus Dylans Sicht) unbekannter Fan auch His Bobness zum Geburtstag. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Möge er der Versuchung widerstehen, im Alter noch einmal einen Roman zu schreiben!