Giuseppe Ungaretti
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Cultura | Vorausgespuckt

Die Stimme der Poesie

Auch in einer Schule, in der keine literarischen Fächer unterrichtet werden, sollte es die Freiheit geben, Gedichte zu lesen.

Ich lese sehr selten Gedichte im Unterricht. Ich habe den Vorteil, wenn ich so ironisch sagen darf, dass die Lehrpläne, die ich befolgen muss, dies nicht vorsehen. Keine Poesie, keine Literatur. Die Sprache, die ich unterrichte, hat nur eine Aufgabe: Sie ist ein Instrument. Mehr nicht. Doch Sprache ist nicht nur ein Instrument, Sprache ist vielmehr ein lebendiger Körper, und sie bietet uns immer einen Kampf, einen Nahkampf, um es besser zu sagen, wenn wir sie benutzen. Aber der Nahkampf, den eine Sprache mit uns führt (und den wir mit ihr führen), ist nur einer von vielen möglichen Nahkämpfen. Auch wenn es seltsam erscheinen mag, eine Sprache befindet sich immer in einem Kampf mit anderen Sprachen, denn jede von ihnen teilt mit den anderen den offenen Raum des Sagbaren, jenes Sagbaren, das jede Sprache trägt, sie entstehen lässt und auch das Vorhandensein anderer Arten des Sagens und damit anderer Sprachen vorwegnimmt. Im Falle der Poesie könnte man den Nahkampf zwischen uns und der Sprache und den zwischen den Sprachen auch als Liebe bezeichnen.

Das Einzige, was ich wollte, war, dass sie sich für ein paar Minuten der Wirkung dieses Gedichts, seiner Stimme aussetzten

Vor ein paar Tagen habe ich also im Unterricht ein Gedicht gelesen und es damit von allen Aufgaben befreit, die ihm im Rahmen eines institutionellen Lehrplans zugewiesen werden könnten. Die SchülerInnen sollten nur zuhören, möglichst verstehen, aber keine Notizen machen, keine Fragen erwarten und nicht befürchten, dass das Gedicht zu Übungen führt. Das Einzige, was ich wollte, war, dass sie sich für ein paar Minuten der Wirkung dieses Gedichts, seiner Stimme aussetzten. Ich wollte die Stimme des Gedichts innerhalb des exklusiven Rahmens der Lesung zum Klingen bringen. Eigentlich sollte man nicht viel mehr als das erwarten. Oder doch? Denn das allein könnte nicht nur ein paar Minuten oder gar ein paar Stunden, sondern ein ganzes Schuljahr, ein ganzes Leben mit Sinn füllen.

Das Gedicht, das ich ausgewählt habe, ist "In memoria" von Giuseppe Ungaretti. Sie können die Originalversion leicht im Internet finden. Hier biete ich es Ihnen in der deutschen Übersetzung von Ingeborg Bachmann an. Machen Sie damit, was Sie wollen.

 

Er hieß
Mohammed Sheab

Abkömmling
von Emiren von Nomaden
Er beging Selbstmord
weil er kein Land
mehr hatte
Er liebte Frankreich
und änderte seinen Namen

Wurde Marcel
war aber nicht Franzose
und konnte nicht mehr
leben
im Zelt der Seinen
wo man dem Singsang
des Korans lauscht
einen Kaffee nippend

Und wußte nicht
anzustimmen
den Gesang
seiner Verlassenheit

Ich habe ihm das Geleit gegeben
zusammen mit der Besitzerin des Hotels
in dem wir wohnten
in Paris
Nummer 5 rue des Carmes
schäbiges steiles Gäßchen

Er ruht
auf dem Friedhof von Ivry
Vorstadt die immer
erscheint wie am Tag
eines aufgelösten Jahrmarkts

Und ich allein
weiß vielleicht noch
daß er lebte.