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„Tiefer Fall führt oft zu hohem Glück“

Sebastian Glassner von der Uni Passau analysiert das Brexit-Drehbuch und erklärt, warum der Austritt keine überraschende Pointe, sondern eine absehbare Entwicklung war.
Brexit
Foto: Pixabay

Was bisher geschah...

Es ist das Jahr 2013. Der damalige britische Premierminister David Cameron kündigt ein Referendum an, indem die Bürger entscheiden sollen: Bleiben wir bei der EU oder wollen wir uns von ihr trennen? Es folgen Jahre der Debatten, das Land spaltet sich in zwei Lager. Im Juni 2016 entscheiden die Briten sich, die EU zu verlassen. Das Drama nimmt seinen Lauf. David Cameron tritt zurück, Führer der Brexit-Kampagne Nigel Farage ebenso. Die Finanzmärkte sind verunsichert, Unternehmen ziehen ihren Standort aus Großbritannien zurück, viele EU-Bürger haben einen ungewissen Aufenthaltsstatus. Die neue Premierministerin Theresa May steht vor einem großen Fragezeichen, denn einen Plan, wie es weiter geht, gibt es keinen. Bei vorzeitigen Neuwahlen verliert May die absolute Mehrheit, ihre Regierung ist von nun an auf eine Koalition mit der DUP, Partei nordirischer Protestanten, angewiesen. Ein weiterer Schlag für May: Nach der Entscheidung des höchsten Gerichts des Landes, ist die Regierung in der Brexit-Gestaltung auch auf das Parlament angewiesen.
Die Verhandlungen mit er EU beginnen im Jahr darauf. Sie sind lange und zäh, erst in letzter Minute einigen sich die Parteien auf ein als unkonkret kritisiertes Abkommen. Die Grenzfrage in Nordirland ist weiterhin unklar, eine Einigung diesbezüglich aber unabdingbar für die DUP. Der Außenminister und EU-Minister Großbritanniens treten im Laufe des Jahres zurück. Das britische Parlament stimmt im Januar 2019 gegen den Vertrag, den May mit der EU so lange verhandelt hatte. Etliche Abgeordnete sowohl der Konservativen, als auch der Sozialdemokraten treten zurück.  Die Angst vor einem Brexit ohne Abkommen mit der EU wird größer, die Hoffnung auf ein zweites Referendum ebenso. May reist nochmal auf das Festland einige Vorschläge mit der EU nach zu verhandeln. Es reicht aber alles nichts, am 12. Mai stimmen die Abgeordneten erneut gegen das Abkommen. May lässt das Parlament für einen Austritt ohne Abkommen abstimmen, das Ergebnis zeigt: Das wollen die Abgeordneten auch nicht. Letzter Stand: May will das offizielle Austrittsdatum vom 29. März verschieben lassen, worauf die Parteien sich einigen können und dafür stimmen. Jetzt bleibt abzuwarten, ob die EU zustimmt. Länger als einen Monat wird der Verzug allerdings nicht andauern, denn im Mai stehen EU Parlamentswahlen an, bis dahin muss es eine Lösung geben. Wie die aussehen wird, weiß keiner.
Den Spannungsbogen dieser politischen Entwicklung kann wohl kaum eine Fernsehserie übertreffen. Leider ähnelt die Post-Brexit Entwicklung tatsächlich mehr dem Drehbuch einer Dramaserie als guter Politik. Um sich einen Reim aus den komplexen Handlungssträngen und Episodenzusammenhängen der Brexit-Serie zu machen, war Salto.bz im Gespräch mit Sebastian Glassner. Er ist wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Internationale Politik der Universität Passau in Deutschland und forscht seit einigen Jahren zur britischen Außenpolitik. Im Interview analysiert er das Brexit-Drehbuch und erklärt, warum der Austritt keine überraschende Pointe, sondern eine absehbare Entwicklung in der Britisch-Europäischen Beziehung war.

 

Salto.bz: Herr Glassner, die Briten galten in der EU schon immer als awkward partner, also ein unangenehmer, seltsamer Partner. Inwiefern?

Sebastian Glassner: Angeblich schleuderte Magret Thatcher (ehem. britische Premierministerin Anm.d.Red)  beim EU-Gipfel in Fontainebleau 1984 ihre Handtasche auf den Tisch und forderte: „I want my money back!“ Damals handelte die Eiserne Lady den sogenannten Britenrabatt aus, weshalb Großbritannien noch heute etwa zwei Drittel seiner Nettoeinzahlungen erstattet bekommt. Zwar war ein legitimer Grund dafür, dass die Briten von der gemeinsamen Agrarpolitik der EU kaum profitierten, dennoch haftet dem Vereinten Königreich seither die Rolle des ‚awkward partner‘ an.

Auch die britischen Rechtspopulisten jonglieren gern mit Identitäten, betonen die britishness und die nationale Überlegenheit – eine Gefahr für die zukünftige Außenpolitik Großbritanniens.

In Ihrer Forschung gehen Sie darauf ein, wie die Identität eines Landes sich auf politische Entscheidungen auswirkt. Können Sie das kurz erklären?

Diese theoretische Annahme geht auf die PAFE-Forschungsgruppe zurück und lässt sich folgendermaßen beschreiben: Die Identität ist etwas Vielseitiges und auch relativ stabil. So haben sich in Großbritannien im Laufe der Geschichte bestimmte Identitätselemente entwickelt.
Zum Beispiel sehen sich die Briten als Empire, also internationale Großmacht. Ein weiterer Identitätsbaustein ist der Stolz auf die eigenen demokratischen Strukturen, die sich anders wie in Frankreich nicht durch blutige Revolutionen durchgesetzt haben, sondern Produkt eines langwierigen und größtenteils friedlichen Prozesses sind, der bereits 1215 begann.
Diese Identitätselemente lassen sich nun auch im politischen Diskurs und in den Argumentationen der Politiker wiederfinden. In diesem Diskurs wird nun festgelegt, was möglich ist und was nicht. Also wirkt die Identität, die im Diskurs immer neu belebt wird, quasi als Rahmen für den politischen Handlungsspielraum. Kurz gesagt: Großbritanniens Außenpolitik wird durch seine nationale Identität abgedeckt.
 

Was war in der Großbritannischen Identität zur Zeit des EU-Beitritts anders als heute? Und wie hat sich dadurch die Einstellung gegenüber der EU verändert?

Zur Zeit des Beitritts herrschte ein weitestgehender Konsens, dass Großbritannien von der EU insbesondere wirtschaftlich profitieren würde. Hier bezog man sich vor allem auf die liberale Identität, die sich in einer Gewinn-Verlust-Argumentation niederschlägt. Der Beitritt ist ein Gewinn für Großbritannien – so war die einhellige Meinung. Eine echte proeuropäische Identität gab es damals wie heute nicht.
Was sich also verändert hat ist die Gewinn-Verlust-Rechnung. In der Brexit-Kampagne wurde die EU als Verlustgeschäft für Großbritannien dargestellt. Damit wurde der EU-Mitgliedschaft ihre einzige identitäre Begründung entzogen. Außerdem spielten die Brexit-Befürworter noch mit anderen Identitätselementen:
  • Die EU bedeutet Fremdherrschaft und zerstört unsere britische Demokratiekultur!
  • Wir Briten sind ja immerhin eine Großmacht und nicht auf die EU angewiesen!
  • Wir sind eine Insel und waren ja quasi noch nie wirklich Teil Europas!
… das Empire lässt grüßen.

Dem Vereinten Königreich haftet seit 1984 die Rolle des ‚awkward partner‘ an.

Die Briten standen von Anfang an nie hundertprozentig zur EU. Dennoch schien die Brexit Entscheidung ein extremer Bruch. Sie argumentieren aber, dass dies kein Bruch war, sondern ein längst fälliger Ausdruck einer Entwicklung, die sich bereits in den 90er Jahren abzeichnete? Inwiefern? Und was war ausschlaggebend dafür, dass diese nun zum Ausdruck kam?

Exakt. Die vorhin angesprochene Gewinn-und-Verlustrechnung hatte sich bereits ab den 90er Jahren verändert. Aus dem europäischen Wechselkursmechanismus trat Großbritannien aus und später wurde die Währungsunion abgelehnt – warum? Schlecht für das britische Pfund. Auch wurde Großbritannien nicht Mitglied des europäischen Schengenraums und aus dem Vertrag von Lissabon 2009 haben sich die Briten einige Ausnahmeregelungen erstritten. Großbritannien war also von den zunehmenden Integrationsschritten der EU nur wenig begeistert. Jeder dieser Schritte verminderte ihre Gewinnaussicht und stellte eine Nebenrechnung auf: Wäre der Profit größer außerhalb der EU? Die Eurokrise von 2010 bestätigte die britischen Skeptiker noch. Es war ein schleichender Weg zum Brexit. Für jeden Schritt, den die übrigen Mitgliedsstaaten aufeinander zugingen, entfernte sich Großbritannien ein Stück mehr von der Gemeinschaft.

Eine echte proeuropäische Identität gab es in Großbritannien damals wie heute nicht.

David Cameron rief ein Referendum aus, obwohl er selbst für den Verbleib Großbritanniens in der EU war. Die Bevölkerung war aber dagegen. Wie steht hier die politische Elite im Verhältnis zur Bevölkerung. Ist die Einstellung der Ersteren oder der Zweiteren ausschlaggebend? Warum schaffte Cameron es nicht, von seiner Sicht zu überzeugen?

Die zuvor erwähnten Ausnahmeregelungen bezeichnet man auch als Opt-Outs. Diese sind ein Indiz dafür, dass auch Teile der politischen Elite Großbritanniens bereits seit Beginn der 90er Jahre nicht mehr gänzlich von den Vorteilen der EU überzeugt waren. Diese Elite, deren EU-Politik jahrzehntelang die reine EU-Skepsis verkörperte, schwärmt ihrer Bevölkerung nun von den vermeintlichen Vorteilen einer EU-Mitgliedschaft vor: Ein wenig paradox, finden Sie nicht auch? Die etablierte Elite macht sich unglaubwürdig und die Bevölkerung verliert das Vertrauen in Politik und Institutionen. Der Perfekte Nährboden für das populistische Gespenst…

Welche Rolle spielte der erstarkende Rechtspopulismus in der Brexit-Entscheidung?

Bevor wir diese Frage klären, sollten wir zunächst begreifen, worum es sich beim Populismus allgemein handelt. Populisten wirken in drei Richtungen: Sie stellen sich gegen Institutionen, Eliten und Pluralismus. Damit ist Populismus der absolute Gegenpol der EU, die zu seinem natürlichen Feindbild wird und zur Zielscheibe der in Europa erstarkenden Rechtspopulisten.
Auch Großbritannien ist dieser Entwicklung nicht gefeit und die britische Elite – durch ihr paradoxes Handeln – tut ihr Übriges, um die britischen Rechtspopulisten zu stärken. Dabei ist es wissenschaftlich erwiesen, dass die Zunahme rechtspopulistischer Positionen in der Bevölkerung, einen negativen Einfluss auf das allgemeine EU-Vertrauen haben. Ergo beeinflusste die zunehmende rechtspopulistische Rhetorik und deren Resonanz in der Bevölkerung die Brexit-Entscheidung nachweislich.
Außerdem jonglieren auch die britischen Rechtspopulisten gern mit Identitäten, betonen die britishness und die nationale Überlegenheit und beleben dadurch alte, nationalistische Identitätselemente wieder neu. Eine Gefahr für die zukünftige Außenpolitik Großbritanniens – auch über den Brexit hinaus.
Kommt der Hochmut der Briten also vor dem Fall? Darauf würde Shakespeare wohl erwidern: „Ein tiefer Fall führt oft zu hohem Glück!“ Ach, dieser britische Humor… ich werde ihn vermissen.
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Peter Gasser Sa., 19.10.2019 - 22:53

wie Erdogan Putin Bolsonaro Trump... und einst auch Hitler, Stalin, Mao PolPot... alle taten und tun immer nur was die Mehrheit will und alles nur zum Wohle des Volkes.
Amen.

Sa., 19.10.2019 - 22:53 Permalink
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19 amet So., 20.10.2019 - 18:21

Man kann nicht eine unverbindlche Wahl, bei der ein paar mickrige Prozent mehr für den Austritt gestimmt haben als Willen des Volkes bezeichnen. Die geniale May hat eine Wahl provoziert bei der sie die Mehrheit im Parlament verloren hat. Ja, sowas Dummes gibt es.Und also auch keine Mehrheit desVolkes mehr für die Lügner der Brexit Tories. Nach ihren vielen Niederlagen hat sie sich aus dem Staub gemacht und wurde mit dem Gaukler Johnson ersetzt. Auch dieser hat jede Abstimmung ( acht bis jetzt) im Parlament verloren. Er hat schon den Übernahmen "the looser" (der Verliererer). Und hat jetzt mit einem alten Hut (Grenze in der irischen See) wieder ein Abkommen versucht obwohl das gleiche schon von May vorgeschlagen wurde, und von ihm und seinen Kumpanen enrüstet abgelehnt wurde. Ein PM der regelmässig im Parlament auf dem Bauch landet, sollte gehen und zwar sofort. Und die Volksbefragung sollte mit einer qualifizierten Mehrheit wiederholt werden, wobei die Lügen des Johnson diesmal wohl nicht mehr helfen werden.

So., 20.10.2019 - 18:21 Permalink