Kultur | Salto Weekend

Lockout in der Festung

Die von Heinrich Schwazer kuratierte Ausstellung "Lockout" schloss die Festungs-Tore unmittelbar vor der Ausgangsperre zur "2. Welle". Ein Rückblick (in die Gegenwart)?
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Foto: Alfred Tschager

31. Dezember 2019. China benachrichtigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über eine mysteriöse Lungenkrankheit, die in der Provinz Hubei aufgetreten war. Die Ursache: Ein neues Coronavirus, SARS-CoV-2.  Hauptsymptome der Krankheit Covid-19 sind Fieber, trockener Husten und Atemnot. Wenig später zeigt sich, dass das Virus sich exponentiell in einer explosionsartigen Dynamik ausbreiten kann: Jeder Erkrankte steckt mehrere Menschen an, die ihrerseits weitere anstecken werden, und so fort. 

Unwillkürlich werden wir an Seuchen erinnert, die den Menschen immer wieder auf den Leib rückten. Im 20. Jahrhundert zog die „Spanische Grippe“ durch die Welt, wüteten Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und AIDS,  Ebola, SARS, Vogel- oder Schweinegrippe schürten Ängste und rufen ein Szenario wach, das mit dem Schwarzen Tod und der Pest des Mittelalters verglichen wird.

Europa und Amerika reagieren arrogant und besserwisserisch. Mit den weltbesten Gesundheitssystemen sei man auf alles vorbereitet. Ende Februar lassen wissenschaftliche Experten verlauten, das neue Coronavirus sei nicht gefährlicher als eine heftige Grippe. Wenige Tage später brechen in Spitälern in der Lombardei kriegsähnliche Zustände aus. Militärlastwagen transportieren Särge ab,  in den Krankenhäusern wird triagiert wie im Krieg. Italien vollzieht den Shutdown, andere europäische Länder reagieren zögerlich auf die Gefahr, manche leugnen sie. 
Nach weltweit Millionen Infizierten und Hundertausenden Toten ist klar: Wir befinden uns in Gegenwart eines unbekannten Lebewesens, das uns möglicherweise auf lange Zeit begleiten wird oder überhaupt nie mehr weggehen wird. Unsichtbar überwindet es alle Grenzen und Körperschranken und ist dem Wissen der Medizin immer um einen Schritt voraus. Gesellschaftliche Sicherheitsvorstellungen und moderne Fortschrittseuphorie kollabieren vor der latenten Gefahr, die uns zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort bedroht. 

Es durchbricht unsere Gewohnheiten und stellt unsere Existenz in Frage, es unterbindet Handlungsräume und verdeutlicht, wie fragil unsere Sicherheit ist. 

Unwillkürlich werden wir an Seuchen erinnert, die den Menschen immer wieder auf den Leib rückten. Im 20. Jahrhundert zog die „Spanische Grippe“ durch die Welt, wüteten Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und AIDS,  Ebola, SARS, Vogel- oder Schweinegrippe schürten Ängste und rufen ein Szenario wach, das mit dem Schwarzen Tod und der Pest des Mittelalters verglichen wird. Wie andere Seuchen wird auch das Coronavirus als dramatische Pandemie gedeutet, als menschliche Tragödie, als Menetekel oder gar als Verschwörung. Welche Zuschreibung die Pandemie auch erfährt – jede Gesellschaft sieht sich vor die Herausforderung gestellt, wie sie mit der Krise mittel- und langfristig umgehen will.
Die Coronakrise ist ein Einschnitt. Radikal wälzt das Virus unser Leben um und lässt kaum eine Facette unseres Lebens und Zusammenlebens unberührt. Es beschneidet unsere persönliche Freiheit und steckt uns hinter die Gesichtsmaske, es befiehlt uns, Abstand voneinander zu halten, und untersagt uns den Händedruck, den physischen Kontakt und eine spontane Umarmung. Es hält uns auf sozialer Distanz und gibt Misstrauen und sozialer Furcht Recht, es räumt öffentliche Räume und mobilisiert Überwachung und Kontrolle. Es strapaziert Privatheit zur Gefangenschaft und verengt Lebensräume zu Zellen, während es der Natur Lebensräume zurückgibt. Es normalisiert Einsamkeit in Live-Streaming-Communities und diszipliniert uns zu Gehorsam, es verinnerlicht Disziplin und verordnet sie als soziale Verantwortung. Es durchbricht unsere Gewohnheiten und stellt unsere Existenz in Frage, es unterbindet Handlungsräume und verdeutlicht, wie fragil unsere Sicherheit ist. 

„Es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen“ singt Michael Stipe von der Band R.E.M. im Refrain des gleichnamigen Songs: „It’s the end of the world as we know it.“ 

Und die Kunstwelt? Und die Kunst? Wo war sie? Wie macht sie weiter? Nach dem monatelangen Stillstand versucht sie ein Erwachen aus der pandemischen Schockstarre, sucht die Rückkehr aus dem Rückzug, der kurz immerhin auch eine unverhoffte Freiheit war. 
Was nun geschieht, geschieht anders als sonst und bisher, etwas verschoben und verrückt, versuchsweise, vage oder jenem instinktiven Impuls folgend, der Kunst in Umbruchszeiten oft zur Pionierin oder Prophetin macht. Wie „anders" etwas geschieht, ist freilich noch so offen. Wächst Kunst über sich hinaus oder zeigt sie ihre Verlorenheit in einer Welt, die sie – mit Hegel gesprochen – ohnehin nur als Dekoration wahrnimmt? Wird sie zur Quelle des Widerstands? Sie könnte sich auf eine Lebensform der Quarantäne berufen, die in einem anderen, im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Wort, Kontumaz, „Trotz“ bedeutet, „Stolz“, „Eigensinn“ und „Unbeugsamkeit“. Folgt eine Welle der Politisierung in Reaktion auf die Enteignung des Lebens? Oder spinnt sie sich in einer neuen Bescheidenheit ein? Wird sie solidarischer oder bleiben am Ende nur die Superstar-Künstler übrig, die mit hochpreisiger Spekulationskunst eine steinreiche Klientel bedienen? Steckt die Kunstwelt in der Krise, die Kunst selbst jedoch nicht?
Was bedeutet es, wenn Kunst nur noch unter Hygienebedingungen stattfinden kann und Kontakt Kontamination bedeutet? Ist sie dann noch frei in der Wahl ihrer künstlerischen Mittel? Was bedeutet es, wenn Kunst statt als Akteurin plötzlich wie ein öffentlicher Pflegefall wahrgenommen wird? Was bedeutet es für das Verhältnis von Künstler*innen und Publikum, wenn sie auf Distanz zueinander bleiben müssen? Wer vermisst wen? Vermisst das Publikum die Kunst in der gleichen Weise wie die Künstler*innen das Publikum?
Für Prognosen und gar Diagnosen, wie die Kunst auf die Allgegenwart des Virus reagiert, ist es noch zu früh. Die bildende Kunst hat, obwohl sie sich mit den neuen Technologien stark verändert hat, eine lange Reifezeit. Zu erinnern ist, dass das Virus in den künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Debatten der 1980er, genauer: seit dem Aufkommen von AIDS, eine zentrale und leitende Metapher war. Viren wurden gegenkulturell mit Subversion konnotiert, sie wurden zum Inbegriff des Widerständigen, des Sperrigen und der Verweigerung. Eröffnet die Erfahrung mit dem Coronavirus und deren künstlerische Aufarbeitung tendenziell auch neue Perspektiven? Etwa auf die Globalisierung, als deren verdrängte Nebenwirkung das Virus häufig gesehen wird? Oder auf Kontrolle, die immer mehr zur Selbstüberwachung wird? 

Text: Heinrich Schwazer