Gesellschaft | Salto Gespräch

Die Jugend im Sturzflug

Mirijam Obwexer setzt sich für Jugend- und Alternativkulturen in Südtirol ein. Ein Gespräch über die Anteilnahme von Jugendlichen früher und heute.
Mirijam Obwexer
Foto: Mirijam Obwexer
Vor knappen 40 Jahren wurde die Kulturzeitschrift „Sturzflüge“ ins Leben gerufen. Die Kulturzeitschrift Sturzflüge, welche im Jahr 1982 gegründet wurde, war in den 80er und 90er Jahren ein wichtiger Motor für Kultur, Literatur und Geschichtsschreibung in Südtirol. Im Zuge ihrer Abschlussarbeit, an der Fakultät für Design und Künste der Universität Bozen, gibt Mirijam Obwexer einen nostalgischen, aber auch aktuellen Einblick auf die Jungend- und Alternativkulturen in Südtirol.
In den 80er und 90er Jahren war die Medienlandschaft in Südtirol sehr monoton und die Zeitschrift bot Jugendlichen eine Plattform für kritisches Gedankengut. Es wurden insgesamt 53 Ausgaben veröffentlicht. Die Sturzflüge befassten sich mit vielen kritischen Themen in der Geschichte Südtirols, wie beispielsweise die Behandlung der Juden in Südtirol oder die Deportation von psychisch und beeinträchtigten Menschen ins Dritte Reich.
Auf die Kulturzeitschrift stieß Obwexer bei ihrer Recherche nach Jugend-, Gegen- und Alternativkulturen in Südtirol. Obwexer beschäftigt sich privat viel mit Jugend- und Alternativkulturen und sah daher ein sehr großes Forschungsinteresse, da es in Südtirol viel Potenzial gibt, welches nicht genutzt wird. Betreut wurde ihre Abschlussarbeit von Hannes Egger und Gianluca Camillini. 
 
Mirijam Obwexer
Mirijam Obwexer:  "Der Jugend eine Chance geben" (Foto: Mirijam Obwexer)
 
 
Salto.bz: Frau Obwexer, Ihre Abschlussarbeit beschäftigt sich mit der ehemaligen Kulturzeitschrift Sturzflüge. Wie sind Sie auf die Zeitschrift gestoßen und was hat Ihr Interesse geweckt, dieses Thema genauer zu erforschen? 
 
Mirijam Obwexer: Während meiner Recherche zu Jugend-, Gegen- und Alternativkulturen in Südtirol stieß ich zunächst auf den „Turm der Erinnerung“ – eine Ausstellung über die Geschichte Südtirols im Schloss Tirol bei Dorf Tirol. Dort entdeckte ich bereits einige Zeitungen und oppositionelle Blätter wie „der Brenner“, der von 1910 bis 1954 veröffentlicht wurde. Später stieß ich im Stadtarchiv Bozen auf die Kulturzeitschrift Sturzflüge, die als eine der bekanntesten, wildesten und mutigsten Zeitschriften aus den 80er und 90er Jahren war. Das erste Exemplar, welches ich im Stadtarchiv  entdeckte, war die siebte Ausgabe der Sturzflüge aus dem Jahr 1984. Auf dem Cover sitzt ein nackter Andreas Hofer neben einer jungen Frau. Die akte Darstellung traditioneller Ikonen galt 1984 als skandalös und sorgte für viel Aufsehen. Im Zuge meiner Arbeit habe ich auch ehemalige Mitglieder der Sturzflüge interviewt. Darunter Renate Mumelter, Dominikus Andergassen, Paolo „Crazy“ Carnevale, Sepp Mall, Kurt Lanthaler, und Benno Simma.
 
Cover von 1984
Sturzflüge 1984: Cover von der Ausgabe. (Foto: Sturzflüge)
 
 
Die Sturzflüge sorgten für einige brisante Artikel. Welche Beweggründe und Ansichten hatten die ehemaligen Mitglieder der Sturzflüge für ihre Arbeit?
 
Die Beweggründe der ehemaligen Mitarbeiter der Sturzflüge waren vielfältig. Es ging vor allem darum, aktuelle Themen, Literatur und gesellschaftliche Tabu-Themen aufzugreifen und starke Statements zu setzten. Die ehemalige Sturzflüglerin und Autorin Renate Mumelter setzte sich beispielsweise für Frauen in der Literatur und die Etablierung von Frauen als Autorinnen ein. Die Zeitschrift war eine Zusammenarbeit des Südtiroler Kulturzentrum und der Südtiroler Autorenvereinigung. Die graphische Gestaltung wurde von Graphic Line übernommen. Das Grafikstudio Graphic Line wurde dabei von den Sturzflüglern Georg Engl, David Casagranda und Dominikus Andergassen geführt. Durch die interne Gestaltung konnten sie viele Kosten sparen. Engl wird immer wieder als die wichtigste Antriebskraft des Kulturmagazins beschrieben, dies erwähnt auch Renate Mumelter, in ihren 2021 veröffentlichten Buch „Sturzflüge. Voli in picchiata.“
 
Der Titel Ihrer Arbeit lautet „Sturzflüge N54. Heiliges Land“.  Können Sie uns erklären, welche Bedeutung dieser Titel hat und welche Aussage Sie damit vermitteln möchten?
 
Ich habe den Titel  „Sturzflüge N54. Heiliges Land“  gewählt, um eine Anlehnung an eine 54. Ausgabe zu schaffen. Der Untertitel „Heiliges Land“ soll auf die Scheinheiligkeit aber auch auf die Schönheit und Besonderheit Südtirols verweisen. Dies soll eine provokante Referenz zur Scheinheiligkeit Südtirols sein, da Südtirol zwar ein wunderschönes Land ist, aber von Scheinheiligkeit durchzogen und sich oft selbst besser darstellt als es ist.  Es geht aber nicht um eine negative Darstellung Südtirols, vielmehr geht es um den Verweis auf die herrschenden Missstände und Probleme.
 
Südtirol ist ein Land in dem Tradition und Heimat einen sehr hohen Stellenwert hat. Sie erwähnten vorher Vereine, welche Alternativkulturen unterbinden. 
 
Die Angst vor Neuem und die tiefe Traditionsgebundenheit in Südtirol sind oft auf die Ängst der älteren Generationen zurückzuführen. Die historische Entwicklung Südtirols spielt hierbei eine wichtige Rolle. In Südtirol gibt es schon seit Ewigkeiten zu viele „etablierte“ Vereine, die durch ihre Ideologien und ihre Traditionsgebundenheit, neue aufkommende Alternativkulturen unterbinden. Diese Neophobie bezieht sich dabei vor allem die Angst vor Veränderung. Dies ist hauptsächlich auf das „Südtiroler Mindset“ zurückzuführen, welches ein Zeichen des Wohlstandes und der Bequemlichkeit in Südtirol ist, „da je bis jetzt alles geklappt hat“.
 
In Südtirol ist es wichtig, dass es „kamott“ und ums Geld geht. Hinter allem, wo keine Lobby steht, wie es bei der Kultur der Fall ist, gibt es nur sehr wenig Wertschätzung.
 
 
Sie haben ja eine eigene Sonderausgabe der Sturzflüge erstellt. Erzählen Sie uns was das Konzept und die Gestaltung dieser Ausgabe war.
 
Die Sturzflüge N54 sollte einen gewissen Rebellionscharakter haben. Dies unterstreicht die Ausgabe mit ihrer besonderen Art und Weise der grafischen Gestaltung des Editorials und des Covers. Dies hebt den Charakter der Sturzflüge hervor, da es keine andere Zeitschrift gibt, die so ein Design und solche Inhalte besitzt. Die Wahl der Farbe Rot soll außerdem eine Assoziation zur Tiroler Fahne sein. Auf dem Cover befindet sich ein geöffneter Mund, welcher das Bedürfnis nach „Aufschrei und Meinungsfreiheit“ verdeutlichen soll. Im Mund befinden sich dabei traditionelle Darstellungen der Südtiroler Kultur wie beispielsweise eine Berglandschaft, Menschen in Tracht und ein Bildstock. Die ersten Ausgaben der Sturzflüge erschienen (abgesehen vom Cover) nur in schwarz/weiß, da Farbdruck früher teuer war. Der Inhalt wurde von unterschiedlichen Autor*innen verfasst, darunter auch einer von dem ehemaligen Sturzflügler Dominikus Andergassen, welcher über seine Zeit bei den Sturzflügen schreibt. Es finden sich unterschiedliche Texte zu diversen Künsten aus Prosa, Lyrik und Interviews zu Visionen zu Südtirol und Südtirols Zukunft. Zudem wird auf einige Probleme Südtirols referiert. Des Weiteren finden sich in dieser Ausgabe auch Illustrationen. 
 
Sturzflüge N54
Sonderausgabe der Sturzflüge von Mirijam Obwexer: Heft N54 (Foto: Mirijam Obwexer) 
 
 
Eine Ausnahme in dieser Ausgabe ist das Künstlerportrait, welches in Farbe abgedruckt wurde, um den Kunstwerken nicht die visuelle Bedeutung und Kraft zu nehmen. Bei dem Bild handelt es sich um ein Bild des Künstlers Simon Perathoner. Der Grödner Künstler lebt und arbeitet in St. Ulrich. Mit seiner Kunst will er Kunst und Wissenschaft verknüpfen. In diesem Bild will er anhand des Pragser Wildsee die Folgen des Massentourismus verdeutlichen. Außerdem beschäftigt sich Perathoner in seinen Arbeiten mit Methoden der (Re-)Präsentation.
 
Kreden
Künstlerportrait von Simon Perathoner: Auswirkungen des Massentourismus (Foto: Mirijam Obwexer)
 
 
Diese Edition wurde mit einem Risographen gedruckt. Der Stil des Risographen, mit seiner Einfachheit und wenigen Farben, vermittelt den Vibe der ersten Erscheinungen der Sturzflüge. Dies soll vor allem den Aktivismuscharakter unterstreichen.
 
Eine schöne, glatt, hochwertige und farbige Ausgabe hätte das Konzept der Sturzflüge verfehlt.
 
Was haben Sie nun vor mit dieser neuen Ausgabe der Sturzflüge?
 
Ursprünglich war diese Ausgabe nur für meine Abschlussarbeit gedacht, jedoch schaue ich nun, wohin dies führt.
 
Sturzflüge N54
Cover der Sonderausgabe: Heft 54 (Foto: Mirijam Obwexer) 
 
 
Was würden Sie machen um Jugendliche heutzutage mehr Teilhabe zu ermöglichen, um ihre Meinungen und Ansichten zu äußern?
 
Es gibt durchaus viele Möglichkeiten Jugendlichen mehr Teilhabe zu ermöglichen. Ich finde man könnte z.B. Workshops anbieten, Events organisieren und auch Jugendliche Events organisieren lassen. Dies soll die Ansichten, Werte und Ideen der Jugendlichen besser fördern. Eine Art „Kultur-Influencer“ wäre hier eine Möglichkeit, welche junge Leute für Kultur sensibilisieren. Zudem braucht es viel mehr Platz für Jugendliche ihre Meinungen und Ansichten zu äußern und diese zu publizieren. Junge Leute haben eine Meinung und sollen etwas sagen dürfen. Es bringt nix nur auf Tourismus und Wirtschaft zu schauen, wenn die kommende Generation unglücklich ist, das macht kein Land zukunftsstark!
 
Jungen Leuten soll einfach eine Plattform geboten werden. Es ist egal, dass sie keine Journalisten sind, es ist einfach wichtig auf ihre Bedürfnisse einzugehen und sie schreiben zu lassen.
Die Alten Fragen, die die Sturzflügler schon früher gestellt haben, sind nach wie vor Teil wichtiger Fragen der Jugend. Obwohl sich die Probleme im Laufe der Zeit verändert haben, gibt es gewisse Gemeinsamkeiten, die weiterhin als „zeitlose Probleme der Jugend“ gesehen werden können. Es bleibt abzuwarten, ob sich in Zukunft ein erneut ein Medium finden wird, das die Stimmen und Anliegen der Jugend in Südtirol hervorhebt und ihnen eine Plattform bietet, um ihre Ideen und Visionen zu teilen.