Gesellschaft | Geschichte

Zeugnis ablegen bis zum letzten

Victor Klemperer lebte im Kaiserreich, der Weimarer Republik, im Dritten Reich und der DDR. Seine Aufzeichnungen geben den Alltag wieder, die unverfälscht, zeitlos sind.
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Viktor Klemperer Photo: SLUB/DEUTCHE FOTOTHEK, URSULA RICHTER CA 1928
Foto: Victor Klemperer

Der Dresdner Victor Klemperer, Literaturwissenschaftler und Jude, schrieb und schrieb. Seine Aufzeichnungen "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten – Tagebücher 1942-1945", erschienen 1995 im Aufbau-Verlag, wurden zum „Bestseller“.  Er versteckte die Notizen in seinen Büchern vor der Gestapo. Seine Frau Eva bringt die Skripte zu einer Freundin, damit sie unentdeckt bleiben. 

Er notiert akribisch die immer rigider werdenden Lebensumstände, die – so die Ahnung – im Tod enden werden; jedoch gelingt eine Flucht im Feuersturm Dresdens Februar 1945 und beide überstehen einen Todesmarsch nach Dachau; wie durch ein Wunder.

Verbote, Verbote, Verbote

Am 2. Juni 1942, einem Dienstag, notiert er am Abend:

„[…] Der Würger wird immer enger angezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in diesen letzten Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusammen:

  1. Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle!
  2. Aus eigenem Haus vertrieben.
  3. Radioverbot, Telefonverbot.
  4. Theater-, Kino,- Konzert,- Museumsverbot.
  5. Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen.
  6. Verbot, zu fahren; (dreiphasig:
    • Autobusse verboten, nur Vorderperron der Tram erlaubt,
    • alles Fahren verboten,
    • auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7km entfernt wohnt oder krank ist (aber um ein Krankheitsattest wird schwer gekämpft).
      Natürlich Verbot auch der Autodroschke.)
  7. Verbot, ‚Mangelware‘ zu kaufen,
  8. Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rohstoffe.
  9. Verbot, Blumen zu kaufen.
  10. Entziehung der Milchkarte.
  11. Verbot, zum Barbier zu gehen.
  12. Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar.
  13. Zwangsablieferung von Schreibmaschinen,
  14. von Pelzen und Wolldecken,
  15. von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten),
  16. von Liegestühlen,
  17. von Hunden, Katzen, Vögeln.
  18. Verbot, Bannmeile Dresdens zu verlassen,
  19. den Bahnhof zu betreten,
  20. das Ministeriumsufer,
  21. die Bürgerwiese und die Randstraßen des Großen Gartens […] zu benutzen. Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten.
  22. Seit dem 19. September [1941] der Judenstern.
  23. Verbot, Vorräte an Esswaren im Hause zu haben. (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.)
  24. Verbot der Leihbibliotheken.
  25. Durch den Stern sind alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekommt man immer noch etwas zu essen, irgendeinen ‚Stamm‘, wenn man im Haus gar nichts mehr hat. Eva sagt, die Restaurants seien übervoll.
  26. Keine Kleiderkarte.
  27. Keine Fischkarte.
  28. Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch.
  29. Die Sondersteuern.
  30. Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark.
  31. Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins).

Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Hausdurchsuchung, Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und des gewaltsamen Todes. –“

Am 8. Juli 1944 Sonnabends:

„[…] Wie oft kommen mir André Chéniers Verse in den Sinn von dem Schlachtvieh, das nicht mehr zur Herde gerechnet wird. Wie viele Rundschreiben Ver- und Gebote gab es früher! Jetzt nur noch ganz selten – es ist [...] alles verboten, und es gibt [...] kaum noch Juden hier. Auch die Phase der Haussuchungen liegt nun schon 2 Jahre und mehr zurück. (Aber die Gefahr besteht täglich.) Alles und jedes lenkt mein Denken immer wieder auf die endlose Länge unserer Sklaverei, auf die überlange Reihe der Verschwundenen, der Toten, die alle auf Überleben hofften. Und immer wieder sage ich mir, auch ich werde nicht überleben, im allertiefsten bin auch ich stumpf hoffnungslos, kann mir eine Rückverwandlung zum freien Menschen nicht mehr vorstellen. –“

Volksbewusstsein und Propaganda

Am 3. Mail 1944 schreibt Klemperer:

„[…] Mir fällt in Artikelüberschriften als nazistisch die Häufigkeit des Wortes total [...] auf. ‚Totale Erziehung‘ – ‚Totale Abschnürung des Feindes.‘ – Die Wirkung der Propaganda: Frau [...] frage mich schon wiederholt: ‚Haben Sie eine deutsche Frau?‘ – ‚Hat Jacobi eine deutsche Frau?‘ […] Mich erschüttert das mehr als das Fremdwort ‚arisch‘. Es zeigt, wie sehr die ‚totale Abschnürung‘ der Juden im Volksbewusstsein geglückt ist.“

Eintragungen vom 19. und 23. Juli 1944:

„[…] Je desaströser die Lage wird, um so unverschämter wird die Superlativität der nationalsozialistischen Sprache […]: Heute sei ‚unser Glaube zur felsenfesten Gewissheit des Sieges erhärtet. Nun kann ihn uns keine Macht der Welt […] mehr entreißen, denn wir sind ein eisernes Geschlecht geworden.‘ […]“

„[…] Gewiss, […], sie haben nach wie vor die Presse und die Macht […], sie haben wieder jedem Naturgesetz zuwider ihre Gefeitheit bewahrt, sie haben wieder – ‚Vorsehung!‘, […] jauchzendes Volk – propagandistisch ein Stimulans, eine Siegesstimmung, einen Sieg aus der schwersten Niederlage herausgeholt, es werden wieder Millionen an den Endsieg glauben. Und inzwischen hat irgendein Gauleiter oder sonstiger Bonze irgendwo eine Rede gehalten, wir stünden dicht vor der gänzlichen Umbewaffnung des Heeres und würden mit dieser neuen Waffe als Sieger ‚die letzte Runde‘ bestehen […]“

Die Thesen Klemperers

Klemperer meint, der deutsche Nationalsozialismus vereine den Faschismus, Bolschewismus und den Amerikanismus – „romantisch verarbeitet“. Die Deutschen seien zugleich ein „Volk der Träumer und der Pedanten, der verstiegenen Überkonsequenz, der Nebelhaftigkeit und der genauesten Organisation“. Als Mittel bediene sich der Nationalsozialismus einer demagogischen Sprache, gleichsam überall angewandt. Er ist der Auffassung, das niemand aus der Geschichte lerne – sondern im Gegenteil: Die Gefühle bestimmen das Denken und lassen nur wenig gesichertes Wissen zu.