Society | Interview

Im "Südtiroler Banlieue"

Gestern eröffnete das Jugendzentrum Fly in Leifers die Ausstellung „Laivesotti – Aufwachsen in der Vorstadt“, welche mit Bildern die Lebenswelt der Jugend näher bringt.
Laivesotti
Foto: Jugendzentrum Fly

„A Laives la strada ti da quella soddisfazione che in una città ti possono dare le piazze”, besagt der Untertitel eines in Szene gesetzten jungen Mannes. Wie die anderen Jugendlichen auf den Bildern der Ausstellung, hat er älteren Generationen eine Geschichte zu erzählen. Im Ausstellungsraum Leifers eröffnete das Jugenzentrum Fly die Pforten der Ausstellung „Laivesotti – Heranwachsen in der Vorstadt/Crescere nel subborgo“. Die Bilder und Portraits geben Jugendlichen unserer Zeit eine Stimme. Sie entführen an persönliche Orte im Umkreis des Einzugsgebiets von Leifers, erzählen was es bedeutet im satellitenstädtischen „sub – borgo“ heranzuwachsen und was sie „unter – Dorf“ verstehen. Sie schildern die Schönheit, Langeweile, Schwierigkeiten und Aufregung des jungen Lebens und erzählen vom Vakuum der Perspektivenlosigkeit im Zuge der Pandemie.

Zusammen mit Co-Koordinatorin und Sozialarbeiterin Yvonne Saltuari übernahm der Jugendarbeiter, Fotograf und Künstler Andreas Bertagnoll die Koordination des Projekts und spricht mit Salto.bz über die enge Zusammenarbeit mit den Jugendlichen und über die Themen, die das Projekt aufzeigt:

 

Salto.bz: Das Jugendzentrum Fly hat in enger Zusammenarbeit mit den Jugendlichen vor Ort das Fotoprojekt „Laivesotti – Aufwachsen in der Vorstadt“ zu einer Ausstellung ausgearbeitet. Was soll mit der Ausstellung und mit dem Bilderkatalog kommuniziert werden?

Andreas Bertagnoll: Die Ausstellung wurde erarbeitet, um ein angemessenes Projekt zur Förderung der Identitätsfindung von Jugendlichen und eine weitreichendere Sensibilisierung für jugendliche Lebenswelten zu bezwecken. Zusammen mit den jungen Leuten war unser gemeinsames Ziel, die Jugend ins Gespräch der Erwachsenen zu bringen, um ein besseres Verständnis auf deren Seite zu fördern. Vor allem auch im letzten Jahr zeigte sich dieser Bedarf umso dringlicher, da sich negative Berichte über die Jugend in Leifers häuften. Es ist uns wichtig aufzuzeigen, dass derartige Vorfälle nur einen kleinen Teil ausmachen und nicht immer wieder zu Verallgemeinerungen führen dürfen. Daher haben wir versucht ein möglichst vielfältiges fotografisches Gesamtbild zu schaffen und haben dementsprechend mit Jugendlichen aus allen möglichen Subkulturen und Hintergründen zusammengearbeitet. 

 

Vor allem auch im letzten Jahr zeigte sich dieser Bedarf umso dringlicher, da sich negative Berichte über die Jugend in Leifers häuften.

 

Wer sind die Jugendlichen auf den Portraits?

Da im Jugendzentrum Fly Jugendliche aus dem gesamten Einzugsgebiet Leifers zusammenkommen, also aus Branzoll, Pfatten, Steinmannwald und St. Jakob, war uns eine große Reichweite möglich. All‘ diese jungen Menschen teilen in ihrer Multikulturalität dennoch ein ähnliches Selbstverständnis. Sie besuchen in Leifers die Schule, treffen sich in Sportvereinen und so verschwimmen die Grenzen zwischen den Gemeinden und man nimmt sich eher als gemeinsamer peripherer Raum vor Bozen wahr. Die veranschaulichten Geschichten, Orte und Gesichter zeichnen hierbei aber ein Gesamtbild unpauschalisierbarer Vielfalt junger Lebenslinien.

 

Das Einzugsgebiet Leifers wird als „Südtiroler Banlieue“ angekündigt. Wird damit auf ein problematisches Erwachsenwerden von Jugendlichen in vernachlässigten peripheren Sozialbausiedlungen angespielt, die man sich unter dem Begriff vorstellen könnte?

Wir sind der Meinung, dass sozialer Sprengstoff entsteht, wenn viele Jugendliche auf engsten Raum zusammenleben, welche ohnehin schwierige soziale Hintergründe aufweisen. Wenn sich hierzu noch Testosteron und Entwurzelung gesellen, kann das sehr wohl problematisch werden. Sicher, der Vergleich mit der „Pariser Banlieue“ ist zugespitzt, jedoch lässt sich sehr wohl beobachten, dass gewisse Jugendliche immer mehr in Parallelwelten abdriften, vor allem auch dank jüngster Entwicklungen. Wenngleich dies bis dato einen kleinen Teil der Jugendlichen betrifft, muss in der heutigen Lage dennoch unbedingt dafür sensibilisiert werden. 

 

Sicher, der Vergleich mit der „Pariser Banlieue“ ist zugespitzt, jedoch lässt sich sehr wohl beobachten, dass gewisse Jugendliche immer mehr in Parallelwelten abdriften.

 

Leifers blickt auf eine lange Migrationskultur zurück, die so in Südtirol kein zweites Mal zu finden ist und zwar auch auf die nationalen Herkünfte bezogen. Immer wieder versammelten sich hier Menschen aus zahlreichen italienischen Provinzen. Einige Laivesotti leben schon seit hundert Jahren hier, andere noch länger. Darüber hinaus ist Leifers eine Apfelhochburg, grenzt an Deutschenofen an und ist damit tief von Tradition, Landwirtschaft und Lokalität geprägt. Wiederum ist es für viele Menschen, die hier ansiedeln, eine Umstellung hier in Südtirol zu leben und sich mit unserer Bergwelt zu identifizieren. Die Zuspitzung bleibt dennoch künstlerischer Natur, denn der Großteil der Jugendlichen verschiedenster Herkunft hier in Leifers ist bestens integriert.

 

Es werden auch Themen, wie die pandemiebedingte Perspektivenlosigkeit, die Entstehung von Parallelwelten sowie die Forderung nach härteren Erziehungsmaßnahmen, Nachkriegspädagogik, ja sogar nach Gewalt an Jugendlichen in sozialen Netzwerken thematisiert. Können Sie sich dazu kurz äußern?

Wir beobachteten vor allem über die letzten Jahre immer wieder heftige Anprangerungen von Jugendlichen in den Medien und nicht zuletzt in den sozialen Netzwerken. Stets tauchen Rufe nach einer härteren Erziehung, Herabsetzungen auf falsche Erziehung und Gewaltaufrufe gegen Jugendliche auf. Häufig gehen damit der Wunsch nach einer stärkeren Polizeipräsenz einher. Hier fehlen meist aber empathische Ansätze der Ursachenbekämpfung von Problemvorfällen. Unser Fotoprojekt ist hier ein Tropfen auf dem heißen Stein, das versucht den Jugendlichen ihr längst verdientes Sprachrohr zu geben! Die Jugend- und Sozialarbeit, Suchtberater sowie Psychologen und Therapeuten können bestätigen, dass sich im Zuge der Pandemie die Lage von Jugendlichen erkenntlich verschlechtert hat. Drogenkonsum, Gewaltbereitschaft, Provokationen, Essstörungen, Depressionen, all die Problemfaktoren, die sich einem jungen Menschen auf der Suche nach Orientierung und Perspektiven in den Weg stellen können, haben sich verschlechtert. Und dann wird noch mit dem Finger gezeigt! 

 

Und dann wird noch mit dem Finger gezeigt! 

 

Jugendliche wollen sich mitteilen, doch die Pandemie drängt einen Keil zwischen soziale Kontakte, Freundschaften oder Begegnungen. Das soziale Umfeld in der Schule leidet stark unter den social-distancing-Maßnahmen und ich denke, dass wir hier als Jugendarbeiter einen wichtigen Beitrag zu leisten haben. Das Projekt Laivesotti wurde ins Leben gerufen, um der Jugend eine Stimme zu verleihen, um aussprechen zu können, was sie beschäftigt, was in ihnen vorgeht, wie sie empfinden. Ob wir zu einer Lösung kommen, bleibt offen. Es ist aber wichtig, dass über die Lage unserer jungen Generation gesprochen wird, und zwar bevor unüberlegt Maßnahmen getroffen werden.