Die tickende Zeitbombe

Wir werden immer älter und sind mehr auf Pflege angewiesen. Das stellt unser System vor eine Reihe von Herausforderungen. Steht Südtirols Pflege vor dem Kollaps? AFI-Direktor Stefan Perini hat uns hierzu Fragen beantwortet.
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  • Wir werden immer älter und sind immer mehr auf Pflege angewiesen. 

    Der demografische Wandel stellt uns nicht nur vor Fragen hinsichtlich der Finanzierung, sondern auch vor Herausforderungen was die Qualität der Pflege angeht. In Südtirol gleichermaßen wie andernorts. 

    AFI-Direktor Stefan Perini hat uns Fragen hierzu beantwortet.

  • Herr Perini, wie viele Menschen sind in Südtirol von dem Thema betroffen? 
    «Im Jahr 2023 haben etwa 15.000 Personen Pflegegeld erhalten. Die Gesamtausgaben hierfür beliefen sich auf rund 133 Millionen Euro. Was hier auffällt, ist, dass die Zahl der Pflegebedürftigen weiterhin steigt und das seit mehreren Jahren. Zudem steigt mit voranschreitendem Alter – vor allem ab 80 - die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Sofern keine Krankheit dazwischen kommt, lässt es sich jedoch schon heute meist sehr gut bis ins hohe Alter leben, was der modernen Medizin zu verdanken ist».

    Wie unterscheidet sich die Pflege im städtischen und ländlichen Raum?
    «Der größte Unterschied ist hier die Figur des Pflegenden, also wer die Betroffenen pflegt. In den früher üblicheren Mehrgenerationenhaushalten, den typischen Großfamilien, wohnten die Großeltern meist im gleichen Haus und wurden von der Familie betreut. Der Wohnraum auf dem Land lässt dies leichter zu als vergleichsweise kleine Stadtwohnungen. Pflege wurde somit größtenteils familienintern und von der engsten Verwandtschaft geregelt und organisiert. Mittlerweile verschwindet diese Form mehr und mehr. Werden Menschen Zuhause betreut, dann erfolgt das meist durch sogenannte „Badanti“ – also Hauspflegekräfte – ansonsten werden Bedürftige meist in Seniorenheimen betreut. Grundsätzlich kann man sagen, dass Pflege über eine der folgenden drei Formen stattfindet: von den eigenen Familienangehörigen, Zuhause durch eine Pflegekraft oder durch Einrichtungen».

    Das AFI hat sich bereits 2016 mit dem Phänomen Pflege beschäftigt, richtig?
    «Ja, damals haben wir eine Studie zu dem Thema herausgebracht und im Zuge dessen Verwaltungsdaten und Workshops mit den Sozialdiensten und direkt Betroffenen gemacht. Wir stellten uns dabei die Frage, wo die Knackpunkte und größten Hürden im Bereich Pflege liegen, wo wir ansetzen müssen».

  • Im Jahr 2023 haben etwa 15.000 Personen Pflegegeld erhalten

  • Und welche Handlungsfelder wurden eruiert? 
    «Eine große Herausforderung, die auf uns zukommt, beziehungsweise sich uns bereits jetzt stellt, ist der demografische Wandel, denn die Altersstruktur unserer Bevölkerung verändert sich. Die Babyboomer erreichen nun ein gewisses Alter. Das bedeutet, eine große Masse an Menschen wird einen nie dagewesenen Pflegebedarf mit sich bringen. Diese Welle baut sich schön langsam auf und erreicht voraussichtlich 2045 in Südtirol den Höchstpunkt. Danach kommen geburtenschwächere Jahrgänge. Gleichzeitig gib es einen Wandel der Familien- und Haushaltsstrukturen, auch die zeitliche Verfügbarkeit der Verwandten zur Pflege wird weniger». 

    Und das Thema Finanzierung?
    «Wichtig ist hier zu wissen, dass der Finanzierungsbedarf kurz- und mittelfristig ansteigen, langfristig aber wieder sinken wird. Wir haben jetzt erstmal 20 Jahre vor uns, während der die Zahl an Pflegebedürftigen steigen wird. Die große Unbekannte ist: Inwiefern hilft uns der medizinische Fortschritt? Er kann uns gesünder älter werden lassen oder länger gesund halten. Es ist auch denkbar, dass Roboter in Zukunft Pflegearbeit übernehmen. In Asien gibt es beispielsweise bereits solche Pflegeroboter. Fakt ist: Der Pflegebedarf wird in den nächsten 20 Jahren steigen. Die Frage ist auch, wie das Pflegegeld weiterhin geregelt wird. Bleibt man bei einer Geldleistung in der heutigen Form und wie stellt man sicher, dass das Geld sachgerecht eingesetzt wird?».

    Und wer kann den steigenden Pflegebedarf decken?
    «Die Altersheime finden nicht genügend Pflegekräfte und Familienangehörige haben tendenziell eine immer geringere Pflegebereitschaft oder geringere zeitliche und räumliche Verfügbarkeit. Es wird einen europaweiten Wettbewerb um Hauspflegekräfte geben. Früher kamen in erster Linie Leute aus der Slowakei und aus Ungarn, heute kommen sie oft aus der Ukraine und aus Moldawien. In Deutschland kommen die Pflegekräfte mittlerweile auch oft aus Peru, Mexiko und aus Vietnam».

    Wie sieht es mit der Bezahlung und Absicherung von Verwandten aus, die sich dieser Arbeit annehmen?
    «Es gibt Überlegungen, dass man die pflegenden Personen zumindest sozialversicherungsmäßig besser absichert. Im Burgenland in Österreich gibt es zum Beispiel eine Pflege-GmbH, die dem Land gehört. Die Pflegenden werden dort von dieser Pflege-GmbH angestellt. So verliert die pflegende Person ihre Versicherungsjahre nicht, sondern ist weiterhin sozialversichert. Auch in Südtirol spricht man mittlerweile in politischen Kreisen oft vom „Burgenländer Modell“. Ob sich das bewährt und auf andere Länder übertragen lässt, ist aufgrund der unterschiedlichen Rechtslage in Italien zu prüfen. Ein Thema ist sicherlich „Was passiert mit einer Person, wenn sie nicht mehr Vollzeit arbeitet zu Gunsten der pflegebedürftigen Person?“ Und natürlich müssen Pflegende auch geschult werden. Haushaltspflegekräfte aus Drittländern haben oftmals andere Standards hinsichtlich Pflege und Hygiene. Es ist sicherzustellen, dass sie eine adäquate Ausbildung haben, um ihrer Arbeit und den hiesigen Anforderungen nachkommen zu können. Immerhin kümmern sie sich auch um die Behandlung von Wunden oder um die generische Körperpflege. Die Qualität muss gewährleistet sein – sei es bei externen Personen, oder bei familieninternen Personen. Einige wissen beispielsweise nicht, wie man eine Person ordnungsgemäß im Bett umwälzt. Krankenpfleger lernen das, Laien können das gar nicht wissen. Diese Handgriffe muss man lernen und beherrschen».

  • Eine große Herausforderung, die auf uns zukommt, und die sich uns bereits jetzt stellt, ist der demografische Wandel, denn die Altersstruktur unserer Bevölkerung verändert sich

  • Zusammenfassend kann man sagen, dass viel mehr Herausforderungen als die reine Finanzierung der Pflege auf uns zukommen...
    «Ganz genau. Viel Netzwerkarbeit ist notwendig, damit die Informationen richtig verlaufen. Die Strukturen müssen sich abstimmen, also Pflegeteams, Hausärzte, Fachärzte und Betreuungspersonen. Aber natürlich ist auch die Finanzierbarkeit ein großes Thema und hier hat es – wenn auch recht unauffällig – bereits Einschnitte gegeben. So wurden die Beiträge beispielsweise seit 2008 nicht an die Inflation angepasst und auch die Einstufungskriterien sind stringenter geworden. Ein kleiner, unsichtbarer Sparstift wurde also schon angesetzt. Wir warten mit Spannung auf die sogenannte Gottfried-Tappeiner-Studie, die seit Monaten angekündigt ist und die so gut wie noch  niemand in Fachkreisen zu sehen bekommen hat».

    Welche Szenarien sind hier denkbar?
    «Aktuell haben wir ein rein steuerfinanziertes Modell, allein aus dem Landeshaushalt getragen. Es ist universell und unabhängig von der wirtschaftlichen Situation der Pflegebedürftigen. Insofern kann es in Südtirol als Grundrecht betrachtet werden. Das heißt, Reiche profitieren genauso wie ärmere Menschen. Man könnte das einkommensabhängig machen und beispielsweise an die EEVE (Einheitlichen Einkommens- und Vermögenserklärung) koppeln. Damit könnte man die „Oberen 20%“ ausklammern, ohne dass dies in soziale Härte münden würde. Damit könnte man die Ausgaben rechnerisch von 136 auf 104 Millionen senken. Die Frage ist, wo setzt man hier die Grenze? Was ist gerecht und sozial vertretbar? Eine weitere Alternative ist das beitragsfinanzierte Modell, also die freiwillige oder unfreiwillige Einzahlung in einen Pflegefonds oder in eine Versicherung».

    Doch dann stellt sich die Frage: Wer hat heute die finanziellen Ressourcen dafür?
    «Exakt. Wenn es auf Freiwilligkeit basiert, werden wenige dafür einzahlen. Unfreiwillig wirkt es hingegen bevormundend. Ein Mix aus beiden Modellen wäre ebenfalls denkbar, etwa nach dem Vorbild des Laborfonds mit Anreizen aus der öffentlichen Hand. Wichtig zu signalisieren ist: Wir müssen schon etwas tun, also Reformen einleiten. Ebenso wichtig aber ist: Wie wir Pflege in Zukunft organisieren wollen, ist kein rein finanzielles, sondern vor allem ein qualitatives Thema. Das seit 2008 aufgebaute System ist eine tolle Errungenschaft. Nun kommt es darauf an, dieses System zukunftsfest zu machen und an die Ansprüche und Erwartungen der heutigen Gesellschaft anzupassen».