Politik | Interview mit Don Mario Gretter

Ägypten: "Eine unfähige Regierung"

Don Mario Gretter, Beauftragter der Diözese Bozen Brixen für den interreligiösen Dialog, hat zwei Jahre in Kairo gelebt und kennt die Muslimbrüder Ägyptens gut.
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Foto: Elisa Cappellari

Herr Gretter, war dieser Sturz der Muslimbrüder-Regierung unter Präsident Mursi zu erwarten?

Don Mario Gretter: Als die Protestbewegung der Muslimbrüder vor einem Jahr an die Regierung kam, war ich zwischen Zweifel und Hoffnung. Man muss wissen, dass die Muslimbrüder einen gemäßigten Islam vertreten und bis vor kurzem in der ägyptschen Gesellschaft einen starken Rückhalt hatten. Das kommt daher, weil sie immer wieder bei Katastrophen wie dem Erdbeben in den 90er Jahren, unmittelbare und sehr wirksame Hilfe leisteten. Die Muslimbrüder verfügen über ein gutes Netz der Solidarität, sie halfen mit Decken, Feldküchen, Ärzten dort, wo es notwendig war, besonders am Land. Das hat die Ägypter davon überzeugt, dass es auch gut sein könne, wenn sie das Land regieren.

Dem war aber nicht so, woran ist die ägyptische Regierung jetzt gescheitert?

Ein großer Fehler Mursis war sicherlich, dass er sich keine technische Unterstützung für seine Regierung geholt hat. Die revolutionäre Kraft, mit der die ersten demokratischen Wahlen stattgefunden haben, mit der das Parlament und die Regierung in Kraft traten, wurde nicht in konkrete politische Aktionen umgesetzt. Die Erfahrungen, die die Muslimbrüder auf lokaler politischer Ebene gesammelt hatten, reichten nicht aus, um einen Staat wie Ägypten zu regieren. Auch ihre Ideologie half nicht weiter. So wurde im wirtschaftlichen Bereich nichts getan, die Touristen blieben aus, die Arbeitslosigkeit wuchs. Den Muslimbrüdern ist es nicht gelungen, die revolutionäre Kraft der Veränderung auf die Wirklichkeit umzulegen. Mit einfachen Worten gesagt, scheiterte die Mursi Regierung an ihrer Unfähigkeit.

Was wird jetzt in Ägypten geschehen?

Es ist schwierig vorauszusehen, wie sich die verschiedenen Strömungen bewegen. Was wird aus der erneuten Protestbewegung? Wie verhält man sich den Muslimbrüdern gegenüber? Die internationale Gemeinschaft setzt erneut auf Al Baradei, doch was sagt das Militär dazu? Das ist die neue erstarkte Kraft in Ägypten und die Generäle werden diese Macht nicht so leicht abgeben. Auch wird die USA ein Wörtchen mitreden wollen, da Ägypten als strategischer Partner zwischen Israel, Libyen, dem Sudan und dem Golf von Arabien sehr wichtig ist und auch bereits einiges Geld geflossen ist.

Könnten die extremen islamistischen Kräfte wie die Salafiten jetzt die Überhand bekommen?

Das glaube ich nicht, die Salafiten sind eine marginale Bewegung und haben sicherlich ihre Anhänger, doch ist Ägypten eine laizistische Gesellschaft, und würde eine fundamentalistisch religiöse Herrschaft niemals unterstützen.

Was geschieht mit den Kopten in Ägypten? Sie beteiligten sich nicht am Arabischen Frühling. Unterstützen sie die jetzige Protestbewegung?

Es ist tatsächlich so, dass die Kopten jetzt, wenn auch sehr diplomatisch, die Demonstranten gegen die Mursi Regierung unterstützen. Wahrscheinlich wollen sie bei erneuten Veränderungen doch mitreden, denn unter Mursi hat sich ihre Lage verschlechtert. Es gibt zwischen 8 und 15 Millionen Kopten in Ägypten, die Zahlen sind unterschiedlich, je nach offizieller oder inoffizieller Quellenangabe; jedenfalls ein ernst zu nehmender Bevölkerungsanteil. Mubarak hat das bewusst gesteuert, hat sogar von den Geheimdiensten Anschläge auf koptische Kirchen verüben lassen, um dann zu sagen, seht her, ich bin der Einzige, der das Gleichgewicht zwischen den Religionen wieder herstellen kann. Als ich in Kairo war, habe ich jedoch gesehen, dass es nicht immer nur um die religiösen Fragen geht, drängender ist oft die wirtschaftlich-existenzielle Situation der Menschen, und das haben Mursi und seine Muslimbrüder ignoriert.