Politik | EU-Wahlen

Oktavia Brugger: Warum Europa einen Fußtritt von links braucht

Sie ist die Überraschungskandidatin der Grünen für die anstehenden Europawahlen: Warum Oktavia Brugger, langjährige Journalistin und beliebte Rom-Korresponentin der RAI Südtirol, mit linken Kräften aus ganz Europa in den Wahlkampf zieht statt ihre Pension zu genießen.

Frau Brugger, von der pensionierten RAI-Korrespondentin zur Grünen EU-Parlaments-Kandidatin: Wie lange haben Sie gebraucht, um sich für diesen Schritt zu entscheiden?
Oktavia Brugger: So ungefähr zehn Tage waren es schon. Ich muss auch sagen, dass ich ein anderes politisches Engagement kaum eingegangen wäre. Aber Europa finde ich einfach spannend, auch weil das nächste EU-Parlament erstmals den EU-Kommissionspräsidenten wählen wird – für den es mit Martin Schulz und Alexis Tsipras schon zwei konkrete Kandidaten gibt.

Sie treten als Kandidatin der Südtiroler Grünen an, die sich an den Europawahlen auf der Plattform des gerne als linksradikal titulierten Griechen Tsipras beteiligen. Ist das tatsächlich ihre Liga oder ist Europa derzeit nur von links zu retten?
Sagen wir, es braucht wahrscheinlich einen Fußtritt von links, damit sich die Parteien besinnen, wie wichtig es ist, dass man Europa nicht fallen lässt bzw. die Wirtschaftspolitik in die Richtung korrigiert, damit das Gesamtprojekt Europa gerettet werden kann. Und Alexis Tsipras tritt eben für ein anderes Europa ein, für ein Europa, das weiterhin an der Euro-Zone festhält, das wieder mehr Wohlstand und Sozialstaat produziert und nicht nur auf eine rigide Sparpolitik setzt, wie sie Mitte-Rechts propagiert.

Alexis Tsipras will darüber hinaus eine Schuldenkonferenz...
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ie sich am Modell der Londoner Konferenz von 1953 orientiert. Damals haben die Siegermächte Deutschland die Hälfte der Kriegsschulden erlassen und für die andere Hälfte einen 30-jährigen Rückzahlungsplan vereinbart, um zu verhindern, dass die Reparationszahlungen erneut zu unabsehbaren Folgen wie dem Aufstieg Hitlers führen. Heute geht es darum, eine Lösung zu finden, wie man die Schulden der Mittelmeerländer abbauen kann, damit Europa nicht auseinander fällt – und wie verhindert werden kann, dass Europa ganz nach rechts abdriftet. Denn die Gefahr besteht bei diesen EU-Wahlen. In Frankreich will jeder Dritte Marine Le Pen wählen. Deswegen braucht es ein Gegengewicht, auch wenn es die verhasste Linke ist. Denn die sozialdemokratischen Parteien schaffen es einfach nicht, irgendetwas Vernünftiges durchzusetzen.

„Genauso gesagt werden muss, dass sich auf dieser alternativen Plattform für ein anderes Europa auch viele Bürgerbewegungen und Gruppen wie die NO TAV, Occupy Wall Street oder Indignados finden."

In Italien kandidieren nicht nur die Grünen und die SEL unter dem Listenzeichen Tsipras, sondern beispielsweise auch Rifondazione Comunista.
Ja, auch das muss man sagen. Genauso gesagt werden muss, dass sich auf dieser alternativen Plattform für ein anderes Europa auch viele Bürgerbewegungen und Gruppen wie die NO TAV, also die Gegner der Hochgeschwindigkeitsverbindung, Occupy Wall Street und Indignados finden.

Befremdet Sie das?
Ich kandidiere als Unabhängige und identifiziere mich jetzt nicht mit diesen Gruppen bzw. würde nicht mit ihnen auf die Barrikaden steigen. Doch sie sind ein Teil der Zivilgesellschaft und eine gesellschaftliche Realität, die eben auch in diese Liste eingeflossen sind. Womit ich mich aber sehr wohl identifiziere, sind die zehn Punkte von Tsipras, die von der Notwendigkeit einer Schuldenkonferenz bis hin zur ökologischen Produktion reichen. Es geht bei dieser Plattform, der sich auch in anderen europäischen Ländern noch Listen anschließen werden, einfach darum, dass alle an einem Strang ziehen und mit gebündelter Kraft versucht wird, im Europaparlament etwas zu verändern.

Dass dies nicht so einfach ist, hat vor ihnen bereits eine Berufskollegin wie Lilli Gruber oder ein Landsmann wie Reinhold Messner einsehen müssen. Auch auf salto.bz wurde das Europaparlament in Kommentaren zu Ihrer Kandidatur als demokratisches Feigenblatt bezeichnet. Die Lust nach dem Rentenskandal überhaupt zur EU-Wahl zu gehen, sei gering, hieß es da unter anderem. Entmutigt all das nicht?
Im Gegenteil, genau deswegen habe ich mich für eine Kandidatur entschieden. Ab und zu braucht man ein bisschen Mut und in Zeiten, in denen alle sehr politikmüde sind, ist es nicht leicht, sein Gesicht herzugeben. Doch ich mache das vor allem, weil ich dagegen ankämpfen will, dass man gegenüber Europa resigniert. Ich mag das nicht, wenn jetzt alles nur mehr schlecht gemacht wird. Die große Idee von Europa war gut und ich glaube, jetzt müssen wir versuchen, dort wieder zurückzukommen.

„Man spürt derzeit wirklich eine große Feindseligkeit gegenüber allem und es ist schwer, noch irgend etwas Überzeugendes rüberzubringen. Da kommt eine große Enttäuschung, Wut und Resignation herüber."

Die Voraussetzungen für politischen Enthusiasmus sind in diesen Tagen in Südtirol aber nicht die besten...

Ja, ich muss sagen, ich fühle mich im Moment auch eher beklommen. Man spürt derzeit wirklich eine große Feindseligkeit gegenüber allem und es ist schwer, noch irgend etwas Überzeugendes rüberzubringen. Da ist wirklich eine große Enttäuschung, Wut und Resignation zu spüren. Der Rentenskandal hat eine gewaltige Erschütterung verursacht, auch weil einfach davor schon zu viel passiert ist.

Mit Alexander Langer, Reinhold Messner oder Sepp Kusstatscher haben die Grünen schon eine lange Tradition im EU-Parlament. Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen auf ein Mandat ein?
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Die Grünen sagen, sie stehen gut. Doch für mich ist das Wichtigste nun etwas Konkretes zu tun. Ich bin selbst im Wohlstandseuropa aufgewachsen und habe alle seine Vorteile genossen, und darum will ich jetzt auch einen Beitrag zu seiner Rettung leisten. Denn man kann jetzt das Kind nicht einfach mit dem Bade ausschütten. Das ist, was mir bei Tsipras so gefällt: Auch er sagt:  Europa gehört nicht abgeschafft, es gehört vielmehr verändert und gerettet.

Gibt es rund um ihre Kandidatur nun eigentlich heftige politische Diskussionen mit ihrem Bruder Siegfried?
Nein, überhaupt nicht. Er hat gemeint, du kannst nichts verlieren, entscheide dich frei. Ich bin 62 Jahre alt, habe eine Rente, keine Kinder, die ich versorgen muss. Ich riskiere halt ein paar Tausend Euro für den Wahlkampf. Andere haben Zeitungskampagnen im Spiegel oder der Zeit gemacht, um ihre Überzeugung für Europa zum Ausdruck zu bringen. Ich mache es eben auf meine Art. Selbst wenn ich nicht durchkomme, habe ich nun die Chance, drei Monate für ein Europa zu werben, das mir am Herzen liegt.

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Mensch Ärgerdi… Do., 06.03.2014 - 11:28

Ich verstehe aber nicht wieso mann einer Seits sich zusammen mit den NoTAV aufstellt und andererseits sich klar von der fünf Sterne Bewegung distanzieren will. Nur weil für Grillo eine schärfere Einwanderungskontrolle steht? Bei Großbauten, erneuerbaren Energien, Staatsschulden usw sind doch die Positionen mehr oder weniger die gleichen oder nicht?

Do., 06.03.2014 - 11:28 Permalink
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Kurt Spornberger Do., 06.03.2014 - 15:18

Ach mensch, ärger dich doch net. Man kann ja in den Themen doch zusammenarbeiten. Sich von Grillo zu distanzieren ist doch durchaus ein Zeichen von Intelligenz, auch wenn M5S viele gute Sachen macht.

Do., 06.03.2014 - 15:18 Permalink
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Lupo Cattivo So., 09.03.2014 - 21:26

Was wählen wir am 25.Mai 2014? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Wir wählen definitiv keine EU-Regierung. Wir stimmen auch nicht darüber ab, ob wir dieses “Europa” überhaupt wollen oder nicht. Die EU ist in ihrer jetzigen Form eine Räterepublik mit weitreichenden Ermächtigungen an selbstständige Organe wie ESM und EZB.
Warum?
Die EU-Kommission ist die EU-Regierung und sie geht nicht aus den EP-Wahlen hervor. Die Mitglieder der EU-Kommission werden von den Regierungen der Nationalstaaten ernannt. Die Kommission hat das alleinige Initiativrecht im EU-Gesetzgebungsverfahren. Das Parlament, welches wir am 25.05.2014 wählen sollen, hat nicht einmal das Recht, Gesetze zu initiieren.
Das EP-Parlament kann keine Gesetze einbringen, kann sie aber annehmen bzw. ablehnen. Dies tut es gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union, welcher aus den Regierungen der Nationalstaaten besteht. Das sind genau die Jungs, die auch die EU-Kommission stellen. Laut Vertrag von Lissabon darf das Parlament allerdings nicht alles abstimmen. Bei Wettbewerbspolitik und bestimmten Feldern der gemeinsamen Handelspolitik sowie der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muss das Parlament nur angehört werden.
Wer regiert in der EU wirklich? Die Regierung der EU besteht aus drei Säulen. Die klassische Exekutive bildet die bereits angesprochene EU-Kommission. Die Finanzhoheit über die nationalen Haushalte hat der ESM. Er handelt selbstständig und immunisiert von Rechtsstaatlickeit, wie es im Vertragstext heißt. Der ESM kann jederzeit, unwiderruflich und bedingungslos Geld von den Nationalstaaten abschöpfen. Mit diesem Geld kann er bestimmungsgemäß Banken und einzelne Staaten “retten”. Gerettete Banken werden der Bankenaufsicht zugeführt, während gerettete Staaten von der sogenannten Troika beaufsichtigt werden. Diese besteht auch aus der EZB, die dritte Säule der EU-Regierung. Die Direktoren werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt.
Man kann die “Vereinigten Staaten von Europa” gut finden, oder ablehnen. Diese Wahl hat damit nichts zu tun.

So., 09.03.2014 - 21:26 Permalink