Wirtschaft | mehr als Mode

Der Stoff, aus dem die Zukunft ist

Ehrlichkeit und Nachhaltigkeit in der Textilbranche liegen Fachmann Richard Vill am Herzen. Dieser Tage gibt es Gelegenheit, über mehr als Mode zu sprechen.
Naturfasern auf Schloss Maretsch
Foto: textilfestival.eu

Der Rahmen könnte etwas trügerisch wirken. Nicht aus der Zeit Gefallenes, Antiquiertes zieht dieser Tage ins mittelalterliche Gemäuer von Schloss Maretsch ein. Sondern vielmehr Initiativen, die Tradition kreativ in die Zukunft mitnehmen. Genau das ist der Anspruch der Macher des Textilfestivals an diesem Wochenende. Einer davon ist Richard Vill. Und Vill weiß, warum er das Festival gerade in Bozen organisiert: “Aufgrund seiner zentralen Lage in Europa hat Südtirol über viele Jahrhunderte eine große Textiltradition und Geschichte. Die Entwicklung der Technik und der Herstellungsverfahren zu nachhaltigen Produkten, verknüpft mit innovativem Design, zeigt mit seinen lokalen Schwerpunkten ein großes Zukunftspotential.”

 

Fast vergessene Fasern

 

Zum sechsten Mal findet vom 14. bis 16. Oktober auf Schloss Maretsch das Textilfestival statt. Ins Leben gerufen als “Branchentreffpunkt der Kreativen und Textilliebhaber” und Plattform für junge Talente, “um sich in einem immer schwierigerem Umfeld bereits etablierter Designer und Manufakturen weiter zu entwickeln”, heißt es in der Einladung. Hinter dem Festival steht die 2016 als Genossenschaft gegründete Europäische Textilakademie mit Sitz in Bozen. Sie vereint Handwerk, Industrie, Landwirtschaft und Wissensträger rund um das Textilhandwerk. Präsident der Akademie ist der Südtiroler Modemacher, Textilfachman und Unternehmer Richard Vill. Seit Beginn seiner Laufbahn im Textil- und Modesektor ist Vill vor allem von einem Material gefesselt: das Leinen. Schon seine erste Kollektion bestand ganz aus Leinen. In einem Interview mit franzmagazine erklärt Vill seine Faszination für die Naturfaser, die aus Flachs gewonnen wird: “Leinen ist ein archaisches und gleichzeitig auch ein lokales Material. Ich möchte nicht mit einem Material arbeiten, das hier nicht wächst.”

 

“Hier”, das ist Südtirol. Heute gibt es nur noch wenige heimische Fasern für die Textilproduktion: Neben der Schafwolle sind es Flachs und Hanf. “Beide Pflanzen werden nur mehr in kleinen Mengen angebaut”, weiß Vill. Früher war es anders, “die Textilproduktion vielfältiger”, erklärt der Fachmann. “Bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg gab es im historischen Tirol die Seidenproduktion, die zeitweise zum zweitwichtigsten Wirtschaftszweig in  Tirol gehörte. Und bis in die 1950er Jahre hatte nahezu jeder Bauernhof sein eigenes Flachsfeld. Hanf wurde aufgrund der schwierigen Verarbeitung der langen Pflanze wenig angebaut – und heute nahezu vergessen ist die Nesselfaser, die aus Brennnesseln gewonnen wurde.”

 

Der Preis der Wahrheit

 

Auf alte Techniken und Stoffe besinnen, Tradition und Handwerk bewahren, regional und nachhaltig produzieren: Dieser Mission haben sich Richard Vill und die Europäische Textilakademie verschrieben. Doch sie scheint unmöglich zu verwirklichen in einer Branche, in der die Entfernung und Entfremdung zwischen Hersteller und Abnehmer immer größer wird. Die Produktion von Kleidung und anderen Textilien findet heute großteils in Massen und an Standorten tausende Kilometer entfernt statt, der Verkauf immer häufiger digital. Wie kann es da gelingen, bei den Kunden hier ein Bewusstsein und eine Wertschätzung zu schaffen, die sich auch in der Akzeptanz für einen angemessenen Preis niederschlägt? “Über ein Vorleben, ständige Aufklärung und ein dementsprechendes Angebot”, ist Vill überzeugt. 

 

Als zentrales Problem sieht er, dass zwischen Kostenwahrheit und Kostenwirklichkeit nicht unterschieden werde: “Die Kostenwahrheit ist ein individuelles Empfinden des Preises für ein Produkt. Dieser Preis entspricht aber oft nicht der Kostenwirklichkeit. Dafür müssen Faktoren wie der CO2-Ausstoß bei langen Transportwegen, die Missstände bei den Arbeitsbedingungen, nach wie vor die Kinderarbeit, Krankheitsursachen bei Textilproduktionen, die Überproduktionen, die auf dem Müll landen etc. einkalkuliert werden. Die Differenz zwischen der Kostenwahrheit und der Kostenwirklichkeit muss schlussendlich die Allgemeinheit bezahlen.”

Mit einem Beispiel verdeutlicht Vill, was er meint: “Wenn ich 10 Euro in der Tasche habe, werde ich 9,50 Euro für ein T-Shirt in Ordnung finden – wohlwissend aber, dass es in Wirklichkeit nur zu diesem Preis angeboten werden kann, weil es unter Umständen dank Kinderarbeit und mit einem Verbrauch von 10 bis 12.000 Liter Wasser gefertigt wurde. Die Menschen müssen wissen, dass die Differenz zwischen ihrer persönliche Wahrheit und der Wirklichkeit mitunter sehr groß ist – und nicht bepreist wird. Wir zahlen alle für sie, in Form von sozialer Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung etc.

 

Was tragen wir wirklich?

 

Um aufzuklären und dafür zu sensibilisieren, was in einem Kleidungsstück oder sonstigen Textilien steckt, gibt es mittlerweile, ähnlich wie im Lebensmittelsektor, eine Reihe an Zertifikaten. “Einige davon seriöser, andere weniger – und leider beziehen sich diese Zertifizierungen in den meisten Fällen nur auf bestimmte Teilbereiche von textilökologischen Kriterien”, zeigt Vill auf. Außerdem, fährt er fort, “wird das erst kürzlich von der Europäischen Kommission überarbeitete Lieferkettengesetz von vielen Staaten ausgehebelt. Darunter auch Italien”.

Die Digitalisierung in der Mode ist nicht mehr wegzudenken, allerdings schmerzt es mich, wenn ich sehe, dass die Kunden – berechtigterweise – größtenteils nach dem günstigsten Angebot suchen
- Richard Vill

Geht es nach Vill, müssten anstatt der Größe und der Zusammensetzung eines Kleidungsstückes etwa die Menge an verursachtem CO2 bei Produktion und Transport, die Chemikalien, mit denen die Stoffe behandelt und gefärbt wurden, auf die Etikette. Alles andere sei “Irreführung des Konsumenten”. Entsprechend eifrig arbeitet die Europäische Textilakademie seit Jahren an einem Zertifizierungskonzept, “das alle notwendigen Kriterien und Anforderungen erfüllen kann”.

Inzwischen nutzt Richard Vill auch Gelegenheiten wie “sein” inzwischen zwei Mal im Jahr stattfindendes Textilfestival, um zu sensibilisieren. Mit dabei sind an diesem Oktoberwochenende wieder ausgewählte Aussteller handwerklicher Textilarbeit aus dem In- und Ausland: Manufakturen, Mode- und Textildesigner sowie Künstler präsentieren ihre Werke.