Gesellschaft | Die Frauen

Frauen! Aufgewacht!

Vom Feminismus und Kopftüchern, oder auch: Warum sprechen wir über "Kopftücher", und nicht über (ammesso e non concesso) "Unterdrücker"?
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Der jüngste Beitrag von Oktavia Brugger, die entlang des jüngsten Romans von Houellebecq (das Buch soll dieser Tage in der deutschen und italienischen Übersetzung auf den Markt kommen), die Frage aufwirft, ob und falls ja welche Gefahren (auch) uns, den westlichen, vorgeblich emanzipierten aber jedenfalls einigermaßen freien und Männern ein bisschen gleichgestellten Frauen drohen, falls – wie Houellebecq fantasiert – Europa islamisiert würde, und natürlich die „ewige Frauenfrage“: All das hat den einen und anderen Wirbel verursacht, in meinen Denkstuben.

Zwar habe ich Houellebecq in einer französischen Nachrichtensendung sagen hören, er beschreibe keineswegs einen „radikalen Islam“, sondern das gerade Gegenteil; gleichwohl tragen in seiner Geschichte Frauen (wieder) einen Schleier/ein Kopftuch – ein Stück Stoff, dem einiges angstauslösendes Potential innezuwohnen scheint. Aber dazu später. Auch sagt Houellebecq in jenem Interview, er wisse von keinem „Roman, der die Geschichte verändert hat“. Damit hat der Schriftsteller wahrscheinlich Recht – ob es reicht, verängstigte und besorgte, christliche Gemüter zu beruhigen, bleibt unklar.

Was mich aber am genannten Beitrag von Frau Brugger ganz ausnahmsweise nachdenklich gemacht hat: Er ist m. W. der erste, der auf Salto zu so genannten „Frauenfragen“, Feminismus-Dingen und Ähnlichem veröffentlicht wurde, aber trotzdem (!) sehr ausnahmslos und sehr wohlwollend aufgenommen wurde. Das ist eine nicht unbeträchtliche Leistung, die zum Teil auf Frau Bruggers Persönlichkeit, ihre Professionalität, ihr journalistisches Standing und vielleicht auch auf die Ereignisse in Paris zurück zu führen sein mag. Ich vermute aber – insofern ist die ausnahmslose Bejahung dieses Textes durchaus bedeutungsvoll – dass in Wahrheit weniger der "feministischen" und sehr viel mehr der islamkritischen Strömung in Frau Bruggers Text gehuldigt wurde, und den diesbezüglichen Bedenken, die sie vorbringt.

Das hat mich sehr irritiert, denn es würde doch bedeuten, dass „die Frau“, ihre Belange und ihre Rechte von den Lesern (und Leserinnen, gegebenenfalls) hier gewissermaßen instrumentalisiert, unbemerkt und ungestraft, als Vehikel missbraucht würden, für ganz andere „Interessen“. Darf ich das verstörend finden? Ungerecht? Darf es mich nachdenklich machen? Diese meine Vermutung bezieht übrigens Nahrung auch aus einem anderen, ziemlich interessanten und ähnlich gelagerten Phänomen, das ich schon seit geraumer Zeit  beobachte: dass nämlich über der „Kopftuchdebatte“ und der Kleiderordnung muslimischer Frauen sogar die üblicherweise eingefleischtesten, uneinsichtigsten und hartnäckigsten Chauvinisten, Maschilisten und Angehörige diverser Männerbünde zu eifrigen Feministen und Verfechtern der „Rechte der Frau“ mutieren.

Interessant, oder? Es wird ja viel von „Projektionsflächen“ gesprochen, dieser Tage – Pegida sei eine Projektionsfläche, ISIS sei eine Projektionsfläche; jetzt also auch „die Frau“ im allgemeinen, und "die muslimische Frau mit Kopftuch" im Besonderen, als Projektionsfläche.

Oder wollen – sollen – wir tatsächlich glauben, dass die große, befürchtete Gefahr für das – säkulariserte? – Europa maßgeblich von kopftuchtragenden Frauen ausgeht? Sollen (wollen!) wir tatsächlich glauben, dass ein Kopftuch aus einer modernen Frau eine „rückständige“, und kein Kopftuch aus einer „rückständigen“ eine moderne Frau macht? Sollen (wollen!) wir tatsächlich das Wesen, die Persönlichkeit, die Intelligenz, die Autonomie einer Frau an einem Stück Stoff festmachen? Mit Verlaub – ich fürchte, die Verachtung oder auch „nur“ Nichtachtung der Idee „Frau“ manifestiert sich doch in dieser ihrer Reduzierung auf ein Stück Stoff ungeheuer stärker als in der Idee, dass manche Frauen sich entscheiden, ihre Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, einer Religion, einer Gemeinschaft über ein Kleidungsstück zu transportieren. Wird denn hier etwa nicht Frauen jegliche Fähigkeit zum eigenständigen Denken und Wollen à priori abgesprochen? NB: Gerade wir SüdtirolerInnen haben doch übrigens sehr viel Übung in diesem menschheitstypischen Usus, Zugehörigkeit und sogar gesellschaftlichen Status über die eigene Kleidung – einst auch Tracht genannt - zu signalisieren, sich über Kleidung zu „outen“, sich abzugrenzen und zu erklären. Das geht auch ohne Religion.

Erinnert sich noch jemand an das Konzept von den „Mächtigen, die ungeprüft weitergehen können“? Doch, hier findet dieser Gedanke einmal mehr (s)einen sehr schönen Ausdruck: Oder wäre es etwa nicht sinnvoller, den „Unterdrücker“ zu thematisieren, zu sensibilisieren, und nicht „die Unterdrückte“? Geht etwa nicht die Unterdrückung, um die es scheinbar gehen soll, zweifelsohne vom Konzept „Mann“ aus? Und doch wird fast ausschließlich „die Frau“ thematisiert, und dadurch das gesellschaftliche Hauptaugenmerk vom Manne fort, und hin zur Frau gelenkt.

Ja. Wir arbeiten uns an „Frau“ ab, derweil „Mann“ ungeprüft weitergeht. Ganz schön raffiniert.

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Salto User
Manfred Gasser Fr., 16.01.2015 - 22:40

1. Du hast recht, Islamkritik ist im Moment in, und wenn man dann noch,wie es Frau Brugger gut macht, Frauenthemen damit verknüpft, kommt das sehr gut an. 2. Natürlich dient Kleidung dazu sich abzugrenzen, egal ob Tracht, Kopftuch, Lederjacke, Sarner, Jesuslatschen oder sonst was. Aber da besteht immer auch das Risiko der Ausgrenzung, und genau da muss jeder selbst entscheiden, wieweit er/sie gehen kann ohne von der Mehrheit der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, ob zu Recht oder nicht sei dahingestellt. Wichtig ist nur, dann nicht den anderen die Schuld dieser Ausgrenzung zu zuschieben.
3. Die von dir beschriebene Unterdrückung findet sich in jeder Gesellschaft, meistens religiös bedingt, aber eben nicht nur und nicht immer.

Zum Schluss noch eine kleine Anmerkung: Alle diese Diskriminierungen sind nicht frauen- sondern typusspezifisch.

Fr., 16.01.2015 - 22:40 Permalink
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Sylvia Rier Di., 20.01.2015 - 09:25

Antwort auf von Manfred Gasser

Wie meinst du "typusspezifisch"? Dass Diskriminierungen nur an einem bestimmten Typ Frau "verfangen"? Oder dass nur ein bestimmter Typ Mann diskriminiert? Wenn dem so wäre, dann müsste aber doch ein sehr maßgeblicher Teil der weiblichen bzw. männlichen Welt diesem Typus angehören - anderenfalls wir doch diese Ungleichheiten gar nicht hätten? Aber ich dich wohl falsch bzw. gar nicht verstanden?

Di., 20.01.2015 - 09:25 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Di., 20.01.2015 - 17:52

Antwort auf von Sylvia Rier

Du hast mich schon verstanden, du musst bei deiner Frage nur an der Stelle von Frau "Mensch" schreiben,und an der Stelle von Mann "der Gesellschaft". Versuch es mal, und wenn du dann noch Fragen hast,........?
Aber wahrscheinlich ist dir das zu allgemein, zu wenig frauenspezifisch, also für dein grosses Thema einfach nicht geeignet.

Di., 20.01.2015 - 17:52 Permalink
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Sylvia Rier Di., 20.01.2015 - 09:22

Oliver, willst du mir jetzt sagen, dass alle Muslime, die verlangen, dass (ihre) Frauen ein Kopftuch tragen, aber auch alle Männer, die weibliche Arbeit geringer achten/werten = bezahlen, als männliche Arbeit Psychopather, Sadisten oder Narzisten sind? Eigenwillige Position =D Nein, ich würde weniger "Rahmenbedingungen" sagen, als vielmehr "Wertewandel" (Paradigmenwexel?) und hauptsächlich würde ich mir wünschen, dass die aktive Rolle im Sinne dieses Wertewandels nicht (immer) der Frau angehängt/zugeschoben wird, derweil der Mann passiv bleibt und bestenfalls in einer Zuschauer-/Beobachterrolle verharrt. Umgekehrt wäre m. E. richtig/er.

Di., 20.01.2015 - 09:22 Permalink
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Sylvia Rier Mi., 21.01.2015 - 08:01

Oliver, einstimmig angenommen scheint mir, dass wir NICHT über Psychopathen, Narzissten, Sadisten reden. Die sind - hoffentlich - eine kleine (gewissermaßen vernachlässigbare) Geringfügigkeit und für Maßnahmen und Argumente eh nicht empfänglich, wie du ja selbst sagst. Ja aber dann, und wenn dem so ist (und davon gehen wir aus): Warum tragen so viele muslimische Frauen Schleier/Kopftuch (alle sagen, freiwillig tun sie's nicht)? Warum dann gibt es "Frauenparkplätze"? Und "Sicherheitstipps für Gitschn"? Wohl - ich kann nicht anders als so daraus zu schließen - weil eine beträchtliche und jedenfalls "ganz normale" Mehrheit in der Bevölkerung einem gewissen Konsens folgen (erliegen) und die Ursachen für Kopftuch, Frauenparkplätze, Beschneidung, Sicherheitstipps usw. usf. hinnimmt, und akzeptiert, bzw. die Frau als ursächlich dafür erkennt und benennt, und nicht den Mann. Welche Mittel, fragst du mich? ICH weiß das nicht, und das ist ja auch meine Frage: Warum diskutieren wir „das Kopftuch“ (oder auch: Frauen) und nicht die, die „das Kopftuch“ verlangen (oder auch: Männer)?

Mi., 21.01.2015 - 08:01 Permalink
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Christian Mair Mi., 21.01.2015 - 11:04

Tolle Kommentare und Verlauf der Diskussion! Es bestätigen sich die Thesen von Rommelspacher: Es geht um die Frage, welches Konzept von Geschlechterverhältnis für unsere Gesellschaft verpflichtend gemacht werden soll. Die zweite wichtige Frage, die hinter dem Kopftuchstreit stehe, sei die nach dem Stellenwert von Pluralismus und Religionsfreiheit in der deutschen Gesellschaft .
mögliche Antworten:
1. sich auf Augenhöhe begegnende aufgeklärte Menschen?
2. "Das" Kopftuch dient viell. der Abgrenzung ist aber noch nicht zwingend Zeichen der "Unterdrückten", so muss dies in einer pluralistischen Gesellschaft als Zeichen der Religionsfreiheit auch erlaubt sein; die Frage nach Räumen der Gesellschaft, die man frei von Zeichen hält um eine Integration zu fördern ist viell. unabhängig davon zu sehen.

Mi., 21.01.2015 - 11:04 Permalink