Gesellschaft | schule II / Nordlicht blog

lebensschule statt lernschule

im 15. jahrhundert wurden buchstaben einzeln auf täfelchen geschrieben. das verstehen eines wortes und das lesen oder schreiben eines buchstabes war nicht miteinander verknüpft. besteht der fortschritt in schulen im 21 jahrhundert nur im austausch des mediums kreide mit bleistift?
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wenn man sich die zum gähnen führenden debatten auf politischen ebenen im ressort schule und bildung anhört, könnte dieser etwas hinkende vergleich wirklich zu einer chronisch hypochondrischen krankheit werden. in österreich etwa reproduziert sich seit jahren eine debatte nach der anderen über die gemeinsame schule bis 14 jahren. kopfschüttelnd stellt es dabei vielen direkt in den schulalltag involvierten menschen die haare auf. geht es doch um viel einschneidendere themen rund um das gestalten einer effektiven lernumgebung. lernen fürs leben, nicht für die schule, sagten schon die alten römer. lebende vokabel- und formelarchive verlassen orientierungslos den bürokratieriesen schule.

nicht zuletzt versuchte der österreichische film "alphabet" von Erwin Wagenhofer die eingefrorene diskussion mit der hitzigen aussage: "98% aller kinder kommen hochbegabt zur welt. nach der schule sind es nur noch 2%." aufzutauen. die gesellschaft heute hat sich schon gewandelt. dienstleistung, mediatisierung, digitalisierung, flexibilität, kreativität sind nur einige wichtige schlagworte in dieser hinsicht. die buchschule ist überholt, schon lange ist wissen immer und überall verfügbar. wissen, das effektiv gefunden und kritisch hinterfragt werden soll. ein gespannter wissensfaden kann dann auch weitergesponnen werden. leider hängt er in vielen schulen nur lasch in den klassenzimmern und hält bestenfalls noch die klassendeko zusammen.

anstatt die wissbegierigen 6 jährigen medial zu bilden, werden den dann 14 jährigen ihre smartphones in den schulen verboten. sollte die schule heute ihr klientel nicht mit zeitgemässen lernutensilien ausstatten, sodass das mitbringen eigener geräte obsolet wird? ja, der kühlschrank war sicher eine unheimliche erfindung. doch wer sich wundert, dass die banane im kühlschrank braun wird, wird deshalb wohl nicht den kühlschrank zur entsorgungsstelle bringen. vielmehr fehlt das wissen, wie man eine banane am besten lagert. so verhält es sich ähnlich mit smartphones. kompetenzen entwickeln, entscheidungen treffen, vernetzung und kreativer umgang mit problemstellungen sind ziele, die mit tafel und kreide (stellvertr. für das heutige schulsystem) erschwert bewältigt werden können.

die vorherrschende maxime in wirtschaft und politik heißt höher - weiter - schneller. der gegenentwurf könnte heißen: tiefer - dichter - intensiver. wie Gerald Hüther schon erläutert: je mehr kleine weit verzweigte wege ein mensch zur verfügung hat, desto grösser ist sein repertoire an strategien und fähigkeiten probleme zu lösen. die intensität der vernetzung zeichnet die handlungsfähigkeit eines menschen aus. und ist es nicht das, was ein junger "gebildeter" mensch sein soll: handlungsfähig? neue wege, eine lebensschule statt einer lernschule zu entwerfen, werden von vielen menschen und organisationen (wenn noch nicht beschritten dann doch) schon beschildert (lernwelt.at, schulen-der-zukunft.org, schule-im-aufbruch.de, tedsole.tumblr.com und viele mehr).

wir sollten uns darauf einlassen, erkunden, berichten und an einem wegenetz für junge menschen arbeiten, damit jeder, wirklich jeder innerhalb seines schwierigkeitsgrades sein ziel erreichen kann. dazu ermutigen will uns auch Ken Robinson in seinen unterhaltsamen und bewegenden 20 minuten bei TED.

http://www.youtube.com/watch?v=wX78iKhInsc#t=41

 

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Profil für Benutzer Stefan Troyer
Stefan Troyer Mo., 20.01.2014 - 08:30

Ich stimme dem Blogeintrag zu 95% zu, allerdings bedarf es einer Präzisierung.
Zu oft wird das überall und jederzeit verfügbare Wissen als Entschuldigung dafür verwendet, dass heute eigentlich gar kein Wissen im Kopf mehr notwendig wäre, weil man ohnehin alles jederzeit und überall nachschlagen kann.
Wenn ich aber ein Problem lösen oder Zusammenhänge herstellen muss, sei es in natur- als auch in geisteswissenschaftlichen Fachgebieten, dann kann ich das nicht tun, wenn ich nicht zumindest irgendwo einmal gehört habe, dass es da etwas gibt, was helfen könnte.
Vereinfacht gesagt: Ich muss den Pythagoräischen Lehrsatz nicht unbedingt auswendig im Kopf haben, um aus Hypothenuse und Ankathete die Gegenkathete ausrechnen zu können, aber ich muss zumindest einmal gehört haben, dass es da eine Formel gibt, sonst werde ich gar nicht auf die Idee kommen, dass so etwas überhaupt berechenbar ist.
Das Gleiche gilt z.B. für den Sprachunterricht: ich kann alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlagen, aber wenn ich eine Diskussion führen oder mich auch nur auf Englisch mit jemandem unterhalten will, dann brauche ich einen gewissen Wortschatz im Kopf, denn wenn ich jedes zweite Wort nachschlagen muss, wird jede Unterhaltung im Keim ersticken.
Für die "Lateindiskussion" gilt dasselbe: Ich habe praktisch mein ganzes Latein vergessen, aber die grammatikalischen Grundlagen vereinfachen mir heute noch das Erlernen neuer Fremdsprachen.

Mein persönliches Fazit zu den Lehrplänen: Entrümpeln ja bitte, ungefragtes Über-Bord-Werfen nein!

Mo., 20.01.2014 - 08:30 Permalink

Danke für das feedback! Stimme dir völlig zu, dass auf ein wissen im kopf nicht verzichtet werden kann. dass aber vollgestopfte lehrpläne in kinderköpfe bis zum überquillen gegossen werden, ohne berücksichtigung auf individualität der kinder, ist nicht mehr zeitgemäss. wissen wird teilweise noch ohne zusammenhänge zu praktischen anwendungen vermittelt. das meint auch die einleitung dieses blogeintrags mit dem vergleich des erlernens eines buchstabens im 15.jhdts. wenn heute eine viertklässlerin die umwandlung von dm zum quadrat in cm zum quadrat so erlernt, dass einfach nur zwei kommastellen bzw nullen zu verschieben sind, und nach der obligatorischen schularbeit das thema abgehakt ist, kann mit solch angeeignetem wissen nicht weitergearbeitet werden. das gilt auch für den sprachunterricht. herrscht dort nicht auch noch das reine vokabellernen im vordergrund, statt einer fruchtenden sinnvollen gesprächskonstruktion, die die anwendung im leben ermöglicht? dass digitale lehrmittel noch sehr spärlich wahrgenommen werden ist ein weiteres problem. die anwendungsmöglichkeit und das potenzial zeigt Sugata Mitra mit seinem SOLE projekt. nur ein miteinbezug neuer medien und reformpädagogischer konzepte führt zu bewegung im starren system. wie Ken Robinson sagt: es gibt menschen die sind unbeweglich, es gibt welche die sind beweglich, und solche die bewegen. wenn sich mehrere bewegen gibts eine bewegung. wenn wir mehrere zur bewegung ermutigen kann das zu einer revolution führen.

So., 26.01.2014 - 11:50 Permalink