Kultur | Veranstaltung

Eine Frage der Zeit

„Vigilius Sensus“: Unter diesem Titel lädt der Unternehmer Ulrich Ladurner einmal im Jahr zur Diskussion aufs Vigljoch. Das diesjährige Thema? Zeit und Aufmerksamkeit.

Was kommt heraus, wenn sich Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen an einem Ort treffen, der unserer heutigen Zeit entrückt scheint – und über das Phänomen Zeit diskutieren? Dieses Experiment ging der Unternehmer Ulrich Ladurner mit  „Vigilius Sensus 2013“ ein, der zweiten  Auflage einer Veranstaltungsreihe,  mit der er das Vigilius Mountain Resort einmal im Jahr zur Denk-Plattform für gesellschaftlich relevante Themen macht.

Welche Relevanz Zeit und Aufmerksamkeit in unserer postmodernen Gesellschaft haben, darüber waren sich die fünf Teilnehmer der Diskussionsrunde weitgehend einig: Sie wird zum Luxus, zum knappen Gut, das uns immer mehr zu entgleiten droht - oder auch zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor, wie es Gunter Bös,  Leiter des Bereichs Social Responsability  der Audi AG verdeutlichte. „Früher fraßen die Großen die Kleinen, heute frisst der Schnelle den Langsamen“, sagt er.  Für die Autoindustrie bedeutet dies immer kürzeren Fertigungszeiten für eine rasant wachsende Zahl an Modellen mit immer komplexerer Technologie. Im alltäglichen Leben gilt es dagegen die Verwendung eines fixen  Zeitbudgets von 24 Stunden zu maximieren – mit einer nie dagewesenen Zahl an Möglichkeiten, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Eines der Symbole dafür? Die neuen Medien. Flächendeckende Information rund um die Uhr, ein Geschäftsmodell, das auf die Maximierung der Aufmerksamkeit baut: „Es sind die Technologien der Attraktion, die uns zusetzen“, sagte der Architekturprofessor Georg Frank.

Die Gegenstrategie? Die Souveränität über die eigene Zeit zu behalten – oder wieder zurückzugewinnen.  Denn: „Wer diese Souveränität über seine Zeit verliert, ist hoffnungslos verloren“,  meinte Unternehmer Ladurner.  Der vielleicht angenehmste Weg zurück kann über eine ZEIT Reise führen. „Wir ermöglichen Menschen, zumindest in gewissen Zeitspannen ihres Lebens das Tempo des Alltags rauszunehmen“, erklärte Bernd Loppow, Leiter und Initiator der Reiseschiene der gleichnamigen Hamburger Wochenzeitung.  Bei manchen Angeboten verspricht dies schon das Programm  – wie bei einer aktuellen Südtirol-Reise unter dem Titel „Von der Kunst gelassen zu bleiben“. Doch auch sonst gilt bei den Reisen die Philosophie: Konzentration auf ein Thema, Entschleunigung, Raum für sinnliche Erfahrungen und Gespräche. 

Im straff getakteten Alltag ist all das weit schwerer durchzuziehen. Nicht ohne Grund, wie der Philosoph Wilhelm Schmid betonte. „Wir schreiben gerade ein Kapitel der Menschheitsgeschichte, das es nie zuvor gegeben hat.“ Wurde der Mensch bislang immer von vorgegebenen Bedingungen bestimmt – der Natur, seiner Herkunft, den meist kargen wirtschaftlichen Bedingungen, dem Pfarrer – sei er nun erstmals selbst Souverän seines Lebens. „Allerdings sind wir noch nicht darauf vorbereitet, das Ausmaß an Möglichkeiten zu bewältigen, die uns nun zur Verfügung stehen“. Die Folge? In unser Zeitbudget wird zu viel hineingesteckt, Menschen und Tätigkeiten erhalten nicht mehr die Aufmerksamkeit, die sie brauchen – mit bekannten Konsequenzen wie Stress, Burnout oder Depression.

Grund in Kulturpessimismus zu verfallen, gibt es aber nicht. Vielmehr gelte es neue Kulturtechniken zu erlernen, die uns befähigen, selbst „Pfarrer“ unseres Lebens zu sein. Dazu gehört auch die bessere Abgrenzung von der ständigen Informationsflut, die unsere Aufmerksamkeit besetzt. In vielen großen Unternehmen gibt es deshalb laut Gunter Bös bereits Initiativen wie E-Mail-freie Arbeitstage. Einen wichtigen Impuls zur Rückeroberung unserer Zeit gebe aber vor allem die nachrückende Generation, meinte er.  Denn die Generation XY, also die Jahrgänge zwischen 1980 und 1995, sei es nicht nur gewohnt, Aufmerksamkeit zu erhalten und fordere diese auch im Unternehmen ein. Vor allem aber poche sie mehr als die vorherigen Generationen auf eine gute Vereinbarkeit von Arbeitszeit und Lebenszeit.

Mit welcher Kulturtechnik diese letztendlich zu bewältigen ist, dazu gab es am Podium und im Publikum unterschiedliche Standpunkte. Von mehr Virtuosität im Beherrschen vieler Stimmen, wie sie Kulturmanager Peter Paul Kainrath in Analogie zum Klavierspiel vorschlug bis hin zur radikalen Streichung von Möglichkeiten, die Philosoph Wilhelm Schmid  propagiert. „Wir müssen wieder den Zustand herstellen, den wir vorher hatten – nur dass wir jetzt der Souverän sind, der wegstreicht“.  Die Technik, die unsere Gesellschaft dafür laut Schmid noch erlernen müsse, sei der „Verzicht ohne große Reue“. Denn bislang halte uns diese noch vielfach ab, unsere Aufmerksamkeit tatsächlich ganz der gewählten Möglichkeit zu schenken.

Damit nehmen wir uns auch aber auch eine der besten Möglichkeiten, Zeit zu verwenden: sie über Intensität anzuhalten – und damit tatsächlich das Maximum aus ihr  rauszuholen.