Politik | Interview

"Es gibt auch Schattenseiten"

Er sei Pro-Europäer, doch Europa dürfe nicht zu einem absoluten Wert werden, sagt Karlheinz Töchterle.
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Professor Karlheinz Töchterle, Professor für Latinistik und Gräzistik an der Universität Innsbruck, war von 2011 bis 2013 österreichischer Minister für Wissenschaft und Forschung. Aktuell ist er Abgeordneter zum Nationalrat und Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Während er auf dem Dies Academicus an der Uni Bozen (am 13. Juni) über Europas Vergangenheit sprach, geht es in dem folgenden Interview vor allem um Europas Zukunft. 

 

Es wird in letzter Zeit viel von „europäischen Werten“ gesprochen. Gibt es diese Werte überhaupt?
Ja, es gibt ein solches Wertesystem, das Europa auszeichnet, sich aber nicht nur auf Europa beschränkt, sondern meist allgemein menschliche Werte  beinhaltet. Diese sind bei Weitem noch nicht überall verwirklicht und auch bei uns ständig neu zu definieren und neu zu erkämpfen.

Worin bestehen diese Werte?
Einer dieser Werte ist sicherlich die Freiheit: Freiheit in Bezug auf die individuelle Lebensgestaltung; ein anderer Wert ist Rationalität, in privaten wie auch politischen Entscheidungen; Solidarität, Kollegialität – das sind eigentlich auch universale Werte. Oder Wahrheit: Natürlich ist Wahrheit relativ, Pilatus‘ Frage „Was ist Wahrheit?“ ist berechtigt. Und doch muss es eine Wahrheitssuche geben dürfen. Gleichzeitig gibt es offensichtlich auch die Unwahrheit. Was rot ist, kann nicht blau sein. Und als ethischer Wert ist Wahrheit auch ein europäischer Wert.

Wenn wir nun von spezifisch „europäischen“ Werten sprechen – seien sie Demokratie oder etwa Toleranz –: wie viel sind diese Werte überhaupt noch wert, falls die Mehrheit der Bevölkerung sie nicht mehr teilt? Oder falls sie dieses Europa gar nicht will?
Ein vereinigtes Europa ist natürlich auch kein absoluter Wert. Es ist sicher eine für viele wünschenswerte Option, und das hat gute Gründe: den Frieden, die wirtschaftliche Stärke, den Austausch…  Dann muss man aber sehen, dass Europa sicher auch gewisse Nachteile und Schattenseiten hat. In der Tat war ich vor dem Beitritt Österreichs zur EU eher ein Skeptiker dieser Mitgliedschaft. Dafür hatte ich verschiedene Gründe.

Welche waren diese Gründe?
​Zum einen wird es schwieriger, in so einem großen Gebilde demokratisch zu agieren. Man müsste wahrscheinlich neue Formen der Demokratie schaffen, aber noch sind wir nicht soweit. Der nächste Einwand ist ein Tirol-spezifischer: Durch den erhöhten Siedlungsdruck werden die Immobilienpreise steigen, das erleben wir gerade. Außerdem die Landwirtschaft: Mit TTIP und den niedrigen Milchpreisen sehen wir, dass uns eine globalisierte Landwirtschaft Probleme bringt. Der Hauptgrund aber war für mich der Warentransit, der mit dem Beitritt auch tatsächlich angewachsen ist. Ein vereinigtes Europa hat also Schattenseiten. Und wenn Alexander Van der Bellen sagt, er werde gegebenenfalls einem Heinz-Christian Strache keinen Regierungsauftrag geben, mit der Begründung, dass Strache gegen Europa sei, dann finde ich, dass man so nicht argumentieren kann. Europa ist nicht sakrosankt, jeder Mensch und jeder Staat muss die Möglichkeit haben, alternative Wege zu gehen.

Sie sagen, Europa bzw. die EU brächten auch Nachteile. Die Frage ist: Was überwiegt? Die Vorteile oder die Nachteile?
Meines Erachtens überwiegen ganz klar die Vorteile. Ich sehe mich als Pro-Europäer, doch ich verkenne nicht die Nachteile, die auch da sind. Wenn  für jemanden die Nachteile überwiegen, können wir ihn nicht einfach in das rechte, nationalistische Eck stellen.

Gerade nationalistisch ausgerichtete Politiker sprechen zurzeit besonders gerne von europäischen Werten – dann aber meistens, um diese Werte vor einer angeblichen Bedrohung, z.B. durch den Islam, zu verteidigen. Was halten Sie davon?
Das ist eine heikle Sache. Ich selbst schätze die gemeinsame europäische Kultur sehr, und ich sähe es ehrlich gesagt auch nicht gerne, wenn diese Kultur innerhalb von zwei Generationen einer ganz anderen Kultur Platz machen müsste. Konkret heißt das, dass ich lieber einem Kirchenprediger als einem Muezzin zuhöre. Es ist sehr banal, jedenfalls möchte ich unsere vielen Bräuche, die sehr christlich geprägt sind, nicht missen.

Welche Rolle spielt ihrer Meinung nach die humanistische Bildung, um auch diese europäische Kultur und ein europäisches Bewusstsein zu vermitteln?
Wir stehen einerseits auf der Grundlage der griechisch-römischen Antike, andererseits auf der Grundlage der christlich-jüdischen Tradition. Auf diesen Grundlagen denken, agieren und leben wir. Das reicht bis in die kleinsten Details des Alltags, zum Beispiel auch, dass wir eine siebentägige Woche haben. Die humanistische Bildung ist dabei eine Bildung, die diese Dinge bewahrt und vermittelt. Im weiteren Sinne betrifft das Humanistische nicht nur die altgriechische Tradition, sondern beinhaltet ein allgemeines „humanum“, das es in einem christlich-abendländischen Verständnis betont.

Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der internationalen Kooperation zwischen europäischen Universitäten?
Es sieht gut aus, aber manches läuft meines Erachtens zurzeit in die falsche Richtung. Ich finde, dass wir uns im Bemühen, die europäische Mobilität zu unterstützen und zu fördern, zu sehr ins Formalistische und Bürokratische begeben haben. Ein Hauptkritikpunkt, anhand dessen das sehr gut zum Vorschein kommt, sind die ECTS-Punkte (European Credit Transfer System). Die bergen die Gefahr in sich, Studienerfolge rein über Arbeitszeit zu definieren. Zu den Kritikpunkten gehört auch die zunehmende Modularisierung und Fragmentierung des Studiums. Ansonsten schreitet aber die europäische Mobilität voran: Auch in Österreich haben wir immer mehr Studenten, die ins Ausland gehen, sowie Ausländer, die bei uns studieren, und das ist gut so.