Gesellschaft | Das erste Jahr

Windelduft

Ein Jahr, eine Kerze und ein dreifach Hoch! Lass Dir gratulieren! Bussi links, Bussi rechts und ein Prosit. So ein Quatsch! Salto so oberflächlich feiern zu wollen, würde seinem selbstgestellten Anspruch nicht gerecht werden.

Liebes Salto,

Ein Jahr hast Du uns jetzt begleitet. Gib es zu! Bild des Tages, Pressespiegel, ... ein tickendes Uhrwerk bist Du nicht geworden. Auch gehört Dir nicht die erste Schlagzeile am Morgen. Du verwöhnst uns nicht mit zum Frühstück verdaubaren Agentur-Dreizeilern, sondern quälst uns mit dem Kater der langen Debatten bis tief in die Nacht des Vortages, geführt bis zur Erschöpfung der Kommentatoren und wohl auch der Leserinnen, aber niemals mit Anspruch auf Erschöpfung des Themas. Weil sich Wahrheiten eben bestenfalls asymptotisch offenbaren.

Leicht hast Du es uns nie gemacht, dieses Verständnis unserer Welt. Auch keinen klaren Blick auf die Dinge hast Du uns gegeben, nur die Beleuchtung. Madoia, immer, immer haben wir selber nachdenken müssen, über die Dinge und auch, was Du da schreibst. Ist es Information? Ist es Meinung? Propaganda oder Provokation? Vorsicht Ironie, gerne auch ohne Smileys. Schnauf. Ist ganz schön anstrengend, das mit der Meinungsbildung. Mit Trab bringst Du Chaos in unsere grauen Zellen. Vorher war alles so einfach. Wir hatten unsere Meinung gleich morgens einfach in irgendeinem Blatt nachlesen können, hielten die Wahrheit für ein Singular. Aber Du musstest ja all diese Querdenker hinter dem Ofen hervorholen, die unsere lieb gewonnenen Ansichten und Halbwahrheiten argumentativ relativieren oder gar aus der Bahn schleudern.

Immer glaubten wir alten Nörgler etwas zu vermissen, aber jetzt wo Du da bist, sind wir alle überfordert, Dich zu begreifen, Dich zu nutzen. Hilfe, Partizipation. Hilfe, mediale Freiheit. Wie lernt man das? Mit bürgerlichem Namen unlegitimiert und ohne Politikerambitionen meine Meinung sagen, darf ich das? Auch unbescheiden laut und gar zu zwei Themen an einem Tag? Mich in den Gründen des Internets mit hinterher bereuten Aussagen zu verewigen, mit meinem Geschwätz von gestern. Muss Partizipation wirklich so weh tun? Ist dies der Preis dafür, zur gesellschaftsdemokratischen Evolution einen eigenen (sehr bescheidenen) Beitrag leisten zu dürfen?

Es ist viel passiert in diesem Jahr. Gefühlterweise war es das spannendste Jahr seit langem. Ich weiß nicht, ob Politik&co tatsächlich spannender geworden sind, oder ob Du, liebes Salto, alles spannender gemacht hast. Kontroverser. Transparenter. Entlarvender. Oder, ob Du uns einfach aus der Lethargie erweckt, uns tagtäglich an unsere Verantwortung an den Geschicken von Politik und Gesellschaft erinnert hast. Schmerzhaft, aber nicht nur. Partizipation macht Spaß, kostet aber auch mehr Mut als Nörglerei. Beim Nörgeln kuschelt man in der Gruppe. Beim Partizipieren steht man schnell alleine da – und wird peinlichst belächelt. Ein Herzele kann da schon einmal das verletzliche Ego entschädigen, aber belohnt wird man letztlich durch die entstehenden Diskussionen – auch wenn das „Vertiefen der gewonnenen Einsichten“ (Zitat Ilmner) harte Arbeit ist.

In einem Jahr hast Du krabbeln und – dreifach Salto – auch springen gelernt. Bravo. Und gehen? Ja gehen tust Du wohl noch ein bissel wackelig. Weil Deine Stärken eben auch Deine Schwächen sind: Deiner jugendlichen Frische spricht man Seriosität ab, Deiner Unabhängigkeit eine klare Linie, Deinem Neuaufbruch Struktur und Professionalität. Mit jedem Erfolg wirst Du mehr an kommerziellen Medien gemessen. Low-budget Ansatz und Selbstlosigkeit Deiner Initiatoren würdigt kaum mehr jemand. Dein interethnischer Anspruch sperrt uns in diesen „.bz“-Kessel ein, Deine fließend wechselnden Sprachen reißen hier endlich Mauern nieder und bauen neue dort -  hin zu den monolinguistischen Welten, die uns umgeben. Auch wird Deine offene Einladung zur allgemeinen Partizipation eben nur von partizipativen, internetaffinen Parteien wahrgenommen. Gegenrezept gesucht. So mancher hat daraus schon den Verdacht einer politischen Färbung abgeleitet. Ungerechterweise, sicher, aber wie lange wird das Vorschussvertrauen der jugendlichen Unschuld reichen?

Bislang bist Du ein unschuldiger Windelscheißer geblieben. Und wie danke ich es Dir! Denn „Seriosität“, „Linie“ und „Professionalität“ kennen wir schon in diesem Land, haben uns weit gebracht, aber eben auch nur bis hier her. Nach einem viertel Jahrhundert bittstellender Morgenstund gibt’s kein Gold mehr im Mund, und ganz Südtirol quält sich durch eine überfällige Neugeburt. Da gehören Kindergeplärr und Babyblues genauso dazu wie dieser zweifelhafte Charme von Windelduft, der durchs Land weht. Liebes Salto, das ist es nämlich: das ganze Land muss erst wieder gehen lernen, muss sich neu erfinden. Weder hinter den Ohren noch sonst wo sind wir trocken. Du nicht. Wir nicht. Aber Du bist frischer. Noch stehst Du nicht für das neue Südtirol, doch stehst Du für den Prozess dorthin. Das mit der Partizipation, bei Dir dürfen wir sie üben. Alle! Die gesellschaftliche Debatte, bei Dir findet sie statt. Nicht mitzumachen ist schon fast wie am Wahltag nicht hinzugehen. Noch sind wir wenige, leider, aber wir wollen. Der Anspruch ist kein geringerer als eben diesen einen Salto zu machen, den das Land so braucht. Und der Salto braucht Salto wie einen morgendlichen Blick in den Spiegel, wie das abendliche Gebet. Dein Windelduft ist die Morgenluft unseres Aufbruchs in ein neues Leben. 

Merci, dass es Dich gibt.