Kultur | Literatur?

(Ohne) literarische Absichten

Matteo Jamunno, auch bekannt als YOMER, ist derzeit in Südtirol umtriebig. Im „Drin“ gab er den Gastgeber der zweiten Sagra della Tristezza, in der Teßmann Google-Reviews
Halbmittag Teßmann
Foto: Privat
Die Frage „Und das soll Literatur sein???“, welche für die Lesereihe der 1/2 Mittag (kuratiert von Eeva Aichner und Matthias Vieider) in diesem Herbst das Motto stellt, dürfte dem in Neapel geborenen, in Bozen aufgewachsenen, sowie in und durch Wien therapierten Tausendsassa wohl egal sein. Nach dem Ende seines Podcasts „I diari dell’orso“, der nach 80 Folgen mit Gedanken zu seiner in diesem Jahr verstorbenen Oma endet und vor dem Erscheinen seines Debütromans in der Edition Zoom/Ed von Raetia und SAAV für Erstlingswerke, scheint er in seinem Terminplan Lücken zu scheuen. Schön war dabei auch, dass er mit einer ausbalancierten Portion Ego auftrat.
 

Traurigkeit und Frohsinn

 
Episode 2 der „Sagra della Tristezza“ folgte im ehemaligen Telefonisten-Zentrum und heutigen Co-Working Space „Drin“ einer etwas anderen Struktur als die der ersten Ausgabe. Nach wie vor erleichterte man den Einstieg mit „spontanen“ Fragen aus dem Publikum, welche YOMER auf Fresszettelchen mitgebracht hatte und die diesmal statt einer Präambel überschwänglichen Lobs, mit an Mobbing grenzenden Beleidigungen begannen. YOMER zeigte sich gewappnet und gab humorvoll freundlich Auskunft.
Der Humor war an dem Abend, der mehrheitlich von Yomer und seinen beiden Gästen, Gewinner des Wettbewerbs für junge Ideen „Strike!“, geführt wurde, ein anderer und die Mischung stimmte.  Hatte bei Sagra 1 der selbstherabwürdigende Sexualhumor der Publikumsbeiträge (sehr beliebt die Geschichten vom missglückten Ersten Mal) etwas Überhand, so waren bei Ausgabe 2 die Beiträge ans Ende der Veranstaltung angegliedert und gänzlich andere.
Zum anderen Ausblick auf den Abend (und das Leben) trugen die Gäste einen in keinem Fall zu vernachlässigenden Teil bei und inspirierten mehr durch das Überwinden von Widerständen und Traurigkeit. Man hatte zudem das Gefühl, dass dieses Mal nicht für die Bühne dick aufgetragen wurde. Nach einigen Vorbehalten, die wir nach der ersten Ausgabe mit nach Hause nahmen - wenngleich das Format bereits vielversprechend war - können wir die dritte Ausgabe, wenn sie dann kommt, vorbehaltlos empfehlen.
Fabjan Thika überraschte durch äußerste Offenheit und Selbstreflexion im Erzählen seiner Lebensgeschichte und den aus ihr geschöpften Lehren. Die Kindheit des aus Albanien stammenden Mannes war geprägt durch den alkoholabhängigen, gewaltbereiten Vater und später durch die Abwesenheit der Mutter, welche die Flucht ergriff und die beiden Söhne beim Vater zurückließ. Später, als die beiden Brüder in einem Kinderdorf ein geregelteres Umfeld fanden, gab sich Fabjan als Jugendlicher selbst die Schuld, als dieser alkoholisiert in einem See ertrank, an einem der wechselnden Wochenenden, an welchen er den Vater besuchen durfte, aber nicht konnte, da er durch einen Unfall tags zuvor im Krankenhaus war.
 
Sagra della Tristezza 2 mit YOMER
Sagra della Tristezza 2 mit YOMER: Die Offenheit von Fabjan Thika machte aus dem Abend eine besondere und berührende Begegnung. | Foto: Privat
 
Aus heutiger Sicht wisse er, dass er keine Schuld am Tod des Vaters hatte. Kraft und Antrieb wurden für ihn das Boxen, nach einem mehrmonatigen Training bei der Fremdenlegion, bei der Fabjan Thika merkte, dass seine persönlichen Probleme „vergleichsweise klein“ waren und er sich schließlich gegen das Aufgeben seiner bisherigen Identität entschied. Heute ist Thika Coach im House of Boxing, welches jungen Menschen nicht nur einen Boxsack und ein Ventil, sondern auch ein neues Ziel liefert. Normalerweise ist die Aussage, „anderen geht es viel schlechter als dir“, gegenüber Menschen in einer Depression wenig hilfreich, da diese im Gefühl oft bodenlos scheint und eine solche Aussage noch Schuldgefühle weckt. „Habe ich ein Recht, dass es mir so schlecht geht?“ Am vorgelebten Beispiel kann diese Resilienz mitunter inspirieren.
Marco Tabillo erzählte von Dingen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, aber zueinander finden und sich beleben können. Er konnte direkt an die Erzählungen Yomers anknüpfen, der liebevoll von seiner verstorbenen, an Demenz erkrankten Großmutter erzählte. Tabillo ist es, wie auch Matteo Jamunno, ein Anliegen für zu wenig wahrgenommene und zum Teil unsichtbare Krankheiten Bewusstseinsbildung zu betreiben. Tabillo sei mittlerweile zum „Fumettista dell’Alzheimer“ geworden. Dazu kam es recht zufällig und auch dadurch, dass Tabillo zu Beginn der Corona-Pandemie unerwartet viel Zeit hatte und für ein Projekt angefragt wurde, welches Kinder und an Alzheimer oder Demenz erkrankte Personen zusammenführen sollte. Durch diese Begegnungen inspiriert, in denen es nicht um „Fehler“ oder die Krankheit selbst ging, sondern die Emotionen der Begegnung im Vordergrund standen, schrieb Tabillo unter anderem „Lidia e il Nonno Dante contro L’Alzheimer“. Wer hätte damit gerechnet, dass ein Superhelden-Comic ein geeignetes Medium für eine Sensibilisierungskampagne zu einem größer werdenden gesellschaftlichen Problem sein könnte?
Am Ende verließen wohl die meisten die zweite „Sagra della Tristezza“ froher, als sie zu dieser gekommen waren, oder zumindest ein Stück weit getröstet.
 

Bücher und E-Books

 
Zum „traurigen“ Stand der Gegenwartsliteratur lud man am letzten Samstag bei der Lesereihe 1/2 Mittag mit lustigen Texten aus Social-Media, vielsprachigen WhatsApp-Chatverläufen und Google-Reviews aus dem Raum Bozen. Für den lustigen Einstieg in den Samstag-Vormittag sorgte Monika Reitprecht, Hauptverantwortliche für den Social Media Auftritt der Wiener Bibliotheken, der mit seinem Humor Fans auch außerhalb der österreichischen Landeshauptstadt gefunden hat. Zum zweiten Mal ist eine Anthologie mit Twitter-Perlen erschienen, diesmal als „Den Titel hab ich leider vergessen …aber es ist blau“. Trocken und süffisant, mit einer guten Portion Sarkasmus gewürzte Ausschnitte aus dem Alltag (und der Fantasie) einer Bibliothekarin.
 
Halbmittag Teßmann
Halbmittag Teßmann: Das Wetter hielt, die Vorträge auch was sie Versprachen. Leichte Unterhaltung für einen Samstagvormittag, ohne wirkliche Infragestellung von kanonischen Literaturbegriffen. | Foto: Privat
 
Weniger feinsinnig aber näher am Leben und nicht aus dem vergeistigten Elfenbeinturm einer Bibliothek heraus entstanden waren dagegen die Oberschüler:innen der Grödner Kunstschule Cademia, welche Collagen aus anonym gesammelten WhatsApp Chats vortrugen.
Als 30-jähriger Mann kann ich dazu nur sagen: Ich bin alt und verstehe längst nicht mehr alle Memes, die heute im Umlauf sind. Einiges davon ist aber anscheinend zyklisch und wieder zurückgekehrt, der vielstimmige und vielsprachige Vortrag zwischen Ladinisch, Italienisch und Deutsch, Dialekte und englische Meme-Ausdrücke. Ein Schnellfeuer zum sich schwindlig-hören.
Vielleicht sind Google-Rezensionen in gewisser Weise die Graffittis der Neuzeit. Zumindest könnte der Eindruck entstehen, wenn man einige der Kuriositäten hört, welche Matteo Jamunno zu Punkten öffentlichen Interesses in Bozen ausgegraben hat. Warum sonst sollte man etwa eine Rezension zu einem Kreisverkehr in der Schlachthofstraße schreiben? Einen kurzen Vortrag trägt diese Neugier und auch für Erheiterung. Am Ende ist die Frage, was nun Literatur ist und in welches Formkleid sie sich zwängen lässt, so alt wie die Literatur selbst.
Am Ende traute sich beim Verlassen der Bibliothek niemand zu fragen, wo hier nun die E-Books stehen. Schade eigentlich, da es morgen bei der Halbmittag unter anderem auch wieder ins Digitale geht.