Kultur | Ein Rückblick auf den Lyrikpreis Meran

Gedichte von der Leichtigkeit des Seins und dessen Abgesang

Fern der Heimat öffnen sich Dichter/innenherzen, wie die Schweizer Lyrikerin Monika Schnyder beim Lyrikpreis Meran berichtet hat. Doch auch die Jury gibt sich kreativ und tritt, beschwingt vom mediterranen Ambiente, durch die nicht ironiefreie Spiegelung von Zitaten mit den prämierten Autoren in Dialog.
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Wir kennen es vom Fernsehen von vorgestern: Ja, wer soll denn nun euer dichterisches Herzblatt sein: Thomas, der Meister der Neugier weckenden Eingangszeile, der in dunkler Limousine vorfahrende Tom mit seinem dichterischen Assoziationswirbel oder Jan, der Verschieber mediterran beleuchteter Elegien? Da "die Dichter leiden in den meisten Fällen", musste beim diesjährigen Lyrikpreis Meran ein Happy End her: Alle drei sind prämiert worden. Immerhin eine Erfolgsquote von einem Drittel, ungegendert.

Ist die Mediatisierung der Literaturkritik eine Erkenntnis der diesjährigen Ausgabe des Lyrikpreises, so ist diese als Stilmittel von der Jury zumindest auf gleicher Ebene mit den Autoren/innen zur Dekonstruktion ihrer Texte genutzt worden. Jenen, die sich durch abrupte Bilderfolgen und paradoxe assoziative Mäander einer Interpretation entziehen, wurde in der Bewertung eine Spiegelung entgegengesetzt, die ihnen die Antwort vorenthält. Die Schreibstile zeigen, wie schnelllebig die Welt geworden ist. Thomas Kunst schwirrt in wenigen Zeilen zwischen Stralsund, Arizona, Afrika, Sizilien, Korsakow und Bad Brückenau herum und Tom Schulz schwimmt über die Oder zu den polynesischen Inseln.

Lyrikpreisträger Thomas Kunst überzeugt im Vergleich mit den anderen Finalisten/innen durch den lyrischen Duktus. Wechselvolle Bilder sind Ausdruck ausgeprägter Beobachtungsgabe und tiefgehender Reflexionen zu den Wendungen des Alltags. Erzählfreude und Sprachmelodie tragen die Texte und deren Lesbarkeit. Elegische Prosa wird als Abgesang auf Erlebtes, Träume und Versäumnisse zu einer Poesie der Vergänglichkeit geformt. Bei der Jury fanden die die überraschenden Wendungen („kühne Volten“) Anklang. Sie wirken aber vielfach wie Versatzstücke aus unterschiedlichen Erlebniswelten, die wie in einem Film zu einem Erzählstrang verkittet werden, der nicht ergründbar ist. Bei den ebenso gelobten Wiederholungen fehlt das Gefühl, dass ein thematischer oder emotionaler Faden erkennbar wieder aufgenommen und fortgesponnen wird. Die eingestreuten biografischen Notizen wirken eher als Brüche anstatt zusätzliche Sichtweisen in einem größeren Zusammenhang zu vermitteln. Willkürliche Zeilenumbrüche sollen die Prosa auflösen, vermögen es jedoch nicht, den Texten ein der Gedichtform entsprechendes Erscheinungsbild zu verleihen.

Die Jury hält es nicht für notwendig, dem formalen Gerüst der langen Texte auf die Spur zu kommen. Womöglich fehlt es einfach. Das kann als bewusste Loslösung von altüberlieferten Standards interpretiert werden. Es entspricht dem Individualismus der heutigen Zeit, das unverwechselbare Ego in den Mittelpunkt zu stellen, etwa durch Hineinweben biografischer Konnotationen im Stile von Facebook und die namentliche Nennung einer Muse. Zugleich ist der Erzählfluss Ausdruck der Mitteilungsbedürftigkeit modernen Solipsismus inmitten unserer Kommunikationsgesellschaft.
Jan Volker Röhnert, Medienpreisträger der RAI Südtirol, zeichnet Bilder mit unterschiedlicher Verslänge, die wie leicht hingeworfene Landschaftsaquarelle wirken und in ihrer Reflexion über Trennung und Schmerz nicht verharren. Er nimmt die Welt wahr wie ein Reisender, der weiß, dass er den Ort, an dem er sich aufhält, schon bald verlassen muss oder gerade in einer neuen Umgebung ankommt, die ihm nicht vertraut ist. In einer harmonischen Naturbeschreibung ist die Stadt nur Hintergrund und die Autobahn eine Randerscheinung, die die Behaglichkeit nicht stört. Wir wissen, dass es ein Sehnsuchtsbild ist, aber tauchen mit Röhnert dankbar darin ein. Es ist nicht Flüchtigkeit, mit der er der Welt begegnet, sondern Fürsorglichkeit um seelische Balance, elegisch durchwirktes Loslassen des Vertrauten und Behutsamkeit in der Begegnung mit Neuem. Am Bahnhof fängt er die Zeitansagen für den Abschied ein, die Boote verkünden Aufbruch und inmitten der Flanierenden am Mainkai sinniert er über das panta rhei. Selbst die Kindheitserinnerungen durchweht Veränderung.

Weniger stimmig mutet dagegen das Auftauchen von Laurel und Hardy in solcher Landschaft auf, der Zeitenwechsel zwischen einzelnen Strophen oder die abenteuerliche Streckenführung, der Transkontinentalwaggons von München nach Mailand oder durch den Appenin nach Genua folgen. Einzelne Wortschöpfungen wie „Paradiesbahnhof“, „Taubenprogramm“ oder „fahrradflitzt“ scheinen aus anderen Sprachkanons hineingerutscht zu sein. Mit der Leichtigkeit des savoir vivre geht schließlich auch ein geringerer Anspruch an Aussagekraft einher.

Der Dr. Alfred Gruber-Preis wurde Tom Schulz zuerkannt. Er zieht das Experiment des Prosagedichtes auch formal konsequent durch und verzichtet auf Kunstgriffe beim Zeilenumbruch. Für die Dichte seiner Texte prägt er selbst eine überaus zutreffende Bezeichnung: Wortrausch. Wie unter Druck stehend ergießt sich ein Schwall an Aussagen in das Textmodul, meist knappe Aussagen, manchmal nur Wortfetzen oder Konjunktionen. Da kommt es vor, dass der Titel nicht hilfreich für das Verständnis ist, weil sich die Assoziationsketten verselbständigen. Das Gedicht von dem Besuch in Lyon, einer Wiege der Fotografie, erschließt sich noch einigermaßen als Bilderkaleidoskop zwischen Beobachtungen und gemeinsamen Erlebnissen, irritiert aber auch durch Abgründe. Im Erntedankfest, weiß auf schwarz gesetzt, kippen die Bilder vermeintlicher Kindheitserinnerungen sofort ins Absurde, wechseln von Klinken zu Kliniken und setzen sich fort in 17 Strophen ständiger Evozierung von Bedrohung, Vergänglichkeit und Vergeblichkeit. Tom Schulz treibt es weit hinaus in seinen Phantasien, bis ins Uferlose. Kulturpessimismus, No-Future-Szenarien oder ein Weg der Daseinsbewältigung? Der Preis ist ein Ansporn, seinen Weg der Aufarbeitung existentieller Bedrängnis durch experimentelle Lyrik fortzusetzen. Vielleicht findet er formal und von den Sujets her wieder festen Boden.

Ein Wort noch zum organisatorischen Rahmen: Zahlreiche Oberschüler/innen haben den Pavillon des Fleurs als passives Publikum der Beratungen der Jury gefüllt. Ob mit Interaktionen oder der Bewusstmachung des Vermittlungsauftrags gegenüber der Jury: Dieser Event sollte genutzt werden, um eine Lernerfahrung zu ermöglichen, die über die Klassenräume hinausgeht. So oder so nehmen die jungen Leute eine Botschaft mit. Diesmal kommt sie ihnen gelegen: Wer überrascht, gewinnt. So stellen sie sich das Leben vor.