Books | Literatur und Shoah

„Bedürfnis, darüber zu sprechen“

Am Montag ist die französische Schriftstellerin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot mit dem Roman „Mémorial“ in Bozen zu Gast. Fragen zum Stand von Gedächtnis und Gedenken.
Holocaust
Foto: upi
  • Von ZeLT, dem europäischen Zentrum für Literatur und Übersetzung eingeladen, wird Cécile Wajsbrot am Montag, ab 18 Uhr, gemeinsam mit der rumänischen Schriftstellerin Liliana Corobca (mit „Der erste Horizont meines Lebens“, 2015 bei Zsolnay in der Übersetzung von Ernest Wichner erschienen) an einem Abend „Von Herkunft, Erinnerung und dem nackten Überleben“ im Bozner Waltherhaus zu Gast sein. Weiter Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.

    Wajsbrot, 1954 in Paris als Tochter polnischer Juden geboren, beschäftigt sich in „Mémorial“ unter anderem mit der Weitergabe von Erinnerung an die Shoah. In einer Neuausgabe bei Wallstein ist das Buch nun mit seinem Originaltitel erschienen, 2008 war es als „Aus der Nacht“ im Liebeskind Verlag erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden.

    Wajsbrots Großvater wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet, ihre Mutter und Großmutter entgingen knapp einer Razzia. Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts haben wir mit ihr über Erinnerungskultur und die Rolle der zweiten Generation gesprochen, die mit der Sterblichkeit derer, welche die „Vernichtung der europäischen Juden“ (Raul Hilberg, 1961) am eigenen Leib erfahren oder miterlebt haben, stärker in den Fokus der Gesellschaft rückt.

  • Cécile Wajsbrot: Mit ihrem Roman „Zerstörung“ 2020 ist Wajsbrot auch bei den Literaturtagen Lana zu Gast. Foto: Screenshot Literatur Lana auf YouTube

    Frau Wajsbrot, Ihr Roman „Mémorial“ ist bereits 2005 erschienen. Wie haben Sie den Generationswechsel bei der Erinnerung in der Zwischenzeit miterlebt? Es ist ein zentrales Thema in Ihrem Roman und auch ein zentrales Thema in unserer Gesellschaft, immer mehr und immer stärker…

     

    Cécile Wajsbrot: Obwohl es gegensätzlich wirkt, weil die Zeit um die es geht, weiter entfernt von uns ist als damals - dass vielleicht heutzutage noch mehr die Rede davon ist. Mir scheint, das sind große Wörter, die man sorgfältig und auch vielleicht unter Anführungszeichen setzen sollte: Das war eine Art, mich sozusagen von dem 20. Jahrhundert zu verabschieden, als ich das Buch geschrieben habe und mich mindestens von dieser Geschichte zu verabschieden. Mir kam es so vor als ob ich zum letzten Mal zurück zu dieser Geschichte komme. Ich glaube, dass in „Mémorial“, obwohl es ein Buch über - also ich sage ungern „Shoah“, ich sage eher… „Vernichtung der europäischen Juden“, wie Raul Hilberg das sagte, weil ich denke, jeder sollte das in der eigenen Sprache lesen und nicht nur als hebräisches Wort, das löst ein Gefühl des Fremden oder der Entfernung aus.

  • Mir scheint, dass es nicht unbedingt nur um die Vernichtung geht, dass es vielmehr ein Roman über Generationen, sowie über die Vermittlung oder Nichtvermittlung zwischen Generationen und das Schweigen ist und dass es aber auch um Migration geht. Das Thema des Romans ist also nicht so eindeutig.

     

    „Das heißt, nach dem Zweiten Weltkrieg wollte diese Generation sprechen, die Überlebenden aus dem KZ, zum Beispiel. Die wollten und haben gesprochen, aber ihnen wurden nicht zugehört.“

     

    Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass Sie genau mit diesem familiären Setting, mit dieser Aushandlung zwischen Generationen das Thema auch wieder sehr nahe und sehr begreifbar machen. Was glauben Sie, in wie vielen Familien gibt es - oder wie weit verbreitet ist es, dass es da Unausgesprochenes gibt - auf die Weltkriegs-Generation zurückblickend? 

     

    Ich glaube, dass die Generation, die diese Ereignisse erlebt hat und die weniger und weniger anwesend ist, hat vielleicht sehr spät etwas vermittelt. Man spricht immer über das Schweigen, aber ich glaube, es stimmt nicht. Das heißt, nach dem Zweiten Weltkrieg wollte diese Generation sprechen, die Überlebenden aus dem KZ, zum Beispiel. Die wollten und haben gesprochen, aber ihnen wurden nicht zugehört. Man hatte keine Lust in dieser Zeit, solche Geschichten zu hören. Man wollte sich ablenken und sich Richtung Zukunft wenden. Und so ist das Schweigen entstanden. Und ich habe auch ziemlich oft erfahren oder erlebt, dass diese überlebende Generation sich viel häufiger mit Unbekannten, als in der Familie selbst geäußert hat. Vielleicht kann man es auch verstehen, weil es ihnen so nah ging und umso bedrückender und emotionaler. Ich habe etwa ein Beispiel in meiner Familie, wo mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, mir und meinem Lebensgefährten viel mehr erzählt hat, als seinem eigenen Sohn. 

     

    „Es gibt beides: Es gibt mehr offenen Antisemitismus, aber es gibt auch verstärkt das Bedürfnis, darüber zu sprechen.“

     

    Da sind vielleicht auch die Rahmenbedingungen darüber entscheidend, ob ein solcher Dialog stattfinden kann. Glauben Sie, dass durch die Sorge, die viele Menschen aktuell mit sich tragen, dass unsere Gesellschaft wieder den Weg nach rechts nimmt, die Bereitschaft zu sprechen eine andere ist? Wir sehen es auch hier in Südtirol, wir haben eine neue Regionalregierung, die gerade dabei ist, sich zu bilden, erstmals mit den postfaschistischen Fratelli d'Italia. Ist es da so, dass man sagt, man ist wieder eher bereit, über dieses Thema zu reden, weil es einem gefühlt näher ist, auch wenn die zeitliche Distanz gewachsen ist?

     

    Ich glaube, dass paradoxerweise, also mit dem Pogrom, kann man sagen, auch mit dem 7. Oktober, dass dieses Bedürfnis gewachsen ist. Es gibt beides: Es gibt mehr offenen Antisemitismus, aber es gibt auch verstärkt das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Mir wurden noch nie so viele Fragen gestellt, ich habe noch nie so viele Reaktionen von Freunden, von Freundinnen, Bekannten erhalten. Und ja, es ist schon seit Jahren so, dass in Europa diese Rechtsparteien, rechtsradikale Parteien, sich weiterentwickeln. Es ist oft der Vergleich entstanden mit den 30er Jahren. Wie viele habe auch ich darüber nachgedacht und es stimmt gewissermaßen. Es gibt andere Seiten, wo das nicht stimmt. Meine Hauptfrage wäre, warum sind wir gescheitert, die vorherige Generation und auch unsere Generation, die nachträglich geboren wurde, sodass die jüngeren Generationen sich nun so unbetroffen fühlen?

    In Frankreich zum Beispiel, in der Generation zwischen 18 und 35 Jahren, wählen viele den Rassemblement National, also Rechtsradikale. Das sind nicht ältere Leute, sondern jüngere Leute. Etwas ist da gescheitert. Warum? Die Zeit vergeht und wir hatten Frieden in Europa, bis zum russischen Angriff, und dieser Frieden war selbstverständlich. Man hatte also nicht das Gefühl, dass ein solcher Frieden unterstützt und beschützt werden sollte, dass Rassismus, Antisemitismus auch verstanden und vermieden werden sollten. Wie gesagt, die Hauptfrage ist, wann ist das geschehen, dass wir gescheitert sind - wann, warum und wie, und was können wir jetzt tun?

  • Mémorial: In der Neuübersetzung von Holger Fock und Sabine Müller bietet sich Wajsbrots Roman erneut der Leserschaft an. Foto: Wallstein

    Haben Sie diesbezüglich Wünsche oder gibt es etwas, was Sie gern vermehrt in der Gesellschaft sehen würden? Ist es diese Bereitschaft zum Gespräch, die es verstärkt braucht, dass proaktiv die jungen Generationen auf die älteren Generationen zugehen und diesen Dialog suchen? Oder gibt es etwas anderes, das noch wichtiger wäre als das?

     

    Ich glaube, es sollte umgekehrt sein. Nicht, dass die junge Generation zu der älteren Generation geht, sondern umgekehrt. Und es gibt viele Dinge, die erklärt werden sollten. Auf der einen Seite würde ich sagen, es genügt nicht, den Kontakt zu suchen. Auf der anderen Seite habe ich das selbst nicht so erlebt, aber davon gelesen und gehört, wie wichtig dieser Austausch ist, wenn es etwa Besuche nach Auschwitz gibt oder wenn Filme gesehen werden. Ich habe eine Freundin, die Französisch-Lehrerin ist und die zusammen mit ihrer Schulklasse zum Mémorial de la Shoah nach Paris gegangen ist, wo sie Zeugen zugehört haben. Also auf der Hinfahrt waren die Jugendlichen skeptisch, ironisch und so weiter…

  • Ich denke, das kann auch ein Selbstschutzmechanismus sein…

     

    Ja, kann auch sein. Aber danach waren sie ganz beeindruckt und geprägt. Ich glaube, etwas kann sich dadurch verändern. Ich glaube auch, die Schule spielt eine wichtige Rolle und dass es mehr Austausch geben sollte zwischen Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Hintergründen in der Schule. Nicht als Konfrontation oder zur Vermittlung gegenseitiger Gedächtnisse, sondern damit jeder über seine eigene Erfahrung berichten könnte und dass die Lehrer/Lehrerinnen, die schwierige Aufgabe übernehmen, diesen Austausch zu moderieren. Ich glaube aber, es ist nicht nur die Konfrontation, wir müssen ein Zusammenleben oder einen Raum dafür schaffen. In der Politik gibt es leider nicht oft Beispiele dafür.

     

    „Auf der persönlichen Ebene ist es vielleicht schwieriger, aber ich versuche nicht die ganze Zeit daran zu denken. Ich will die Welt nicht nur mit jüdischen Brillen lesen.“

     

    In Ihrer ersten Antwort habe ich ein Wort gehört, mit dem ich im Zusammenhang mit der Vernichtung der europäischen Juden so nicht gerechnet hätte. Sie haben nämlich auch von „Abschied“ gesprochen. Braucht es das auf einer persönlichen Ebene, wobei wir es als Gesellschaft nicht dürfen? Muss der Einzelne irgendwann für sich von dem Thema Abschied nehmen? Und können Sie sich auch vorstellen, dass das für Sie irgendwann im Regal landet, archiviert wird, oder wird Sie die Vernichtung der Juden in Europa zeitlebens beschäftigen?

     

    Es gibt da zwei Ebenen. Es gibt die literarische Ebene und das meinte ich mit Abschied. Ich hatte bereits früher und wollte auch später von anderen und weiteren Themen schreiben. Nicht unbedingt immer darüber zu schreiben, und das habe ich auch nicht gemacht, aber das bedeutet auch nicht, dass es nicht ab und zu wieder auftaucht. Das ist also bis jetzt bei mir kein Hauptthema gewesen, seitdem.

    Auf der persönlichen Ebene ist es vielleicht schwieriger, aber ich versuche nicht die ganze Zeit daran zu denken. Ich will die Welt nicht nur mit jüdischen Brillen lesen. Natürlich gibt es diese Geschichte und diese Geschichte betrifft meine Familiengeschichte und mich, aber es gibt so viele andere Themen, die mich beschäftigen und die heutzutage wichtig sind, wie es etwa die Klimakrise. Und ich möchte nicht, dass immer wieder nur von dieser Geschichte der Vernichtung die Rede ist.

    Ich habe das auch manchmal geschrieben, dass ich in einer Welt aufgewachsen bin, in der die Katastrophe hinter uns lag und die Hauptfrage lautete: „Wie können wir dieses Erbe annehmen und was machen wir damit?“ Aber seit mehr als 20, 30 Jahren könnte man sagen - vielleicht seit dem Mauerfall, oder ein bisschen später - scheint mir dass die Katastrophe nicht mehr hinter, sondern vor uns liegt. Dabei wusste ich nicht, was, also welche Art von Katastrophe das sein würde. Und heute haben wir leider ein paar Antworten dazu, mit Klimawandel, aber auch mit der Migrationsfrage, wo Grenzen immer strenger verschlossen werden, obwohl das natürlich verrückt ist. Das habe ich auch manchmal geschrieben, dass das wie ein Damm ist. Es gibt einen Roman von Marguerite Duras, auf Französisch lautet der Titel "Un barrage contre le Pacifique“ (von 1950, 1988 auf dt. als „Heiße Küste“ erschienen, Anm. d. Red.), also Damm gegen den pazifistischen Ozean.

     

    „Diese Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden muss einen Raum haben, aber nicht den ganzen Raum besetzen, sodass es noch Raum für andere, weitere wichtige Fragen gibt.“

     

    Welchen Blick haben Sie auf den Grenzraum Mittelmeer?

     

    Heute gibt es diesen Versuch, sozusagen einen Damm gegen das Mittelmeer aufzubauen. Und das kann nicht gelingen, das ist unmöglich. Wir sollten statt die Grenzen zu schließen, einen Weg finden, wie diese Leute, die nach Europa kommen, wie wir sie aufnehmen und willkommen heißen können. Das meinte ich, also nicht, dass ich diese Geschichte vergessen will oder dass die Gesellschaft diese Geschichte vergessen sollte. Diese Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden muss einen Raum haben, aber nicht den ganzen Raum besetzen, sodass es noch Raum für andere, weitere wichtige Fragen gibt. 

    Vielleicht haben wir als Nachgeborene und zweite Generation von Überlebenden diese Verpflichtung erhalten, die Aufmerksamkeit zu erwecken für diese Geschichte, aber nicht nur: Auch in der Zukunft, für weitere Themen, weil wir wissen, was es bedeutet, von einer kollektiven Geschichte betroffen zu sein. Und diese Erfahrung müssen wir auch nutzen, nicht nur für uns - also sozusagen „egoistisch“ - für unsere eigene Familiengeschichte, es sollte auch für uns und in uns einen Raum eröffnen, um aufmerksam auf andere tragische Geschichten zu blicken, sodass wir auch davon etwas berichten und vermitteln können. In der Zeit zum Beispiel als „Mémorial“ erstmals in Deutschland erschienen ist, habe ich mich immer gefreut, als Leute zu mir kamen und mir gesagt haben: „Ich habe nicht den gleichen Hintergrund wie Sie, aber dieses Gefühl kenne ich aus meiner Familiengeschichte, aus meinem Hintergrund.“ Ja, mein Ziel, wenn ich ein Ziel hätte, wäre immer wieder Dialog.