Kultur | Gastkommentar

Die Sehnsuchtsstädte – was haben wir damit zu schaffen?

Die Schriftstellerin Waltraud Mittich zu Ulli Mairs Statement „Bewerbung als Kulturhauptstadt ist ein Fehler“.
Lena Simonetti
Foto: Alice Vanoni

Die Obfrau schreibt, Südtirol habe mit Venedig kulturell nichts zu tun. Nun ist Kultur ein weites Feld und die Geschichte eine Wissenschaft. Es gab und gibt in Venedig ein Gebäude, das sich Fondaco (fontego) dei Tedeschi nennt. Es befindet sich am Canal Grande in der Nähe der Rialto Brücke und ist jetzt im Besitz von Benetton. Rem Koolhaas hat für den Fondaco ein umstrittenes Sanierungsprojekt vorgelegt. Der Handelsweg, über den die deutschen Waren für den Fondaco transportiert wurden, war die Via D’Alemagna, auch Via Regia genannt, die von Toblach nach Mestre/Venedig führte und führt. Die Serenissima war und ist omnipräsent auf dieser Straße und in diesem Höhlensteintal, ohne Zweifel das schönste Tal Südtirols, ich bin da allerdings voreingenommen, weil ich an der Via Alemagna aufgewachsen bin und schon früh verstanden habe, was wir – Südtiroler – mit Venedig zu tun haben bzw. welchen Sehnsüchten wir hinter her rennen. Der geflügelte Löwe, Wahrzeichen der Repubblica di San Marco, auch leone andante genannt, heute als der Goldene Löwe weltweit bekannt, war bereits den Kindern, die dort aufwuchsen, ein Begriff. Wir finden ihn noch immer, in den Köpfen der Menschen und aus Stein. Längs der Straße in dieser Val di Landro/Zum hohlen Stein stehen noch immer die Hospize, erbaut von der Serenissima für die teutschen Pilger und Kaufleute, deren Sehnsüchte Jerusalem galten und den Talern der Republik. Eines heißt Ospitale, es kursieren dazu die wunderlichsten venezianischen und Pustertaler Geschichten, selbst erlebte und erfundene. Und Botastagno/Peutelstein erst, des Kaisers Maximilian endgültiger Siegerort über die Repubblica. Ja, was haben wir damit eigentlich zu tun!? Die Via D’Alemagna, aber auch die Via Claudia Augusta sind die Sehnsuchts –und Schicksalsstraßen Südtirols, die in die großen Ebenen führten und führen, und wir sind eng verbunden, kulturell und geschichtlich, mit den Städten, die an ihren Enden liegen und lagen, schon lange und längst haben wir sie absorbiert.

Waltraud Mittich, geboren 1946 in Bad Ischl, 1952 Übersiedlung nach Südtirol. Studium „Lingue e letterature straniere e moderne“ an der Universität Padua, anschließend Unterrichtstätigkeit. Letzthin im Raetia Verlag erschienen „Du bist auch immer auch das Gerede über dich. Annäherung an einen Widerständler“, eine literarische Lebensgeschichte zu Hans Egarter.