Society | Fluchtwege

"Warum wir aus Eritrea fliehen"

Viele der Flüchtlinge am Bozner Bahnhof kommen aus Eritrea, einem Land, das seit 20 Jahren von einem Diktator regiert wird. Samuel Kidane erzählt seine Geschichte.

Warum flieht einer wie Samuel Kidane aus seinem Heimatland, dem kleinen Staat Eritrea am Horn von Afrika? Einer wie er, der dort Landwirtschaft und Umwelttechnologie studiert hat, in Asmara der Hauptstadt; einer wie er, der dazu beitragen wollte, die chaotischen Zustände in Eritrea zu verändern, schrittweise, im Kleinen. Samuel – Samson - Kidane erzählt, warum er keinen anderen Ausweg sah, als sein Land zu verlassen; im Rahmen der Forumswoche „Flucht Zuflucht“ in Feldthurns erzählt er von seiner Flucht, die über ein Jahr gedauert hat, von seinem Leben in der Schweiz, wo er nun eine vorübergehende Heimat gefunden hat, nachdem er zwei Jahre auf ein positives Asylgutachten warten musste. Doch der Reihe nach: Auch er, Kidane, wurde nach seinem Studium zum Militärdienst in Eritrea einberufen, so wie alle jungen Leute dort.

Das Nordkorea Afrikas wird Eritrea genannt

Militärdienst bedeutet in Eritrea Fronarbeit, unbefristete und manchmal bis über 10 Jahre andauernde Arbeit unter Hunger und unsäglichen Bedingungen für den Staat, für den Diktator. „Wer zum Militär einberufen wird, weiß nie, ob er nach zwei Jahren oder erst nach 7 und mehr Jahren wieder entlassen wird, es herrscht die völlige Willkür,“ beschreibt Samuel Kidane die Bedingungen. Weil der Dienst immer wieder und je nach Belieben verlängert werden kann, ist es für die jungen Leute unmöglich, ein Leben aufzubauen, Pläne zu schmieden, eine Familie zu gründen. Auch er war in der Armeebasis Sawa untergebracht, leistete den Militärdienst ab, bis er fliehen konnte. „Eritrea ist ein Land, das gut funktionieren könnte, wir haben Bodenschätze und die Landwirtschaft könnte gedeihen, wenn nicht die politische Klasse völlig korrumpiert und unfähig wäre.“

Seit über 20 Jahren regiert der Diktator und ehemalige Guerillachef Isaias Afewerki den kleinen Staat, der an Äthiopien, Dschibuti und den Sudan angrenzt. Immer wieder provoziert er Konflikte und Kämpfe mit den Nachbarstaaten und hat aus dem Land mittlerweile eine einzige Kaserne gemacht, so Kidane. „Anstatt Schulen zu bauen, wurden in den letzten Jahren 300 Gefängnisse errichtet, die Lehrer gibt es gar nicht mehr, zuletzt musste man Lehrer aus Indien nach Eritrea holen, um den Schulbesuch einigermaßen aufrecht zu erhalten.“ Eritrea ist eines der ärmsten Länder der Welt, im Human-Development-Index, einer jährlichen Uno-Studie zum Entwicklungsstand der Länder, rangiert Eritrea auf dem 182. von 187 Rängen. Auf der Rangliste der weltweiten Pro-Kopf-Einkommen der Weltbank bildet Eritrea als zweitärmstes Land fast das Schlusslicht. Und wenn es um die Pressefreiheit geht, die «Reporter ohne Grenzen» jeweils beurteilt, landet Eritrea im internationalen Vergleich auf dem 180., dem letzten Platz. „In unseren Gefängnissen vegetieren Zehntausende vor sich hin,“ berichtet Kidane, „die Bildungselite, Journalisten, politische Gefangene.“ Eritrea werde oft als Nordkorea Afrikas bezeichnet, dem Willkürregime von Afewerki werde von niemandem Einhalt geboten.

Zum Glück überfielen uns nur Rebellen aus dem Tschad, die wollten nicht unsere Organe, sondern nur unser Geld.

„Die meisten der jungen Leute versuchen in den Nachbarländern Unterhalt zu finden, einen Job, das habe auch ich versucht, damals in Khartoum, der Hauptstadt Sudans.“ Samuel Kidane zeigt auf seinem Laptop, wo seine Flucht ihren Ausgangspunkt fand. Dort, in Khartoum wollte er abwarten, ob sich die Lage in Eritrea doch zum Guten änderte, aber es kam anders. Er lernte einen Schlepper kennen, der ihm von der „völlig problemlosen Reise nach Libyen“ erzählte, in einem Minivan, mit ausreichend Wasser und Verpflegung. Das Ziel, Tripolis an der Küste, ist mehr als 2000 Kilometer entfernt. Kidane organisiert sich, zahlt die verlangte Summe an den Schlepper und bricht mit anderen Landsleuten in einem Kleinbus auf. „Bald wurden wir umgeladen in einen Pickup, dort waren wir dann doppelt so viele und wir fuhren durch die Wüste, es gab kein Wasser mehr, kaum Verpflegung und wir hatten Angst.“ Angst, dass man zurückbleibt, dass es einem ergeht wie jenen, die als Skelette am Wegrand liegen, aber auch Angst vor den Rebellen. „Das war unsere größte Sorge, denn wir wussten vor den Rebellengruppen aus dem Sinai-Gebiet, die besonders gefährlich sind, weil sie mit Organen handeln. Zum Glück wurden wir von solchen aus dem Tschad überfallen, die wollten nur unser Geld, Wasser und Essen.“ Wie absurd sich das anhört, in solch einem Fall von Glück zu reden.

Schließlich landet er in Kufra, dem äußersten Außenposten Europas. Weil alle Flüchtlinge zwangsläufig hier durchkommen, hat die EU Auffanglager unter libyscher Kontrolle errichtet. Viele werden hier festgehalten, um sie an der Einreise nach Europa zu hindern. Kidane erreicht die libysche Küstenstadt Benghasi, jedoch ergeht es ihm schlecht. Er wird entdeckt und ins Gefängnis geworfen, dann zurück nach Kufra deportiert. «Wir wurden wieder eingesperrt, ich und 50 andere, jedoch verkaufte uns der Polizeichef für je 30 Dollar an einen Schlepper. Der brachte uns wieder auf den Weg Richtung Norden, aber erst nachdem wir ihm noch einmal 200 Dollar gaben, jeder.“ Nach einer Odyssee kommt Kidane in Tripolis an, doch auch dort bestimmen Hetze und Angst seine Tage. Job gab es keinen, ein Schlepper verschwindet mit seinem Geld für die Überfahrt spurlos. „Solche Dinge passieren laufende, man muss aufpassen, dass man nicht verrückt wird.“

Die Zeit heilt nicht immer alle Wunden

Samuel Samson Kidane hatte es schließlich geschafft, in einem Boot in einer der unsäglich Überfahrten nach Syrakus auf Sizilien, für 1200 Dollar. Von dort schlägt er sich nach Mailand durch, er will nach London, aber das funktioniert nicht.  So landet er schliesslich in Basel und wird dem Kanton Obwalden zugeteilt. „Freunde fragten mich am Telefon, ob ich nun endlich angelangt sei in der Schweiz, aber ich konnte nur sagen, dass ich in Alpnachdorf bin, ich wusste nicht genau wo das liegt.“ Zwei Jahre lang musste Samuel Kidane auf ein positives Gutachten seines Asylantrages warten, zwei Jahre in denen er weder arbeiten noch sich weiterbilden durfte. „Ich habe geschlafen und bin aufgestanden, habe gegessen und dann mich wieder ins Bett gelegt. Es war eine sehr schwierige Zeit, voller psychischer Traumata, ich war isoliert und allein.“

Heute ist das vorüber, doch die Zeit heilt nicht immer alle Wunden. Samuel Kidane hat sich jedoch seine Vision von einem besseren Leben erhalten können. „Ich habe auf der Flucht Frauen und Kinder gesehen und das hat mich aufgerichtet, denn wenn die diese Strapazen auf sich nehmen, dann kann ich das als junger Mann erst recht.“

Seit einigen Jahren arbeitet er als interkultureller Vermittler in verschiedenen Organisationen, er hat ein Startup-Unternehmen im Bereich Umwelttechnik gegründet und will damit vor allem der afrikanischen Diaspora helfen. Sein Ziel ist es, die Ursachen der Migration an der Wurzel zu bekämpfen: „Ich möchte mein know-how in Afrika, in Äthipien einbringen, dort in Addis Abeba ist der Sitz der Afrikanischen Union und wir haben bereits ein Netzwerk aufgebaut.“ Keine Hardware mehr für Afrika, sagt Samuel Kidane, keine Lebensmittellieferungen oder Geldzuschüsse, was sein Kontinent brauche, sei Information und Wissen, Bildung und Aufklärung. Nur das sei der richtige Weg.