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Ein Amerikaner in Stuls

Der Anthropologe Philipp Katz lebte ein ganzes Jahr bei Bauern im Passeiertal. Von des Forschers Erlebnissen kündet ein soeben erschienenes Buch.
„Du, Forscher, du!“ Ein Amerikaner im Bergdorf Stuls.
Foto: salto.bz / Raetia

Die Ankunft war stilecht: Beladen mit einem dreißig Kilo schweren Rucksack, dazu einer mechanischen Hermes-Schreibmaschine als Handgepäck, traf Philipp Katz mitten im Winter 1972 im Bergdorf Stuls ein. Zu Fuß. Der Forscher wollte seinen Objekten – 300 in einem abgelegenen Bergtal, meist auf Selbstversorgerhöfen lebenden, durchgehend deutschsprachigen Tirolern – gleich von Anfang an signalisieren: Ich komme zwar von auswärts, noch dazu in akademischer Mission, aber ich stehe keineswegs über Euch. Lasst mich an Eurem Alltag teilnehmen, Eure Arbeit mitmachen, Eure Kultur kennenlernen und in Euer Sozialleben eintauchen.

Die Stuller hatten nie zuvor einen Amerikaner gesehen. Wie würden sie reagieren, wenn sie sich auf Schritt und Tritt beobachtet, mit lästigen Fragen konfrontiert und in ihrer Intimsphäre beeinträchtigt fühlten? Erstaunlich gelassen: „Du, Forscher, du! Kimm do auer!“, lud der Altbauer Karl Gufler den Fremden, von dessen Beruf und Berufung er gerüchteweise bereits gehört hatte, sofort ins Haus. Unzählige Abende verbrachte Katz seitdem in der guten Stube des Gedelerhofs, eng zusammengedrängt mit Bauer und Bäuerin, Magd und Knecht, Großeltern und Kindern. Tagsüber half er ihnen bei den anfallenden Arbeiten. Katz hospitierte auch bei anderen Familien auf den verstreuten Stuller Höfen. Er passte sich an, mal mehr, mal weniger geschickt; spätestens als ihn dann im Juni vor der Grummeternte ein Bauer die Sense in die Hand drückte, wusste Katz, dass er nicht alles falsch gemacht haben konnte.

 

 

Von des Forschers Erlebnissen kündet ein soeben erschienenes Buch, betitelt nach dem Guflerzitat zur damaligen Begrüßung. Aussagekräftig ist die Unterzeile: Über den sozialen Wandel der 1970er Jahre. Genau hier liegt der Reiz des Werks: in der Momentaufnahme, im Betrachten, Innehalten, Reflektieren. Und natürlich auch im Sichwundern und Bogenspannen zur Gegenwart: Was gab es damals nicht alles, das es heute nicht mehr gibt? Der Blick zurück erfolgt bei Katz mit gehöriger Tiefenschärfe, zum Verschwundenen gehören nicht nur die augenscheinlichen Dinge. Klar, wir wissen alle, welche folgenschweren Veränderungen die Tiroler Bergler im vergangenen halben Jahrhundert mitgemacht haben, dass nacheinander Telefon (Anzahl der Geräte 1972 in Stuls: 1), Fernsehen (2), Computer (0), Internet und Mobilkommunikation in die Dörfer drangen, dass statt einer Handvoll nun ganze Busladungen Touristen einströmen, dass die Zahl der Selbstversorgerhöfe auf ein Zehntel des 1972er Bestands geschrumpft ist (im Fall Stuls: 30 → 3), und dass zwar noch nicht der Muezzin, aber längst auch nicht mehr jede Kirchenglocke zum Gebet ruft. Manches, auch damals nicht unmittelbar Hör- oder Sichtbares, wissen wir nicht. Wir erfahren es durch den teilnehmenden Beobachter.

Statt nur aus der Retrospektive zu schildern und sich der Gefahr auszusetzen, zu akademisch oder auch zu märchenonkelhaft zu wirken, vertraut Katz auf seine guten alten, mit der Hermes sorgfältig abgetippten Field Notes. Die unmittelbaren Beobachtungen, immer wieder im Original eingestreut und behutsam kommentiert, machen sein Buch lebendig und lassen das Jahr 1972 im Bergdorf wiederaufleben. Hier eine Kostprobe:

In der Bar Flora sind am frühen Donnerstagabend mehrere Männer zusammengesessen. Asper Tondl und Kuchl Siegfried haben lange über den Preis einer Ziege diskutiert. Schließlich hat Tondl zugestimmt, von Siegfried einen ausgewachsenen Ziegenbock zum Preis von 35.000 Lire zu kaufen. Geldscheine haben den Besitzer gewechselt und sofort haben beide lautstark behauptet, vom jeweils anderen hereingelegt worden zu sein. Sie haben gemeinsam getrunken und alle anderen haben zugeschaut. Die Transaktion war öffentlich und alle Männer am Tisch haben sie beobachtet. Sie waren Zeugen für den Inhalt der Abmachung.

Nicht immer geht es in Stuls derart harmonisch zu. Gegenstand der Field Notes sind zahlreiche Wirtshausszenen, in denen nicht nur der Stärke der Argumente, sondern auch der Kraft von Fäusten vertraut wird. Doch Augenblicke später ist alles bereits wieder vergessen. Nachhaltiger  wirken sich die latenten Konflikte aus, etwa das grummelnde Unbehagen mit der Kirche. Manches Mitglied der Herde weigert sich, weiter die  Rolle des folgsamen Schafs ein- und alles, was ihr Hirte predigt, unhinterfragt aufzunehmen. Dennoch ist der Pfarrer im Bergdorf anno 1972, weit mehr als der Bürgermeister, die Autoritätsperson im Ort. Kritik am Klerus erfolgt nur hinter vorgehaltener Hand und im kleinen Kreis. So auch beim Thema Gleichberechtigung und Stellung der Frauen: Im Stuller Wirtshaus sind sie, Feiertage einmal ausgenommen, so gut wie nicht zu sehen, es sei denn hinter dem Tresen oder in Kellnerinnenkluft. Ausbleibender Protest bedeutet keineswegs Akzeptanz. Katz begegnet sogar, wenn auch im Verborgenen, dezidiert feministischen Einstellungen zum Geschlechterkonflikt.

Einmal erörtert der Forscher mit einer Alleinerziehenden die Frage, warum es im sehr katholischen Dorf  eine sehr hohe Anzahl unehelicher Kinder gibt. Wegen der klammen finanziellen Situation vor allem der Knechte und Mägde, vermutet Katz. Wegen der dominanten Rolle der Kirche, hält seine Gesprächspartnerin ihm entgegen und hofft, „dass die Antibabypille den Frauen das Leben erleichtert. Auf meine Bemerkung hin, dass die Kirche Verhütungsmethoden wie die Pille verbiete, hat sie lachend gemeint: ‚Aber die Kirche verbietet ja auch den Sex!‘“

Symbolisch für die Veränderungen ist ein Sinnbild des Autors gegen Ende des Buchs. Katz sitzt bei einem Besuch im letzten Jahr im geräumigen, lichtdurchfluteten Wohnzimmer des Gedelerhofs und schaut fern, mit dem damaligen Bauern, der jetzt Altbauer ist, und einem Enkelkind, dessen Spielzeug überall verstreut liegt, was wiederum nichts ausmacht, da so viel Platz vorhanden ist. Kein Vergleich zur selben, wenn auch dunkleren und gefühlt viel engeren guten alten Stube, in der sich vor einem halben Jahrhundert zu jeder Nichtarbeitszeit die Bewohner drängten und sich Geschichten erzählten. Oder auch mal längere Zeit schwiegen. Wie altmodisch, mag das Urteil lauten. Je nach Blickwinkel gilt dies ebenfalls für die Situation, die Katz 2021 vorfand; schließlich schien niemand im Raum das Handy zu befragen, um zu kontrollieren, wer was in welchem sozialen Medium von sich gab. Man sah zusammen fern.

Spätestens hier wird sich bei Katz‘ Leserschaft der Aha-Effekt einstellen. Wie war das damals, und wie ist das heute, mit der Kommunikation? Am nicht vordergründig Hör- und Sichtbarem lässt sich der Wandel am besten festmachen. Anno 1972 hatten sich die Stuller sehr viel unmittelbarer miteinander ausgetauscht, fast ganz ohne Medien, und wenn sie mal TV konsumiert haben, dann gemeinsam in einem der beiden Wirtshäuser, wo die einzigen Geräte im Ort standen. War der Austausch damals oder ist er heute fruchtbarer? Diese Frage, der Lektüre vorangestellt, macht das Buch noch lohnenswerter, als es ohnehin ist. Die Beantwortung liegt ganz bei den Lesenden.

„Du, Forscher, du!“ Ein Amerikaner im Bergdorf Stuls. Edition Raetia, Bozen 2021. ISBN 978-88-7283-784-9