Society | Nachruf

Der Bauer als Visionär

Vergangene Woche ist der Altbürgermeister von Prettau, Josef Steger, gestorben. Florian Kronbichler über den „Köfl Sepp“ und seine besondere Welt.
Prettau
Foto: Othmar Seehauser
Am Begräbnis das Schönste, nach dem prächtigen Spätherbsthimmel, war der Nachruf, den Tochter Andrea beim Gottesdienst auf ihren Vater, den Köfl Seppl, hielt. Es war eine Litanei von Liebeserweisen und heiteren Episoden, und die allerheiterste war folgende: 
 
Da kam auf Köfl in Prettau, das ist der Heimathof des Verstorbenen, einmal „do Grouf“ auf Besuch. Der „Grouf“, damit ist im ganzen Tal der alte Georg Graf Enzenberg gemeint. Das ist jener Herr, der „im Land“ heute noch die schönsten Weinhöfe besitzt und allein „im Tal“ (das ist das Ahrntal) einmal so gut wie alles besessen hat. Kam er also „ auf Köfl“, hier seinen Kumpan, den Altbauer und Altbürgermeister Josef Steger, zu besuchen. Mit dem Hubschrauber kam der Graf diesmal. Und es muss an dem Tag hoch hergegangen sein, auf Köfl, denn so ein Grafenbesuch zieht immer weitere Prominenzen an, und irgendwann habe der Graf einen Vorschlag gemacht: Einen „Spinnerclub“ wollte er gründen, und den Club dieses Namens sollten bilden: der Köfl Seppl, der Reinhold Messner, der Lois (Durnwalder) und er selber natürlich, Graf Enzenberg.
 
Zur Gründung dieses „Spinnerclubs“ ist es nie gekommen, aber seine Besetzung hätte dem Namen durchaus einen gewissen Beigeschmack von Wahrheit gegeben. Josef Steger, der sich von den Vieren mit Sicherheit für den Ernstesten gehalten hätte, war von 1971 bis 1990, also zwanzig Jahre lang Bürgermeister von Prettau. Vorher, von 1967 bis 1971, war er Vize unter einem gewissen Hans Benedikter, später Parlamentarier. Dieser wohnte damals schon in Bozen und „kam einmal im Monat in die Gemeinde“.
 
 
Die kleine Znichtigkeit von „einmal im Monat“ verkniff sich die nachrufende Tochter nicht. Sie wollte der großen Trauergemeinde damit zu verstehen gegeben haben: In Wahrheit schaute Vati in der Gemeinde nicht nur seine offiziellen 20 Jahre nach dem Rechten, sondern schon lang vorher. Daran erinnert zu haben, mag für den Verstorbenen ein bisschen Entschädigung dafür gewesen sein, dass er 1990, zum Ende seiner vierten Bürgermeisterperiode, ziemlich unsanft aus dem Amt gejagt wurde. Der Köfl Seppl hatte die Gemeinderatswahlen wieder mit haushoher Vorzugstimmen-Mehrheit gewonnen, wie alle die Wahlen vorher, aber Prettau wäre nicht Prettau, wenn immer alles liefe wie vorgesehen. Den SVP-Räten war der gebildete Bauer Josef Steger über den Kopf gewachsen, das mögen die dort nicht. Sie wählten den gutmütigen Postboten Alois Brugger und behielten den dann die nächsten 20 Jahre. 
 

Das Dorf

 
Josef Steger war ein besonderer Bürgermeister einer besonderen Gemeinde. Die Prettauer gelten auf der Wertskala der Ahrntaler (mit denen sie im übrigen nichts gemeinsam haben wollen) für „die Gscheidn“, die St. Peterer die Reichen, die St. Jakober die Schönen, die St. Johanner die Frommen (Steinhaus war früher kein Dorf, und von den Luttachern weiß ich es nicht). Die Behauptung von den gescheiten Prettauern findet in dem am 7. Oktober verstorbenen Köfl-Bauer unzweifelhaft ihren Beweis. Allerdings darf das nicht zu der irrigen Annahme führen, die Prettauer seien außer gescheit nicht auch schön. Tatsächlich sind viele von ihnen auffällig groß und blond, wohingegen die „Tölderer“ eher von gedrungener Gestalt und dunkelhaarig sind. Die Legende erzählt, es seien sächsische Bergarbeiter gewesen, die hier Spuren hinterlassen hätten. Dokumentiert ist, dass es in Prettau bis Ende des 20. Jahrhunderts Protestanten gegeben hat. Auch das ist auf die Bergbau-Geschichte zurückzuführen. Dank dem Kupferbergwerk war dieses Nest Prettau zuhinterst im Tale (heute 500 Einwohner) den Einflüssen der weiten Welt mehr ausgesetzt als die meisten anderen Gemeinden Südtirols.
 
 
Gescheit und schön also. Und in moralischen Dingen, so wie das nordseitig angrenzende Zillertal, freizügiger als die südlichen Nachbarn. Gescheit zu sein wird dem „Köfler“ sogar von seinen politischen Gegnern bescheinigt (auch solche gibt’s in Prettau). Ob er auch ein schöner Mann war? Sicher hätte er den Vergleich mit seiner Frau scheuen müssen. Antonia, ebenfalls gebürtige Prettauerin, hat sich im Dorf den Übernamen „Königin Silvia“ erworben. Begründung überflüssig. 
 

Der besondere Bürgermeister

 
Josef Steger war alles, was einer im Dorf so werden konnte, außer Pfarrer. Bürgermeister, Fraktionspräsident, Kapellmeister, Chorleiter, Obmann so gut wie aller Verbände und dazu Ortsvertreter in Bezirks- und Landesgremien. Dass seine Außerordentlichkeit mehr außerhalb seiner Gemeinde anerkannt wurde als daheim, ist Prophetenschicksal und spricht nicht gegen Prettau.. Ich selber lernte den Prettauer Bürgermeister auf einer Gemeindenverbands-Vollversammlung in Bozen kennen. Es war in den 80er-Jahren, Ferdinand-Willeit-Zeit. Der seinerzeit allmächtige Geschäftsführer hatte wieder einmal zum Angriff auf den Landeszentralismus geblasen.
 
 
Da stand das Bürgermeisterlein der Kleinstgemeinde Prettau auf. Er sprach so, wie Tölderer sprechen, wenn sie Hochdeutsch sprechen. Das ist dann das reinest mögliche Deutsch eines Südtirolers mit ans Englisch anklingender Kadenz. Steger ging von der konkreten, nicht vorhandenen Gemeindeautonomie im Land aus, leitete über zu einem Exkurs über Föderalismus an sich und schloss ab mit wieder konkreten Forderungen nach mehr Autonomie für die Gemeinden. Alle Bürgermeister im Saal folgten still dem Vortrag des Kollegen (denn ein Vortrag war es). Danach gab es bewegten Applaus. Alle hatten verstanden. Alle waren einverstanden. Der Bürgermeister hatte „nur“ zu Bürgermeistern gesprochen. Er hätte mit dem Vortrag vor jedem akademischen Forum Eindruck gemacht.
 

Die Nanne

 
Der Köfl Seppl tat gern „gescheit reden“ – diesen Ausdruck einmal wörtlich und nicht seinem umgangssprachlichen Sinn nach verstanden. Wir haben uns später, in seiner abservierten Zeit, öfter getroffen, um einander Recht zu geben. Zu sagen, wir seien Freunde geworden, erlaube ich mir nicht. Nicht jetzt, seit er nicht mehr widersprechen kann. Ich hatte und habe immer noch eine wirkliche Freundin in Prettau. Das ist die Nanne Stolzlechner, wird demnächst 96, und war keine Freundin „fan Köfla“. Dieser war die Regierung, und die Nanne war die Opposition. Jahrzehntelang und unverbrüchlich. 
Die Behauptung von den gescheiten Prettauern findet in dem am 7. Oktober verstorbenen Köfl-Bauer unzweifelhaft ihren Beweis.
Die gegenseitige Nichthochachtung dauerte lang über die jeweiligen Amtszeiten der beiden hinaus an. Doch mit den Jahren wich die amtsbedingte Gegnerschaft zwischen dem Seppl und der Nanne einer gewissen Neugier aufeinander. Sie trafen einander ja nie mehr. Ich botschaftete gelegentlich von der einen zum andern und brachte dann Respektsweisungen vom andern zur einen zurück. Das gefiel beiden. „Sein tut er, tut sie mir aber ..., aber trotzdem, man muss ihr/ihm lassen ... So verteidigten sie einander.
 
Letzten Freitag, Begräbnis für Josef Steger. Ich besuche vorher die Nanne. Sie liegt auf der Ofenbank, und wir reden über ihren speziellen Freund, den „Köfla“. Kein böses Wort aus ihrem Mund heute. „Nachtragend war ich nie“, sagt sie rechthaberisch, und dann – es wär sonst nicht die Nanne – dann sagt sie ein großes Wort: „Mit dem Tod hört die Feindschaft auf.“
 
Lebte er noch, wäre ich anschließend von Kasern talauswärts gewandert und hoch über Prettau beim Köfl Seppl eingekehrt. Ich hätte ihn ebenfalls auf der Ofenbank liegend angetroffen. Und er wäre aufgesessen, hätte sich nach dem Befinden der Nanne erkundigt, hätte mir versichert, dass er gar nichts, aber schon gar nichts mehr gegen sie habe, und dann hätte er angefangen, mich auszufragen, wie ich das sähe, wie das denn weiterginge, mit den Kurden dort hinten in der Türkei. Ein weltpolitischer Prettauer ist gestorben.