Chronicle | Corona Home Story

Eine erfolglose Flucht, die keine war.

Gedächtnisprotokoll, Beobachtungen und Gedankengänge aus Wien.
Alles Gute
Foto: Julian Mayr

Für mich waren es heuer kurze Semesterferien daheim im Pustertal. Gerade eine Woche sollte mir vergönnt sein. Welch ein Jammer, dachte ich während der Rückfahrt nach Wien am 23. Februar. Bald aber, spätestens an Ostern, käme ich aber ohnehin wieder heim, so mein Trost.

Wenige Tage zuvor verbreiteten sich erste Meldungen, wonach es in der Lombardei zu einer Verbreitung des in China grassierenden neuartigen Corona-Virus gekommen sei. Die Zahlen aus Asien vor Augen haltend, erschien mir die Lage in Norditalien aber noch als weitestgehend unter Kontrolle. Neben einer gewissen Erleichterung, blieb aber Besorgnis. Was, wenn die Ausbreitung vielleicht schon weit fortgeschritten und nicht mehr aufzuhalten ist?

Zur Beruhigung besann ich mich zunächst leichtgläubig auf, zugegeben, recht trügerische Gedanken, wie abgeschieden von Europas Ballungsräumen man hier, bis auf den Kontakt mit Touristen, doch sei. Ein Virus könne sich in einem ländlich geprägten Gebiet wie Südtirol ohnedies nicht rasend schnell verbreiten, die Hochsaison würde bald ein Ende haben, die Biathlon-Weltmeisterschaft war bereits Geschichte. Und wenn, dann wäre unser Gesundheitssystem mit Sicherheit in der Lage, schlimmere Szenarien zu verhindern. Irrtum.

Dass der Virus nicht zu verharmlosen ist, war mir angesichts der Meldungen aus China und Südkorea schon längst klar. Dass er binnen weniger Wochen allein in Italien mehr als 20.000 Personen infizieren, tausende töten und zu solch drastischen - und leider notwendigen - Maßnahmen führen sollte, vermochte ich mir nicht vorzustellen. Oder wollte es nicht.

Am Abend, nach Ankunft am Hauptbahnhof, lese ich dann verdutzt die Nachricht, der Zugverkehr über den Brenner sei wegen des Verdachts auf Erkrankung zweier Passagiere vorerst eingestellt. Gerade noch so geschafft, dachte ich mir. 

 

Es folgen Meldungen über Infizierte in Tirol, stark wachsende Zahlen in Norditalien, Warnungen über die Gefährlichkeit des Virus für das Gesundheitssystem und Warnungen vor einem möglichen Kollaps desselben. Erst im Moment einer akut drohenden Gesundheitskrise und Notsituation realisiere ich, dass mein Zuhause mitnichten abgeschirmt von äußeren Gefahren Schutz bietet und ich wohl vorschnell keine Rückreise mehr antreten werden könne und wolle.

Gleichzeitig wird mir schlagartig bewusst, wie rasch eine Übertragung über Landesgrenzen hinweg passieren kann und dass ich am Ende des Tages wohl nirgendwo vor dem viralen Unheil gefeit sein werde.

Während inzwischen ganz Italien zur roten Zone erklärt wurde, waltete in der Bundeshauptstadt zu diesem Zeitpunkt noch der alltägliche Wahnsinn. Touris bevölkerten in Scharen unbehelligt Sehenswürdigkeiten, Menschen strömten zu tausenden in die Einkaufsstraßen- und Zentren, die Wiener Linien beförderten auch weiterhin täglich mehr als 2 Millionen Menschen auf engstem Raum und die Gastwirte montierten emsig die ersten Schanigärten für die ersten wohligen Frühjahrsabende im Freien. Einzig die Anzahl der Studierenden an der Universität war aufgrund der laufenden Semesterferien geringer als sonst.

Ich versuchte auszublenden, was daheim zu geschehen drohte und hoffte gleichzeitig, Österreich in erster Linie und auch andere Nachbarstaaten nähmen zügig Anleihe bei Italiens Form der Krisenbewältigung. Doch auch in Österreich wartete man zu lange, reagierte zu spät. Der winzige Erreger, dem ich für einen Moment entflohen zu sein glaubte, war auch im Osten Österreichs angekommen. Und mit ihm - immerhin - ein Bündel an Maßnahmen und Einschränkungen, um dessen Ausbreitung einzuhegen. 

 

Türkis-Grüne Appelle von Bundeskanzler Kurz, Vizekanzler Kogler, Innenminister Nehammer und Gesundheitsminister Anschober, soziale Kontakte und Menschenansammlungen zu vermeiden fruchten zunächst nur bedingt. Mit Unverständnis vernehme ich Meinungen und Kommentare in den sozialen Netzwerken die im Zusammenhang mit Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen von Unverhältnismäßigkeit und Übertreibung sprechen, die weiterhin Vergleiche mit der saisonalen Grippe ins Feld führen. Das Leben scheint für viele unbehelligt weiter zu gehen, der Ernst der Lage, scheint nicht allen bewusst.

Nach wenigen Tagen in sozialer Isolation in unserer zahlenmäßig dezimierten Wohngemeinschaft in Wien Leopoldstadt und vereinzelten Spaziergängen an der schönen Donau und im Prater, spiele ich mit dem Gedanken, nun doch wieder die Heimreise anzutreten.  Vielleicht ist es die letzte Möglichkeit, bevor für einige Zeit jeglicher Zugverkehr eingestellt, die Grenzen völlig dicht gemacht würden. Wo lässt es sich wohl besser ausharren? Was, wenn sich die Lage daheim zum Besseren wendet und sich hier in Wien drastisch verschlechtert?

Was aber, wenn ich für einen Moment nicht nur an meine Befindlichkeiten denke, sondern einsehe, dass mein individuelles Handeln und Nicht-Handeln Einfluss darauf hat, wie es anderen (er)gehen könnte? Was, wenn ich die Lage einfach akzeptiere, meine Ausgänge auf ein Minimum reduziere, soziale Kontakte meide? Wenn es das einfachste Opfer ist, das ein junger Mensch bringen kann, um Eltern, Großeltern, Freunde und schlussendlich sich selbst zu schützen, warum ist es dann für viele schlicht entbehrlich?