Society | Arbeitspsychologie

Regiert Geld auch die Arbeitswelt?

Der Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet für Betroffene nicht nur einen Erwerbsausfall, sondern langfristig auch eine grundlegende Veränderung des Alltags.
Note: This article was written in collaboration with the partner and does not necessarily reflect the opinion of the salto.bz editorial team.
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Foto: AFI-IPL

Wenn man an Arbeit denkt, steht diese meist in direkter Verbindung zum finanziellen Reichtum und dem sozialen Status eines Menschen innerhalb der Gesellschaft. Allein die Tatsache, dass die Gehaltsfrage bei Bewerbungsgesprächen oft wichtiger zu sein scheint als das Tätigkeitsprofil selbst, zeigt, welch hohen Stellenwert monetäre Aspekte in der aktuellen Arbeitswelt einnehmen. Doch was wäre, wenn man die eigene Arbeitstätigkeit unter einem psychologischen Blickwinkel beleuchten und sie nicht nur als „Um zu“-Tätigkeit abstempeln würde? 
Die Arbeitstätigkeit an und für sich übt einen ebenso bedeutenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung aus wie die Höhe des Gehaltsschecks am Monatsende. Was würde passieren, wenn ein Großteil der Gesellschaft von heute auf morgen seine Beschäftigung verlieren und somit ein fester Bestandteil des Alltags wegfallen würde?


Die Arbeitslosen von Marienthal 


Genau diese Frage beschäftigte drei Forscher und wurde schlussendlich in der 1933 veröffentlichten Studie mit dem Titel „Die Arbeitslosen von Marienthal“ beantwortet. Marienthal ist ein österreichisches Dorf südöstlich von Wien, in dem sich von ca. 1830 bis zum Zusammenbruch der Österreich-Ungarischen Monarchie im Jahr 1918 eine der größten Textilfabriken der k.u.k-Doppelmonarchie befand. Das Dorf war zu jener Zeit die Heimat von etwa 1.200 Arbeitskräften, die in den umliegenden Industriegebäuden beschäftigt waren. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie verlor die Fabrik ihre Absatzmärkte in Ungarn und auf dem Balkan, weshalb ihr Betreiber gezwungen war, zunächst einen Großteil der Belegschaft und schließlich alle dort Beschäftigten zu entlassen. Die Dorfbewohner waren plötzlich arbeitslos und verloren parallel dazu auch ihr fixes Einkommen sowie jegliche zeitliche Verbindlichkeit. 
Genau diesen Umstand untersuchten die Forscher und wollten im Rahmen der Studie herausfinden, welche psychosozialen Auswirkungen Langzeitarbeitslosigkeit auf eine Gemeinschaft hat. Nach einem Beobachtungszeitraum von fast drei Jahren kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich die neu gewonnene Freizeit der Arbeitslosen zu einem unliebsamen Geschenk entwickelte: Zwar waren viele zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit glücklich, ihren Hobbys und Interessen nachgehen zu können, jedoch hielt dieser Zustand nicht lange an. Es stellte sich eine Art Lustlosigkeit ein, die sich quer durch die Dorfgemeinschaft bemerkbar machte. Interessant war dabei, dass die Frauen im Dorf beim Gehen eine Durchschnittsgeschwindigkeit aufwiesen, die 1,5-mal so hoch war wie jene der Männer. Die Forscher führten diesen Umstand auf die Tatsache zurück, dass die Frauen auch nach dem Verlust ihrer Beschäftigung eine Reihe von Hausarbeiten zu erledigen hatten, welche nun die Basis ihrer neuen Routine darstellte. Generell nahm die aktive Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Geschehen deutlich ab, ein Großteil der Gesellschaft zog sich zurück, und das Gemeinwohl wich schleichend dem Individualismus der Dorfbewohner, was sich schließlich auch in einem Anstieg der Gehässigkeiten bemerkbar machte (die Zahl der erstatteten Anzeigen im Forschungszeitraum stieg aufgrund unbefugter Gelegenheitsarbeit signifikant an).  
 

Arbeit: Weit mehr als die Sicherung des Lebensunterhalts 


Was soll uns dieses tragische Beispiel zeigen? Es soll uns ins Bewusstsein rufen, dass Arbeit nicht nur der Sicherung unseres Lebensunterhalts dient, sondern auch für unsere psychosozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten eine bedeutende Rolle spielt – damals wie heute. 

Es soll uns ins Bewusstsein rufen, dass Arbeit nicht nur der Sicherung unseres Lebensunterhalts dient, sondern auch für unsere psychosozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten eine bedeutende Rolle spielt – damals wie heute.


Zu dieser Schlussfolgerung kam auch eine Studie des AFI | Arbeitsförderungsinstituts, die sich mit der Qualität der Arbeit aus psychologischer Sicht befasste. Demnach bestimmt die Beschäftigung unseren Rhythmus, inklusive des Zeitrahmens, der vor allem für die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Freizeit essentiell ist. Auch unsere Persönlichkeitsmerkmale sowie das Selbstvertrauen entwickeln sich parallel zu den beruflichen Herausforderungen und den gewonnenen Fähigkeiten weiter. Die vergangenen zwei Jahre, die ein Großteil der Arbeitnehmerschaft zwischen Lockdown, Quarantäne und Homeoffice verbracht hat, haben diese sozialen Notwendigkeiten noch einmal hervorgehoben: Die soziale Isolation sowie die prekäre Arbeitssituation vieler Beschäftigter resultierten in einem deutlichen Anstieg psychischer und physischer Belastungen (www.tagesschau.de, 2021). 


Unsere moderne Gesellschaft hat in den vergangenen zwei Jahren einen unfreiwilligen Ausbruch aus der gewohnten Alltagsroutine erlebt, weshalb hier ebenfalls ein Anstieg der psychischen Belastungen, hauptsächlich aufgrund der sozialen Isolation und der prekären Arbeitssituation vieler Beschäftigter, zu verzeichnen ist. Im Rahmen der Arbeit verdient man also nicht nur Geld, sondern man gewinnt an Fähigkeiten, an Selbstbewusstsein und sozialen Kontakten – und das kostenlos. Arbeit bedeutet also nicht nur eine Bereicherung für das eigene Portemonnaie, sondern auch für die persönliche geistige Entwicklung. Das bedeutet, dass Beschäftigung weit mehr als nur Gelderwerb ist. Arbeit bedeutet auch soziale und individuelle Weiterentwicklung, sie gibt unserem Alltag Struktur und fördert unsere Fähigkeiten auf positive Art und Weise. 

Arbeit bedeutet also nicht nur eine Bereicherung für das eigene Portemonnaie, sondern auch für die persönliche geistige Entwicklung.

Ein Artikel von AFI-Praktikantin Karin Inama