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Der stille Rebell

Walter Brunner startete bei Olympia, heute betreibt er in Sterzing ein Handwerk, das fast vom Aussterben bedroht ist. Er ist Schuster. Ein Porträt von Nadia Sorg.
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Foto: zebra
Sterzing ist nicht groß. Wer aber in der belebten Fußgängerzone sein Geschäft hat, wird von vielen Menschen wahrgenommen. Gleich hinter den Gemäuern der mit Erkern gezierten Bürgerhäuser ist das anders. Hier, im Abseits, blüht seit langer Zeit ein stiller Rebell: Walter Brunner gibt seine Hände für die Füße, repariert, baut und flickt – und widersetzt sich so der konsumgesteuerten Massenproduktion.
Um das Zentrum von der Peripherie zu trennen, braucht es weder Google Maps noch eine Kenntnis der Sterzinger Geografie, sondern nur wenige Hundert Meter Fußweg. Hier scheint die Lebendigkeit oft zu zögern. Wenn du die stille Hochstraße entlang gehst, fühlst du dich wie im Dorf. Auf der einen Seite begleitet eine dunkelgraue Mauer die Fußgänger, auf der anderen zumeist moderne Hausfassaden mit verschlossenen Türen.
Die mit Schuhen gefüllten Körbe, Ständer mit Badeschlappen und die Fahnen am Schaufenster fallen zwischen den grauen Mauern und Haustüren auf. Wenn du die Hand an die Stirn legst und mit ihr ein Dächlein bildest, um das Gegenlicht abzuwehren, kannst du einen Blick auf das Innere des bescheidenen Schaufensters erhaschen. Einige Lauf- und Wanderschuhe sind gut sichtbar und ansprechend ausgestellt. Die Qualität der Schuhe lässt sich schon an ihrem Äußeren ablesen – auch ohne Preisschilder würdest du ihren Wert erkennen.
Wenn du dann durch die schmale Glastüre trittst, findest du dich in einem recht kleinen Geschäft wieder, in dem dich eine freundliche, unaufdringliche Stimme sogleich begrüßt. Kunden fallen hier sofort auf, der Laden ist überschaubar. Die Wände sind als Ausstellungsfläche gut genutzt. Gut heißt, nicht zu voll und nicht zu leer; so dass zwischen den einzelnen Schuhen noch Platz für einen Fotodruck ist, welcher die Pracht der nahe liegenden Natur in kräftigen Farben zum Ausdruck bringt. Das Geschäft gehört Walter Brunner. Seit Jahrzehnten verkauft er hier im Abseits versteckt die unterschiedlichsten Schuhe. Neben den festen und teuren Schuhen für Berg- und Hochtouren, Wanderschuhen und Laufschuhen findest du hier auch Hausschuhe und Casuals. Eigentlich also ein ziemlich normales Schuhgeschäft.
 
 
 
Erhaschst du aber einen Blick in den hinteren Raum, erscheint ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Grund dafür sind die Maschinen in verschiedenen Größen, die für das Schusterhandwerk und speziell für die Schuhreparatur notwendig sind. Sie sind hierzulande mittlerweile selten geworden: Die Schleif- oder Ausputzmaschine, verschiedene Nähmaschinen und die Presse sind hier genauso zu Hause wie spezielle Werkzeuge. Wenn du jetzt achtsam bist, dann merkst du die Note Schmieröl in der Luft.
 

Die Funktion im Vordergrund

 
Walter Brunner ist eigentlich ein ganz normaler Mann. Ein erfahrener Schuhhändler eben, welcher seiner Arbeit schon jahrzehntelang nachgeht und das Gewöhnliche, Unkomplizierte und Natürliche schätzt. Er ist kein Typ, der Anzug trägt. Die Performance, das Aussehen, der Stil – das alles scheint für ihn zweitrangig zu sein. Er trägt Hemd, Jeans und praktische Schuhe. Dinge, die ihre Funktion erfüllen. Auf seiner Stirn haben sich einige Schweißperlen gebildet. An seinen furchigen und mit schwarzem Öl gezierten Händen sieht man, dass er sein Leben für das Handwerk gibt. Dass er in erster Linie Schuster ist – und kein Verkäufer.
Walter Brunner ist oft schockiert, in welchen Schuhen einige Menschen tagtäglich unterwegs sind.
Die Zeit der Schuster ist eigentlich vorbei. Heute regiert die maschinelle Produktion in den Schuhfabriken den Markt. Sie produzieren wie der Rest der Modebranche nach Trends. Wie auch zu anderen Gegenständen hat sich unsere Beziehung zum Schuhwerk stark verändert.
Früher”, so erzählt Brunner, “konnte man Schuhe noch ordentlich reparieren.” Lederschuhe bekamen häufig eine neue Sohle oder neue Absätze. Heute ist oftmals nur mehr ein behelfsmäßiges Kleben möglich, da ein Großteil des verwendeten Materials Kunststoff ist, Verbindungen von niedriger Qualität. Material und Zweck, für welchen die Schuhe gekauft werden, werden meistens der Farbe, dem Design und der Marke untergeordnet. Die Passform wird schlichtweg ignoriert.
 

Gesunde Füße gesucht

 
Walter Brunner ist oft schockiert, in welchen Schuhen einige Menschen tagtäglich unterwegs sind. Er hält sich mit seiner Kritik nicht zurück, denn durch den Kunststoff kann die Haut nicht atmen. Viele Modemarken schneiden zudem sehr enge Schuhe und vor allem Frauen tendieren dazu, den Schuh lieber eine Nummer kleiner zu kaufen. Das hat damit zu tun, dass in unserem Kulturkreis beim weiblichen Geschlecht der kleine Fuß noch immer als Schönheitsideal gilt. Ein ausgelatschtes Fußbett verbietet außerdem das richtige Abrollen. „Zu hohe Absätze sind sicherlich auch nicht gesund”, meint Brunner. “Die Knochen und Sehnen verformen sich und manche sind nicht mehr imstande, barfuß zu gehen.“
 
 
 
Je mehr er darüber nachdenkt, desto weniger versteht er die Menschen, welche ihr Geld für solche Schuhe ausgeben. Die Folge sind schließlich schmerzende Füße. Und nicht nur das: “Bei ausgelatschten Sohlen muss die falsche Haltung vom nächsten Gelenk korrigiert werden, und das ist das Knie.” Für Bunner bleibt nur eine Erklärung: „Wenn ich so einen Billigschuh kaufe, will es heißen, dass ich mich selbst nicht schätze.“
Und er hat wohl recht. Die Füße werden durch unsere kulturelle Prägung kaum geschätzt, etwas, das mittlerweile auch eine breite Masse in verschiedenen Gesundheitsbewegungen kritisiert. Die Enden der unteren Gliedmaßen spielen nur eine Rolle am Rand, werden versteckt und verpackt. Sie gehören nicht zu den wichtigen Dingen, obwohl sie den eigenen Körper das ganze Leben lang tragen.
 

Was macht ein Schuster heute?

 
Walter Brunner will sich diesem Widerspruch nicht beugen. Doch den Schuhbedarf allein manuell zu decken, ist auch für ihn nicht mehr möglich. Handgemachte Schuhe kosten in Europa mehrere Hundert Euro das Paar. So hat sich der Schuhmacher dazu entschieden, zu tun, was er kann. Er ist einer der wenigen Schuhmacher-Meister, die gebrauchte und getragene Schuhe noch reparieren. Er erneuert und klebt Absätze und Sohlen, repariert Nähte, dehnt Schuhe und macht das Material weicher. Dafür benötigt er nur ein paar Euros, viele geben aber gerne etwas mehr. Nur wenn der Schuh nicht mehr zu retten ist, rät er zu einem Neukauf.
Es sind nicht die paar Euro, die ich mit meinem Beruf verdiene. Es ist das zufriedene Lächeln, wenn einer bei der Tür hinausgeht."
 

Ganz natürlich

 
Als großer Bewunderer der Natur liegt Walter Brunner die Umwelt am Herzen. Er positioniert sich klar gegen Greenwashing und fadenscheinige Recyclingprozesse: “Die Haltbarkeit spielt heute eine sehr geringe bis gar keine Rolle. Recyclingprozesse sind oft reines Greenwashing, weil die alten Schuhe gar nicht aufbereitet, sondern schlicht und einfach weggeworfen werden”, so Brunner, der die Lebensverlängerung der Schuhe zu seiner Devise macht.
 
 
 
Dabei wollte er gar nicht Schuster werden, erzählt Brunner. Sein Traumberuf wäre Architekt gewesen, doch das Herz schlug auch für den Rodelsport – vielleicht sogar etwas mehr. Als Rennrodler der italienischen Nationalmannschaft blieb für ein anspruchsvolles Studium keine Zeit. Er war ganze 13 Jahre lang bei der italienischen Nationalmannschaft im Kunstbahn-Rennrodeln. 1984 wurde er Europameister und nahm im selben Jahr sowie vier Jahre später an den Olympischen Spielen in Sarajevo und Calgary teil. Es blieb ihm keine Wahl: Nebenher half er zu Hause im Betrieb und erlernte dasselbe Handwerk wie sein Vater. Und so kam es, dass er die Meisterprüfung ablegte und Schuhmacher wurde. Ungern übt er den Beruf nicht aus. Vor allem die zufriedenen Gesichter, wenn in der Hand ein passender Schuh liegt und dann an den Fuß kommt, sind für Walter Brunner ein Dank: „Es sind nicht die paar Euro, die ich mit meinem Beruf verdiene. Es ist das zufriedene Lächeln, wenn einer bei der Tür hinausgeht“, meint er.
Walter Brunner ist also ein stiller Rebell, der nah am Menschen und am echten Leben geblieben ist, anstatt sich den Dogmen von Markt und Mode zu unterwerfen. Er gibt die Kraft seiner Hände für die Füße; nicht für die Fische, sondern im Sinn einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft. In und um Sterzing, im Zentrum und der Peripherie hoffen viele, dass der respektvolle und bescheidene Schuster noch lange Zeit ihre Lieblingsschuhe repariert. Auch Dinge können einem ans Herz wachsen – und die eigenen Füße sollten es.