Culture | Salto Weekend

Braucht Ötzi ein «Superstudio»?

Zwischen Ötzi-Museum, innovativen Verkehrszählungen, Architektur und neuen Forschungen im Städtebau
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Foto: upi

Vor genau 100 Jahren entstanden hauptsächlich in Deutschland und den USA viele Handbücher zum Städtebau. Erwähnenswert sind das «Handbuch des Städtebaues» von Cornelius Gurlitt, sowie «The American Vitruvius» von Werner Hegemann. Scharfe Kritik an den zeitgenössischen Entwicklungen des deutschen und amerikanischen Städtebaus füllte die Seiten dieser Schriften, jedoch warben die Autoren auch für ein geschlossenes Auftreten der für die Stadtbaukunst verantwortlichen Beteiligten – denn nur ein überzeugtes Handeln könne zu einer Milderung der Hässlichkeit moderner Städte führen. Der Hauptvorwurf lautete, die zeitgenössische Stadtplanung habe versäumt, sich mit dem zeitgenössischen Leben auseinanderzusetzen. Einige Jahrzehnte später diente zur Vermittlung der Ideen der Gruppe die gleichnamige Zeitschrift: «Archigram». Ihre gemeinsame Überzeugung lautete: Eine neue Architektur muss kommen – mit Räumen und Formen, die die klassischen Regeln des Städtebaus verstößt. Beeinflusst von «Archigram» entstand einige Jahre später in Florenz die Arbeitsgemeinschaft «Superstudio», die durch Ausstellungen in Japan und den USA international bekannt wurde. Durch die utopischen Ansätze, wie das Projekt «il monumento continuo» in den Alpen, versuchte die Gruppe gezielt die Probleme unserer Städte und unserer Landschaft aufzuzeigen und diese der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. In den 70ern entwickelten diese blutjungen Architekten Werke, die sich absichtlich der Diskussion stellten. Sie waren intelligent, beweglich und möglicherweise auch selbstkritisch genug, um ebenfalls Widersprüche in den eigenen Projekten zu erkennen. Somit stellt sich nun die Frage: Can our Citys Survive? Können unsere Städte überleben? Das neue Raumordnungsgesetz von 2020 löst die alten Gesetze der Raumordnung und des Landschaftsschutzes ab, die beide aus den frühen 1970er-Jahren stammen. Es kann doch nicht ein Zufall sein, dass in den 70ern im Bereich der Raumplanung- und des Städtebaus in Italien so vieles thematisiert, diskutiert und beschlossen wurde. Dies heißt, dass positive Synergien entstanden. 


Und heute? Und Wir? Heute, mit einer landesweiten Verdopplung der Familien, mit unserer enormen Bautätigkeit und den visionären Projekten (z.B. Ötzi-Museum), die nur abwarten realisiert zu werden, ist es zu einer unabdingbaren Notwendigkeit geworden - wie in anderen Ländern auch - mit professionellen Forschungen des «urbanen Raumes» Entscheidungsträger und Gemeinden zu unterstützen. Wir brauchen nachhaltige Städte, die auch attraktiv und ästhetisch anspruchsvoll sind – mit dem Ziel, Grundlagen für eine menschengerechte und nachhaltige, sowie ästhetisch und kulturell anspruchsvolle Gestaltung unserer Umwelt zu entwickeln. Städte dienen seit langem als Tor zu einem neuen Leben und bieten ihren Bewohnern neue Lebensumstände, neue wirtschaftliche Möglichkeiten und neue soziale Beziehungen. Bietet die Stadt immer noch einen brauchbaren Ankunftsort auf allen wirtschaftlichen Ebenen? Wie wirken sich grössere Projekte auf die Stadtbewohner aus? Welche konkreten, neuen Ansätze gilt es zu erforschen?

 

In der Technik, im Bereich der «Mobilität», sind einige Städte in Europa mittlerweile soweit (Südtirol nicht), dass man mit einer Software aus dem Büro aus die Fahrradzählungen (anonym) der gesamten Stadt registrieren kann. Man erhält somit nicht nur die gesamten Fahrradrouten der Stadt geliefert, die die Einwohner gerne befahren, sondern auch die Durchschnittsgeschwindigkeit der Verkehrsflüsse oder die Erschütterungen, die an bestimmten Orten die Fahrräder erleiden müssen. Somit bekommt die Stadt neue Daten und neue Pläne- man weiß zum Beispiel an welchen Orten die Fahrradfahrer stark bremsen oder über wie viele Löcher sie jonglieren. Selbst die genaue Lokalisation wo öfters Unfälle stattfinden, kann vom Programm erfasst werden. 

 

Wichtig erscheint in diesem Kontext auch die Entwicklung eines eigenen «Urban Quality Index UQI». In den letzten Jahren wurden verschiedene Stadtindizes und Stadt-Rankings von Gemeinden als Instrument zum Maßstab und zur Förderung der Attraktivität von Städten immer mehr anerkannt. Mit dem primären Ziel die Lebensqualität in den Städten zu verbessern, arbeiten verschiedene Regierungsorganisationen und Expertenagenturen (wie das Magazin Monocle mit dem Monocle City Index) kontinuierlich daran, Lebensqualität aus ihrer Sicht zu definieren. Trotz zahlreicher Angaben und Rankings ist die Annahme, dass diese Indizes einen Einfluss auf die Lebensqualität haben können, unsicher. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Stadtindizes ist es sinnvoll, die Lebensqualität unserer Städte selbst zu untersuchen. Genaue Umfragen und ausführliche Interviews könnten die unterschiedlichen Auffassungen zu den verschiedenen Indikatoren für urbane Qualität ermitteln und dabei von Nutzen sein, neue Kriterien zu bestimmen. Die Analyse der Umfragen und Interviews wird helfen, Schlüsselindikatoren wie Bevölkerungsdichte, Migration, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Mobilität, Erholung und Sicherheit zu bewerten. In diesem Sinne werden die Städte nach den Entfernungen zur Schule/Kindergarten, zum Krankenhaus oder zu den öffentlichen Verkehrsmitteln, untersucht, somit kann die Qualität des unmittelbaren Lebensraumes nachgeprüft werden. 

 

Weitere Ansätze, die unter dem Titel «Räumliches Vermögen» gerade Europaweit thematisiert werden, sind die Auswirkungen grösserer architektonischer Eingriffe in bestehenden Innenstädten. Die Entwicklung städtischer Gebiete - eine globale Notwendigkeit aufgrund zweier Gründe: der raschen Urbanisierung und der umweltbedingten Verdichtung - schafft Vorteile und Wohlstand für die einen, Verdrängung und Nachteile für die anderen. Während sich Städte auf der ganzen Welt mit zunehmender Geschwindigkeit entwickeln, stellt sich hier die Frage: wer sind eigentlich die Gewinner und Verlierer? Um die Auswirkungen von Entwicklungsprojekten auf die Stadtbewohner zu evaluieren, folgt man bestimmten Methoden und Fragestellungen: Wie suchen Personen das Quartier ab wo sie wohnen werden? Wieviel Miete bezahlt die Familie? Wie hoch war der Kaufpreis? Welche Ausbildung haben die Personen und welche Jobs? Das sind alles unabdingbare Informationen. 


Aber- stellen wir uns in Südtirol diese Fragen? Und wenn ja - hinterfragen wir kritisch genug? Die renommiertesten Universitäten der Welt versuchen Städte genauestens unter die Lupe zu nehmen. Und Wir? Wir in Südtirol brauchen unbedingt ein Institut für Städtebau und Architektur, um unsere gebaute Zukunft bereits heute zu verändern. Changing time, changing thoughts, changing future. Es ist kurz vor 12.