Society | Gastbeitrag

Helfer sind verletzlich

Die Seite zu wechseln und Bedürftiger zu werden, ist für jemanden in helfenden Berufen schwer. Aber wenn wir es üben, hilft es gegen nackte Verzweiflung.
Hilfe
Foto: Noah Buscher on Unsplash

Helfer sind die Helden dieser Zeit. Manche stehen in Gefahr und Rampenlicht, in Covid-Abteilungen, als Rettungs- und Einsatzkräfte. Sie helfen physisch überleben und kämpfen an vorderster Front. Andere sind einfach systemrelevant: Elektriker, Elektroniker, Apotheker, Landwirte, Buchhändler, die Müllabfuhr. Sie lassen die Lebensadern der Gesellschaft pulsieren. Eine dritte Art von Helfern kümmert sich um die Linderung des psychischen Leids. Es sind unsichtbare Helfer für fast unsichtbares Leid. Sie begleiten Menschen, die von Stress, Angst, Depression geplagt sind, Schlafstörungen haben und zwanghaft grübeln. Sie versuchen Verzweiflung zu lindern und psychisch am Leben zu erhalten.

Anderen hilft man immer leichter als sich selbst. Man weiß Dinge von außen betrachtet besser, kann leichter Ratschläge geben als sie annehmen und verwirklichen. Gerade als psychisch Helfender weiß man oft nicht, wo man selber steht, entäußert sich ohne es zu merken, und gerät selbst in die Lage, Hilfe zu benötigen.

Dann die Seite zu wechseln und Bedürftiger zu werden, ist für jemanden in helfenden Berufen schwer. Wenn man zu geben dauernd bereit ist, ist man oft zu schwach, um rasch zu nehmen. Wer häufig ja sagt, kann noch lange nicht gut nein sagen.

Anderen hilft man immer leichter als sich selbst

Jemand, der dieses schwierige Gelände gut kennt, ist Dr. Erwin Steiner, der Leiter der Notfallpsychologie. Er hat für Covid-Einsatzkräfte und Menschen in großem Helferstress eine einfache Methode entwickelt, verschiedene Blickwinkel auch in schwerer Krise zu entwickeln. Und was den Pflegern und Ärzten auf Intensivstationen guttut, das schadet vielen anderen in großem Lebensstress auch nicht.

In der Krise geht dem Betroffenen Energie verloren. Dadurch verschlechtert sich seine Entscheidungsfähigkeit, und die Breite seiner Möglichkeiten verengt sich. Aus der Krise heraus geraten wir durch Aktivierung zusätzlicher Energie (das besorgt das sympathische Nervensystem durch gesteigerten Blutdruck, tiefere Atmung, wacheres Bewusstsein, geweitete Pupillen und Gefühle wie Angst oder Angriffslust) und durch das rasche Erarbeiten zusätzlicher Perspektiven. Sie helfen gegen den Stress anzudenken und neue Lösungen zu finden.

Am Ende eines mühsamen Arbeitstages oder eines belastenden Einsatzes empfiehlt Erwin Steiner die eigene Hand zu betrachten, die einzelnen Finger zu bewegen, und dabei einfachen Fragen nachzugehen. Der ausgestreckte Zeigefinger lässt mich fragen, was heute wichtig war für mich, der hochgereckte Mittelfinger, was irgendwie daneben gegangen ist, der abgespreizte Ringfinger, was in der Gemeinschaft mit anderen erreicht wurde, der bewegte kleine Finger, was zu kurz gekommen ist und der hoch gestreckte Daumen, was denn besonders in Ordnung war. Dieser belastende „Einsatz“ kann auch Weihnachten sein.

Auch geübte Helfer und Therapeuten, denen sich diese Hand nicht mehr erschließt, dürfen Therapeuten aufsuchen

Die Steiner‘sche Hand ist ein einfaches Werkzeug. Sie weist mich darauf hin, dass Verschiedenes geschieht, dass Vorzüge und Nachteile sich mischen, dass Unterschiede neue Unterschiede machen, dass die Hoffnung zuletzt zu stehen kommen soll. Sie ist ein Beispiel für Selbsthilfe im Kleinen.

Es gibt aber Situationen, in denen das nicht reicht. Auch geübte Helfer und Therapeuten, denen sich diese Hand nicht mehr erschließt, dürfen Therapeuten aufsuchen. Auf uns selbst zu achten, eigene Alarmglocken schrillen zu hören, unsere Verletzlichkeit wahrzunehmen und dann aktiv Hilfe zu suchen, das ist vorbildliches Verhalten in der Krise. Wir legen es unseren Patienten wie ein Mantra nahe, dürfen es aber auch selbst verwirklichen. Wenn wir das können, erhöht es unsere Glaubwürdigkeit. Wenn wir es üben, hilft es gegen nackte Verzweiflung.

Auch für Therapeuten, Psychologen, Ärzte, Apotheker ist die Telefonseelsorge als niederschwellige Gesprächsbasis geeignet. Wir sind nicht so sehr anders als andere Menschen. Auch für uns gibt es den 24 h Psychologischen Dienst oder die Webseite www.dubistnichtallein.it. Den Mut, dann anzurufen, können wir anderen Bedürftigen vorleben.

 

Auch an den Feiertagen sind folgende Nummern rund um die Uhr für alle erreichbar:

24 Stunden Psychologischer Dienst
Bozen: 0471 435001
Meran: 0473 251000
Brixen: 0472 813100
Bruneck: 0474 586220

Caritas-Telefonseelsorge: 0471 052052 oder https://telefonseelsorge-online.bz.it