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Wenn deine Welt nicht überlebt

Der Roman des taiwanesischen Schriftstellers Wu Ming-Yi, Der Mann mit den Facettenaugen, beeindruckt mit seinem magischen Realismus und Hoffnung in einer sterbenden Welt.
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Foto: salto books/Harvill Secker
Alice hat beinah all ihre Sachen weggegeben. Bücher, ihr Aquarium, ihren Job als Literaturwissenschaftlerin an der Universität in H. Es gibt nichts mehr, das sie daran hindern könnte, Selbstmord zu begehen. Nichts. Außer vielleicht ihrem Haus am Meer. Aber auch das ist seit dem Tag, an dem Thom zusammen mit ihrem Sohn in die Berge gegangen und nicht mehr zurückgekommen ist, vor allem eines: leer.
 
Außerdem ist es durch den steigenden Meeresspiegel in Taiwan sowieso dem Untergang geweiht.
 
 
Alice beschließt also zu sterben. Und doch fürchtet sie plötzlich um ihr Leben: Durch ein Erdbeben, das eine noch viel größere Umweltkatastrophe erahnen lässt, wird ein Hoffnungsstrahl, ein gestrandetes Kätzchen, in ihr Leben geschwemmt, das sich zum Überleben ebenso sehr an Alice klammern wird wie sie an es.
 

Die blutigen Adern der Berge

 
Eingebettet in die Heimat des taiwanesischen Schriftstellers Wu Ming-Yi, dreht sich der Roman “Der Mann mit den Facettenaugen” um Hoffnung und Überleben in einer Welt, die längst dem Untergang geweiht zu sein scheint. Alices Leben stellt im Kleinen all jene Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit dar, die die Welt als solche befällt. In seiner Erzählweise greift Wu Ming-Yi dabei nicht nur auf Erlebtes und wissenschaftlich Begreifbares zurück: Der Umweltaktivist, Künstler und Professor für Chinesische Literatur verwebt akribisch recherchierte Inhalte mit Mythen und Erzählungen der eingeborenen Küstenbewohner und haucht so nicht nur der Protagonistin, sondern auch Tieren, Bergen und Meeren neues Leben ein.
 
 
“Der Mann mit den Facettenaugen” ist ein Meisterwerk der Übersetzerkunst; und zwar nicht allein deshalb, weil in der Übersetzung von Johannes Finderling erstmals ein Roman des taiwanesischen Schriftstellers Wu Ming-Yi ins Deutsche übersetzt wurde: Der Roman strickt die Sprachen verschiedener Welten in ein einziges Narrativ. Die Mystik der eingeborenen Inselbewohner stößt auf den westlichen Rationalismus, die Sprache der Wale auf die der Götter, die akademische Welt auf jene von Journalist*innen und Umweltaktivist*innen, harter Realismus mit detailreicher Imagination: Bäche im Inneren der Berge werden zu blutigen Adern und di Wale zur traurigen Seele des Meeres. Und auch wenn die Verbindungen zwischen den einzelnen Welten mancherorts etwas zu lose gestrickt zu sein scheinen, bringt Wu Ming-Yis magischer Realismus ein tiefes Mitgefühl hervor.
 
Mitgefühl für den Berg, dessen Adern durch den Tunnelbau durchschnitten, für die gestrandeten Wale, deren Mägen mit Plastik gefüllt, und für das Meer, das sich in Form einer Riesenwelle über den Küstenbewohnern ergießt, um den Müll, den es jahrelang in seinem Inneren ertrug, wieder auszuspeien.
 

Wie heute Wetter auf dem Meer?

 
Was am Ende der Lektüre noch bleibt? Der Glaube an die Hoffnung, an Verbindung und an die Kunst des Übersetzens. Denn wie Wu Ming-Yi schreibt: “Sprache ist wie ein Fisch. [Man lernt allmählich] zu erkennen, was bei den Worten des anderen die Schuppen sind, was der Schwanz, was die Augen”.