Politics | Krise auf der Krim

Rom brennt

Eine etwas gewagte Transposition der Krimkrise nach Italien und ein paar Argumente fuer einen Perspektivenwechsel, wider die moralische Selbstgefälligkeit des Westens, gepaart mit dem Aufruf zu einer Mäßigung der Worte. Ein Kommentar zur Situation in der Ukraine.
Note: This article is a community contribution and does not necessarily reflect the opinion of the salto.bz editorial team.

Rom, 27. Februar 2014. Nach Jahren der Korruption und Misswirtschaft steigt in den vergangenen Wochen ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung auf die Barrikaden. Eine Vielzahl von Gruppierungen sind an den Protesten beteiligt. Die Polizei liefert sich über Wochen gewalttätige Auseinandersetzungen mit militanten neofaschistischen Gruppierungen. Schließlich gelingt es den Protestierenden den amtierenden Ministerpräsidenten aus dem Amt zu jagen. In der neuen Regierung sind die Neofaschisten stark vertreten, sie stellen unter anderem den Vize-Ministerpräsidenten. Dieser war in der Vergangenheit vor allem dadurch aufgefallen, dass er unverblümt mit faschistischen Symbolen posierte und offen für eine faschistische Gesellschaftsordnung eintritt. Am ersten Tag des Amtseintritts verabschiedet demnach das neu eingesetzte Parlament eine Gesetzesvorlage, die das Italienische als einzige Amtssprache festlegt. Weitere Minderheitenrechte sollen beschnitten, deutschsprachige Schulen in Südtirol etwa, geschlossen werden.

So oder so ähnlich würde es wohl klingen, möchte man die jüngsten Ereignisse in der Ukraine ins heutige Italien übersetzen. Der Vergleich hinkt, versteht sich, und doch scheint es hoch an der Zeit, der oft unverhohlen antirussischen Berichterstattung in den meisten europäischen Medien, eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Die Entscheidung der Europäer und Amerikaner, sich in der Ukraine gezielt auf die Seite der antirussischen Kräfte zu stellen, in einem Land mit einer alles anderen als homogenen Bevölkerung, die Inkaufnahme extremer rechter, offen nazistischer Bündnispartner, die Nato Osterweiterungsgespräche der vergangenen Jahre, Raketenschilde, Kosovo, und all die anderen gezielten Provokationen Moskaus, all das entpuppt sich nämlich nunmehr als gefährliches Spiel mit dem Feuer.

So findet sich die EU heute in einem Dilemma wieder, in das sie sich selbst mit-hineinmanövriert hat: während die Ukraine in ihrer Krise wirtschaftlich nicht weiter unterstützt wurde, zauberte man während der Proteste verschiedenste Charaktere aus dem Hut, die im Lande selbst natürlich nie eine Chance gehabt hätten (Timoschenko war zuvor aus dem Amt gejagt worden, Klitschko spricht noch nicht einmal Ukrainisch) und rein durch ihre Kompromisslosigkeit auffielen. Während Europa nun händeringend nach einem Ausstiegsszenario sucht, haben die USA bereits Fakten geschaffen; nicht umsonst stellt nun deren engster Vertrauter den Ministerpräsidenten.

Vermutlich wird sich die Lage in absehbarer Zeit wieder beruhigen, die Annexion der Krim akzeptiert und in Kiev eine Regierung an der Macht sein, die sowohl mit Moskau als auch mit dem Westen zusammenarbeiten kann. Um dahin zu kommen, gilt es jetzt jedoch Ruhe zu bewahren, von übertriebenen Vergleichen Abstand zu nehmen, den Stimmen nach Aufrüstung kein weiteres Gehör zu schenken und gegenüber den USA eine eigenständige europäische Linie einzunehmen. Nicht zuletzt aus demokratiepolitischen Überlegungen sollte von einer direkten Konfrontation mit Putin Abstand genommen werden, diese garantiert schließlich erst recht seine anhaltende Popularität.

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Znerv Burger Thu, 03/27/2014 - 15:31

In reply to by Lorenz Gallmetzer

Warum es gerade in Oesterreich eine starke Ambivalenz gegenueber Putin gibt, liegt natuerlich auf der Hand, ist doch Wien nach wie vor eine der Hauptdrehscheiben fuer Oligarchenkapital in Europa.

Und sicherlich, der Artikel spricht viel Wahres an, nie war es meine Absicht, Putins Regentschaft per se zu verteidigen. Nichtsdestotrotz kann ich in dem Artikel wenig ‚Realismus‘ erkennen (man stelle ihn beispielsweise Mearsheimers juengstem Kommentar zu dem Thema entgegen - http://www.nytimes.com/2014/03/14/opinion/getting-ukraine-wrong.html?_r…). Der Feststellung von Broessler „Es gibt im Westen - glücklicherweise - kaum jemanden, der militärische Möglichkeiten gegen die Atommacht Russland in Betracht zieht“ stehen immerhin eine Reihe eskalatorischer Aussagen seitens US amerikanischer Politiker, aber auch jene von Von der Leyen entgegen, in denen ich wenig pazifistisches zu erkennen vermag. Zudem, wie ‚realistisch‘ sind die geforderten ‚starken Sanktionen‘?

Das Appeasement-Argument, das den Artikel grundsaetzlich bestimmt, sollte sich ob seiner Inflationaeren Verwendung durch „Humanitarian Interventionists“ aller Lager seit den 90ern, spaetestens aber seit den Abenteuern diverser Koalitionen der Willigen in den 2000ern doch ein wenig abgenutzt haben. Agieren letztendlich nicht selbst intern durchaus demokratische Staaten in den meisten Faellen rein machtpolitisch, wenn es um die Aussenpolitik geht? Um das System Putin IN Russland effektiv zu unterminieren, sollte man sich, so glaube ich, jedenfalls besser zehnmal ueberlegen, mit wem hier (Zweck-)buendnisse eingegangen werden (wie gesagt, wie ‚demokratisch gesinnt‘ Teile der neuen Regierung in Kiev sind, laesst sich nur erahnen). Koennte nicht auch das eine Lehre aus dem Ende des Kalten Krieges und der Dekaden danach sein?

Thu, 03/27/2014 - 15:31 Permalink
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Oskar Egger Thu, 03/27/2014 - 16:33

In reply to by Lorenz Gallmetzer

Ich habe bisher im Glauben gelebt, die Frau würde nach den Grundsätzen des Bewahrens handeln und sich dadurch in ihrem Tun wesentlich vom Manne unterscheiden. In den letzten Wochen habe ich den Eindruck bekommen, als ob uns ausgerechnet die Frauen nun an die Fronten des dritten Weltkriegs manövrieren könnten. Ich bin über die Massen enttäuscht von Angela Merkel und ihrer Verteidigungsministerin. Bei ersterer scheint eine unaufgearbeitete Geschichte mit Rußland im Unbewussten zu rumoren und letztere überträgt anscheinend an sieben Kindern erprobte Erziehungsmassnahmen. Hubert Seipel hat es getroffen: "Man kann Putin nicht behandeln wie einen Sonderschüler, der um die Versetzung kämpft".

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Salto User
Manfred Gasser Thu, 03/27/2014 - 16:50

Also, deutschsprachige Schulen werden geschlossen, die deutsche Sprache in Wort und Schrift verboten.
Dann kommt aus dem Nichts unsere Retterin!
Angela schickt incognito erste deutsche Truppen, die eigentlich keine sind, ins schöne Südtirol, um ihre deutschen Schwestern und Brüder nicht diesen faschistischem Haufen zu überlassen. Sobald die "Deutschen Freiheitstruppen" die Macht übernommen haben, wird die deutsche Fahne gesetzt, 2 Wochen später ein Referendum abgehalten, bei dem knapp 90% der Wähler für einen Anschluss an Deutschland stimmt. Die Mehrheit ist natürlich so gewaltig, weil italienischsprachige Wahlberechtigte entweder schon abgehauen sind, oder irgendwie nicht zu den Wahlurnen durchkamen, was aber nicht wirklich viel an der Willensäusserung der deutschsprachigen Bvölkerung ändert. Und seit diesem Tag ist Südtirol deutsch.

Thu, 03/27/2014 - 16:50 Permalink
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Benno Kusstatscher Thu, 03/27/2014 - 19:31

Die Frage, ob wir Putin-Versteher sind, ist die eine Seite der Medaille. Ob wir Steigbügelhalter für Leute wie Sytsch oder Timoschenko sein wollen, die andere. Die EU wäre es den Ukrainischen Bürgen schuldig, die viel zitierten westlichen Werte vor den Wahlen zur Debatte zu bringen, und allen Kandidaten ein Bekenntnis zu fairem Minderheitenschutz und Autonomien abzuverlangen. Genauso, wie sie es von Putin auf der Krim tut. Auch das, würde Putins Argumentation entwaffnen.

http://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/regierung-ukraine100.html
(der Link nur, um Namen ein Gesicht zu geben)

Thu, 03/27/2014 - 19:31 Permalink
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Oskar Egger Fri, 03/28/2014 - 07:29

In reply to by Benno Kusstatscher

Und wie wär's, wenn wir uns weder anmassen würden, jemanden zu verstehen oder auch nicht und niemandem in den Steigbügel helfen wollten? Wie wär's wenn wir uns mal zurückhielten? Auch als kolonialisierender Westen? Was würde passieren? Oder ist der alte Spruch noch so im kollektiven Unbewussten verankert "wenn der Russe kommt"....dass wir gar nicht anders können, als mit der Nato (mit Südtirolersuperrentenrechtferigungsähnlichen Sprüchen) immer weiter nach Osten zu fahren, auch wenn schon der alte Genscher in den 90ger Jahren das Gegenteil versprochen hatte?

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Benno Kusstatscher Fri, 03/28/2014 - 08:08

In reply to by Benno Kusstatscher

Erstens glaube ich nicht dass sich unsere östlichen EU-Mitbürger etwa in Estland oder in Bulgarien vom Westen kolonialisiert fühlen würden.
Zweitens hat vor allem Deutschland sich an das vielzitierte Genscherversprechen (gegenüber der UdSSR !) immer gehalten, im Sinne, dass es bei jeder NATO-Osterweiterung auf der Bremse gestanden ist. Vielmehr waren es die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes, allen voran Polen, die die US geradezu bekniet hatten, der NATO samt Raketenschutzschild beizutreten. Die EU spielte da eher eine unmündige Zaungastrolle. Meinst Du etwa, der kolonialisierende Westen hätte den demokratischen und souveränen, neuen Staaten die politische Ausrichtung diktieren bzw. verweigern sollen?
Drittens meinte ich meine Wortmeldung im Sinne von "dass der Russe bleibt" und dass wir keine Bewegung unterstützen sollten, der wir eine ethnische Säuberung zutrauen könnten.
Viertens lege ich noch oben drauf, dass sich die EU-Bevölkerung (nicht die Institutionen) diesmal selber an die Nase fassen sollte. Ohne diese energische Osterweiterungsskepsis, ohne dieses wütende Schluss-mit-Netto-Zahler-Gejodle der Bevölkerung, hätte die EU die Ukraine schon viel früher und somit sanfter (und billiger) stabilisieren können, wäre die Ukraine heute wirtschaftlich entwickelter und wäre somit nie so stark von Russlands Rubel erpressbar geworden. Was wir seit der organgenen Revolution den Ukrainern an Desinteresse und Solidaritätsverweigerung entgegengebracht haben, grenzt an kriminelle Verantwortungslosigkeit.

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Oskar Egger Fri, 03/28/2014 - 08:30

In reply to by Benno Kusstatscher

Ja, hat mal einer auf salto zitiert hätte, hätte, Fahrradkette und im Nachhinein reitet die alte Urschel. Mir geht es eigentlich allein darum aufzuzeigen, wie eine unverarbeitete Geschichte (Merkel und Russland) und ein "mit erhobenem Zeigefinger Verhalten" (Van der L.) an den Rand der Katastrophe führen kann. Mich erschreckt es besonders als Frau, da sogar ein Berlusca mehr diplomatisches Geschick gezeigt hat und lässt mich alle gedachten Gedanken über weibliches Verhalten in der Politik überdenken. Der Stil "eiserne Ladys" macht mir Angst. Der evangelische Hintergrund noch mehr, denn der hat schon in der Geschichte zu grossen Schmerzen geführt (schau Dir den Film "Das weiße Band" an). Kaum ein Mensch sieht das unter diesem Aspekt, scheint mir. Es hat schon andere Situationen vor der Ukraine gegeben, wo die Lämmer mehr als geschwiegen haben.

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Benno Kusstatscher Fri, 03/28/2014 - 08:57

In reply to by Benno Kusstatscher

Ich verstehe nicht, was Geschlecht und Konfession mit dem Thema zu tun haben sollen, und glaube auch nicht, dass die ganze EU gerade nach Merkels unverarbeiteten Jugendphobien tanzt. Aber natürlich geht auch mir dieses Säbelrasseln durch Mark und Pein, bin ich doch im kalten Krieg aufgewachsen. Aber glaubst Du, ein Putin-Kuschelkurs würde zu einer besseren Welt führen? Oder würde es vielmehr als unterlassene Hilfeleistung und Präzedenzfall für andere Territorialbegierden dieser Erde in die Geschichte eingehen? Ehrlich gesagt verstehe ich bis heute nicht, welchen emotionalen Wert den Ukrainenischen Bürgern die territoriale Einheit dieser künstlichen Nation bedeutet, aber Putin hat eh gesagt, dass die Ukraine ungeteilt bleibt, dass er also die ganze will. Kuschelkurs? Oder "wir mischen uns nicht ein", wie in Ägypten so *erfolgreich* praktiziert?

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Oskar Egger Fri, 03/28/2014 - 13:16

In reply to by Benno Kusstatscher

Ja, auch ich erinnere mich sehr gut an den kalten Krieg und auch an die Energie die eingesetzt wurde, um den Konflikt zu entschärfen. Der alte Peter Scholl-Latour, der ja durchaus kein Dummer ist, hat die Angelegenheit gut beobachtet. Schröder, mag er einem gefallen oder nicht, hat gesagt, es war ein Fehler, eine entweder-oder Entscheidung in den Raum zu stellen. Es sind nicht nur Jugendtraumata, sondern Einstellungen, die das Fass zum Überlaufen bringen können, noch schlimmer, wenn sie unbewusst sind. Die Ukraine mit Südtirol zu vergleichen, find ich wieder mal reichlich an den Haaren herbeigezogen und Wahl-Werbung für die Europawahlen. Und das mit dem Geschlecht hat, in meinen Augen deswegen Einfluss, weil gerade mit Narzissmus vorsichtig umgegangen werden muss. Putin ist nicht der Mann der es hinnimmt, sein Gesicht zu verlieren, das hat er schon gegenüber Obama, scheint mir, und auch die olympischen Spiele haben ihm keinen Dank eingebracht. Es braucht jemanden, der unbefangen mit ihm verhandelt und unbefangen ist die EU leider nicht.

Fri, 03/28/2014 - 13:16 Permalink
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Matthias Mühlberger Fri, 03/28/2014 - 12:07

In reply to by Matthias Mühlberger

Alice Engl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am EURAC-Institut für Minderheitenrecht
Herbert Dorfmann, Mitglied des Europäischen Parlaments
Eva Pfanzelter, Institut für Zeitgeschichte, Uni Innsbruck
Walter Obwexer, Institut für Europa- und Völkerrecht, Uni Innsbruck
Andrey Pruss, Direktor Russisches Zentrum „Borodina“, Meran
Abduraman Egiz, Mitglied der Tataren-Volksgruppenorganisation Mejilis (wird vermutlich per Video zugeschaltet)

Es moderiert Eberhard Daum, im Anschluss sind alle zu einer persönlichen Diskussion bei einem Umtrunk eingeladen.

Fri, 03/28/2014 - 12:07 Permalink
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Oskar Egger Sat, 03/29/2014 - 09:48

Krim-KriseTeufelspakt für die Ukraine

Schon in den Weltkriegen setzte sich Deutschland für die Unabhängigkeit des Landes ein. Das macht Russland misstrauisch. von Jens Jessen
DIE ZEIT Nº 14/201428. März 2014 16:59 Uhr 248 Kommentare
Krim-Krise

Vor dem Parlamentsgebäude der Krim : © Thomas Peter/Reuters

Man muss kein "Russlandversteher" sein, wie er so gerne karikiert wird (siehe ZEIT Nr. 13/14), und schon gar keine Sympathie für Putins gewaltsame Inbesitznahme der Krim hegen, um sich über die deutsche Empörung zu wundern. Die Krim war nie integraler Bestandteil der Ukraine, sie ist ihr erst 1954 in einer selbstherrlichen Geste von Nikita Chruschtschow zugeschlagen worden, und er konnte dies umso leichter tun, als die Ukraine wie auch die übrigen Teilrepubliken der Sowjetunion eher den Charakter von Verwaltungseinheiten hatten, die mit einer nationalen Identität mehr oder weniger künstlich ausgestattet worden waren.

Dazu muss man allerdings die zugrunde liegende Politik der sogenannten Korenisazija (Einwurzelung) verstehen. Sie entstand in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als es den gerade erst siegreichen Sowjets darum ging, die Revolution in den Regionen zu verankern, indem man sie zu eigenen Republiken erklärte. Man huldigte damit ihren kulturellen Besonderheiten (manchmal erfand man sie auch) und setzte nebenbei ein Zeichen gegen das, was man den großrussischen Imperialismus der Zaren nannte. Aber weder die Ukraine noch Weißrussland, noch irgendeine der neu geschaffenen Entitäten waren jemals als souveräne Staaten gedacht worden. Dass sie heute als solche auftreten und akzeptiert werden, ist vor allem eines: ein Missverständnis der ehemaligen sowjetischen Nationalitätenpolitik. Aber auch sie konnte eine nicht russische Identität der Ukraine nur aus dem Westen des Landes herleiten, dessen Besitz zwischen Polen, Österreich-Ungarn und Russland mehrfach wechselte. Kiew und der Osten waren immer russisch.

Dass der Westen das Missverständnis nach Kräften förderte, hat vielleicht mit Ahnungslosigkeit, sicher aber mit der nachwirkenden Logik des Kalten Krieges zu tun. Was Russland schwächte und verkleinerte, konnte hierzulande nur für gut befunden werden. Im Falle der Ukraine hat das Missverständnis allerdings einen Vorlauf von gut hundert Jahren und enthält ein politisches Gift, vor dessen Freisetzung sich die Deutschen fürchten sollten. Die ersten Helden einer ukrainischen Unabhängigkeit, die noch heute von Angehörigen der Orangenen Revolution verehrt werden, waren nämlich Helden von deutschen Gnaden. Daran zu erinnern ist keine historische Feintuerei; es begründet vielmehr das russische Misstrauen, auch in der heutigen Unabhängigkeit der Ukraine eine westliche Machination zu sehen.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe der ZEIT, die Sie am Kiosk oder online erwerben können. Lesen Sie dort weitere Artikel zum Schwerpunkt "Kampf um die Ukraine": Krim Krieg oder Kapitulation? Der Kampf um die letzte ukrainische Kaserne Von Wolfgang Bauer - "Ich habe Verständnis für Putin" Von Helmut Schmidt

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe der ZEIT, die Sie am Kiosk oder online erwerben können. Lesen Sie dort weitere Artikel zum Schwerpunkt "Kampf um die Ukraine": Krim Krieg oder Kapitulation? Der Kampf um die letzte ukrainische Kaserne Von Wolfgang Bauer - "Ich habe Verständnis für Putin" Von Helmut Schmidt

Stepan Bandera, dem 2008 ein monumentales Denkmal in Ternopil errichtet wurde, war ein Kollaborateur der Wehrmacht, der zur Vorbereitung des deutschen Einmarschs die Loslösung der Ukraine von der Sowjetunion betreiben sollte. Dass er später die Unabhängigkeit seiner Heimat auch gegen die Deutschen durchsetzen wollte und dafür bis 1944 im KZ Sachsenhausen inhaftiert wurde, steht auf einem anderen Blatt. Aber zuvor hatte seine Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gut siebentausend Zivilisten, vor allem Juden und Kommunisten, umgebracht.

Auf einen Terror ganz anderer Größenordnung konnte sein Vorläufer Simon Petljura zurückblicken, als er 1924 ins Pariser Exil ging. Während der anderthalb Jahre, die er Ende des Ersten Weltkriegs Regierungschef einer unabhängigen Ukraine war, wurden gut fünfzigtausend Juden erschlagen, wie Alexander Solschenizyn geschätzt hat. Die Petljura-Milizen wussten, dass sie die Gesetze, die ihr Chef zum Schutz der Juden erlassen hatte, ignorieren konnten. Es ist nicht sicher, ob es sich um bodenständigen Antisemitismus handelte; in der Zeit, in der die Ukraine noch der Roten Armee trotzte, wurden die Juden vor allem als Bolschewisten gesehen und gehasst. Trotzdem verblüfft die Selbstverständlichkeit, mit der in Kiew 2009 eine Straße nach ihm benannt wurde und Denkmäler dort wie in seiner Heimatstadt Poltawa an ihn erinnern.

Petljura ist nicht von den Deutschen eingesetzt worden, aber durch sie an die Macht gekommen. Er war Kriegsminister im Kabinett des ukrainischen Hetmans Pawlo Skoropadski, der als Vasall des deutschen Besatzungsregimes herrschte. Ein schönes Foto zeigt ihn 1918 an der Seite Kaiser Wilhelms II. Als die Deutschen wieder aus der Ukraine abzogen, musste Skoropadski fliehen, und Petljura begann seine Schreckensherrschaft, bis die Rote Armee Kiew eroberte und Petljura nach Polen auswich, wo er die Abtretung der Westukraine versprach, im Tausch für militärische Hilfe. Der polnische Überfall auf die Sowjetunion misslang bekanntlich, und Petljura konnte seine Herrschaft nicht wieder aufrichten. Aber in dem Auf und Ab der Kämpfe um Kiew während des russischen Bürgerkriegs, die Michail Bulgakow in seinem berühmten Roman Die Weiße Garde schildert, ist Simon Petljura zweifellos die satanische Hauptfigur. Zu den Gerüchten um seine Herkunft, die Bulgakow nacherzählt, gehört auch die Vermutung eines Gefängnisaufenthalts in Moskau. Bulgakow gibt der Zelle die Nummer 666 – die mythische Chiffre des Antichristen.

Wie soll man das verstehen? Selbst für einen Antikommunisten wie Bulgakow waren offenbar die Nationalisten schlimmer als die Bolschewisten (die in einer Traumszene des Romans sogar in den Himmel dürfen). Ist der Dichter, der aus Kiew stammte, deshalb ein schlechter Ukrainer, nach heutigem Verständnis? Weil er auch die Erhebung des ukrainischen Dialektes zur eigenen Sprache verspottete? Die Protagonisten der Orangenen Revolution haben sich jedenfalls gegen ihn und für Petljura entschieden. Zu dessen 130. Geburtstag veranstaltete der damalige Präsident Viktor Juschtschenko am 27. Mai 2009 eine Gedenkfeier, in der er vor der Angst der Ukrainer warnte, sich als Ukrainer zu verstehen, und erklärte: "Wir brauchen heute den Geist von Petljura und seine Hingabe an die ukrainischen Ziele, seine Festigkeit, Geradlinigkeit, seine Erfahrung und seinen weisen Rat."

Nun wird man gewiss die allermeisten Demonstranten auf dem Maidan-Platz, die dort für Freiheit, Demokratie und gegen Korruption kämpften, nicht in die Nachfolge Petljuras stellen können; mag sein, sie kennen ihn nicht einmal. Und doch spukt etwas von dem Geist der nationalen Selbstertüchtigung noch in dem Bekenntnis der jungen Maidan-Aktivisten, das die Süddeutsche Zeitung Ende Februar abdruckte – "Es gibt eine Angst vor dem Ukrainersein, denn auch viele Ukrainer haben Angst, sich zum Ukrainertum zu bekennen."

Es fällt nicht schwer, sich den Weg auszumalen, der vom Appell an nationale Gefühle, die vielleicht gar nicht vorhanden sind, zu einem nationalistischen Gesinnungsterror führt. Zumindest Deutsche kennen den Weg recht gut. Für eine junge Aktivistin (Jahrgang 1973) kann man die Fantasie für solche Weiterungen hoffentlich ausschließen. Aber die Swoboda-Bewegung, die jetzt sogar in der Regierung sitzt, hat den Terror schon vorgeführt. Und was ist mit den zahllosen Russen, die in der Ukraine leben und partout nicht ukrainisch fühlen – wird ihnen auch die Fantasie für eine nationale Zwangspädagogik fehlen? Liegt es außerhalb jeder Vorstellungsmöglichkeit, dass sich die Bevölkerung der Krim, die für einen Anschluss an Russland stimmte, vor ihrer Ukrainifizierung fürchtete?

Jedenfalls scheint es außerhalb der Möglichkeit deutscher Journalisten und Politiker zu liegen. Sie können oder wollen nicht einmal den Anteil deutscher Kriegführung an der Vorgeschichte der ukrainischen Unabhängigkeit erinnern. Vielleicht denken sie allen Ernstes, das Land sei mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden und die seither vergangenen zwanzig Jahre seien genug, um eine Nation auf einem quasi leeren, von jeder Historie gesäuberten Papier neu zu bilden. Aber selbst wenn sie so treuherzig wären, müssten sie doch von der Geschichtspolitik der neuen Ukraine eines Besseren belehrt werden, die mit Denkmälern und Straßennamen immerfort historische Bezüge herstellt – die auf deutsche Politik und deutsche Besatzung verweisen, von 1917 bis 1944.

Und erst recht dürfen Deutsche ihre eigene Geschichtsvergessenheit nicht von Russen erwarten. Russen werden sich gut erinnern, wie die sowjetische Nationalitätenpolitik gemeint war und wie die Krim zur Ukraine kam. Vor allem werden sie sich erinnern, wie die Deutschen in zwei Weltkriegen versucht haben, die Ukraine von Russland zu lösen – keineswegs um ihr Gutes zu tun, sondern um Russland zu schaden. Sie werden sich an den polnischen Überfall und an Petljuras Landesverrat erinnern, an Terror und Pogrome, und wenn Putin vor Faschismus und Antisemitismus in der Ukraine warnt, dann wird auch das vor dem Hintergrund der Geschichte plausibel sein.

In russischer Perspektive hat sich der Westen immer an der Ukraine vergangen – in Gestalt von Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, in Gestalt von EU und USA heute. Und ist die Perspektive so falsch? Sind nicht beträchtliche Summen von amerikanischer und europäischer Seite geflossen, beträchtliche Einflussnahmen durch Diplomatie und NGOs versucht worden? Wie soll man die überstürzte Anerkennung der neuen Regierung verstehen, wie das Assoziierungsabkommen mit der EU? Der Westen, wenn er den Griff nach der Krim beklagt, sollte sich an die eigene Nase fassen. Und er sollte sich für einen Moment von der Fixierung auf Putin lösen und die Frage stellen, ob überhaupt ein russischer Staatschef denkbar ist, der bereit wäre, die Krim verloren zu geben. Schon die Preisgabe des russischen Kerngebietes um Kiew ist eine Zumutung. Und jedenfalls Deutsche sollten sie nicht fordern, nicht noch einmal.

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio

Ein Interview mit Helmut Schmidt über die Situation in der Ukraine, einen Kommentar des Schriftstellers Eugen Ruge und eine Reportage von Wolfgang Bauer vom Marinestützpunkt in Feodossija lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der ZEIT.

Sat, 03/29/2014 - 09:48 Permalink
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Oskar Egger Thu, 04/03/2014 - 08:39

Nachgehakt: Aus Spiegel
"Überraschung! Die Deutschen haben ihren eigenen Kopf. In der Krim-Krise servieren Journalisten und Politiker die Geschichte vom kraftstrotzenden Russen, der Völkerrecht bricht. Aber die Leute wissen: Die Wahrheit ist komplizierter.

Eigentlich war schon alles klar: Russland handelt "aus Schwäche" (Obama), Putin ist ein "Verlierer" (SPIEGEL ONLINE), er lebt in einer "anderen Welt" (Merkel), der Westen muss ihm "Grenzen setzen" ("Frankfurter Allgemeine"). Schon lange waren sich Machthaber und Medien im Westen nicht mehr so einig wie in der Krim-Krise: Der irre Iwan bricht das Völkerrecht, und wir müssen alle fest zusammenstehen.

Und dann die Überraschung: Die Deutschen haben ihren eigenen Kopf. Fast alle Umfragen belegen: Die meisten Leute glauben nicht an die Mär von der russischen Alleinschuld an der Eskalation in der Ukraine. Angela Merkel sollte das ernst nehmen: In Fragen von Krieg und Frieden darf die Kanzlerin keine Politik gegen das eigene Volk machen.

Hat Merkel damit gerechnet? Immer lauter wird die Kritik an der unversöhnlichen Russlandpolitik der ostdeutschen Kanzlerin. Die Umfragen belegen schon seit mehreren Tagen, dass die Menschen die neue Konfrontation mit Moskau für falsch halten. Andererseits: Was zählt das Volk? "Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen", hat Angela Merkel einmal gesagt. So einfach wird sie es sich diesmal nicht machen können.

Jetzt melden sich prominente Kritiker zu Wort - auch solche, die allerhand "davon verstehen." Von Helmut Schmidt über Gerhard Schröder, von Alexander Gauland bis Alice Schwarzer, von Gregor Gysi bis Klaus von Dohnanyi - diese Leute haben sonst wenig gemeinsam, jetzt eint sie die Skepsis gegenüber einer westlichen Politik, die mit Schuldzuweisungen allzu schnell bei der Hand ist (mehr dazu im neuen SPIEGEL).

Im Angesicht eines angenommenen Feindes lernen wir gerade den Unterschied zwischen einem freien und einem unfreien Pressewesen: In Russland werden die Medien von der Regierung gleichgeschaltet, bei uns übernehmen sie das gerne auch mal selbst. Für den Journalismus wird die Krim-Krise damit zur Sinn-Krise.

Anti-Putin-Populismus

Wer es wagte, gegen den Strom der gleichgerichteten Meinung zu schwimmen, bekam vor kurzem noch ein lächerliches Etikett verpasst: "Putin-Versteher". Nur schräge Motive konnten die Medien bei diesen Leuten bislang entdecken. Der linke NRW-Grüne Robert Zion hat mal eine Liste der mittlerweile registrierten Begründungen aufgestellt, warum die Deutschen so viel "Verständnis" für Putins Russland zeigen:

"die Deutsche Sehnsucht nach dem Mystisch-Schwermütigen
die Deutsche Sehnsucht nach dem starken Mann
Identifikation mit dem Täter
Antiamerikanismus
Wir sind auch nicht besser
Weltfremder Pazifismus."

Solche Leute, das schwingt da immer mit, muss man nicht ernst nehmen. Aber die Stimmen, die im neuen SPIEGEL zu Wort kommen, lassen sich nicht mehr so leicht abtun. Sie zwingen die Politik zur Rechtfertigung - und noch mehr die Medien. Zu viele Journalisten haben sich ohne Not auf einen "Anti-Putin-Populismus" festgelegt - so die treffende Formulierung von Armin Laschet, CDU-Chef in Nordrhein-Westfalen.

Es könnte sich ja der Verdacht aufdrängen, dass die Reaktion des Westens auf Putins ukrainische Machtpolitik auch darum so einhellig, schnell und hart war, weil darüber der innere Streit des vergangenen Jahres in Vergessenheit geraten soll.

Der Siemens-Chef im ZDF-Verhör

Wer hat sich die Frage gestellt, warum Merkel nach der Krim-Krise so schnell über die Zukunft der Gasleitungen aus Russland spekuliert - aber nach der NSA-Krise keinen Gedanken daran verschwendet hat, die Datenleitungen in die USA in Frage zu stellen?

Im "heute journal" zeigte Anchorman Claus Kleber, wie man den Regierungsauftrag erfüllt, ohne ihn bekommen zu haben. Er verhörte den Siemens-Chef Joe Kaeser, der eine lange geplante Reise nach Moskau auch tatsächlich angetreten hatte. Der Mann hat allen Grund dazu: Siemens hat in Russland 800 Millionen Euro investiert und wird auch weiterhin mit der russischen Eisenbahn Geschäfte machen - obwohl deren Chef auf einer amerikanischen Sanktionsliste steht. "Und Sie haben mit dem geredet!", fauchte Kleber, "als Repräsentant eines Unternehmens, das auch für Deutschland steht."

Entgeistert stellte Frank Schirrmacher danach fest, dass sich hier der Journalismus selbst in Politik verwandelt und das Fernsehstudio zu einem Ort wird, wo es der Interviewer ist, der außenpolitische Bulletins abgibt. Schirrmacher: "Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf."

Wir sind nicht in guten Händen.

Thu, 04/03/2014 - 08:39 Permalink