Kultur | Salto Afternoon

Das Krankenhaus der Zukunft

Vom Gesundheitshaus Richard Neutras bis zum Bozner Krankenhaus. Ein Gespräch mit Astrid Tiemann-Petri über mögliche Entwicklungen im Spitalbau.
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Foto: Ivan Bocchio

Der Architekt Richard Neutra und das «Gesundheitshaus»

Der Schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion (1888–1968), der selbst an der Harvard University in USA lehrte, untersucht als einer der ersten die Beziehungen zwischen Gesundheit, Hygiene, Technik und Architektur und äußert sich in diesem Zusammenhang auch zu reformerischen Tendenzen im 19. und 20. Jahrhundert. Im bahnbrechenden Teil über die Geschichte der Mechanisierung des Bades in seinem Werk «Mechanization Takes Command» von 1948 unterscheidet er zwei grundsätzliche Typen: das Regenerierungsbad, das wichtige Funktionen der Gesellschaft übernehme (hierzu gehören die Thermen im antiken Rom, aber ebenso die orientalischen Dampfbäder) und die in seinen Augen primitive «Abwaschung», der das heutige Wannenbad diene. Letzteres verlangt nach speziellen zusätzlichen Kuren zur Erholung und Erhaltung der Gesundheit: Giedion nennt Vincenz Frießnitz, der um 1830 österreichische Aristokratinnen nackt im Wald einem «massiven, armdicken Wasserstrahl» aussetzt, um ihren Organismus abzuhärten, oder Arnold Rikli, dessen «Atmosphärische Kur» von 1869 mit Hilfe von «Lichtluftbädern», dem «Bewegen des unbekleideten Körpers in freier Luft», Kraft und Gesundheit versprechen. Nicht nur hygienische Gepflogenheiten und Essgewohnheiten, sondern auch Sitten und Kleider werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend «reformiert»: der Architekt Bernard Rudofsky (1905–1988) beschreibt 1938 in der Architekturzeitschrift Domus beim Bauen die «verschiedenen Raumhüllen des Menschen zu betrachten» und ebenso die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Architektur überzuleiten.


Im Westen der USA fallen die meist europäischen Heilslehren Anfang des 20. Jahrhunderts auf besonders fruchtbaren Boden. Sie begründen einen regelrechten Körperkult, der noch heute maßgeblich auf den oben erwähnten Theorien aufbaut. Ebenfalls bis heute aktuell sind die damit verbundenen Merkmale des Idealkörpers: Dieser wird kräftig und schlank dank häufiger Bewegung und Körperertüchtigung, braungebrannt dank Sonnenbädern und gesund dank der frischen Luft und der diätetischen Ernährung. Etwa gleichzeitig mit der Entstehung und Entwicklung der Filmbranche in Hollywood öffnet sich im Umfeld der Schauspieler und Starlets ein weites Ressort für Naturärzte, Erzieherinnen, Sportlehrer und Ernährungsexperten.


Neben den Lovells, deren «Gesundheitshaus» in diesem Beitrag von uns unter die Lupe genommen wird, zählt eine weitere Vertreterin der kalifornischen Gesundheitsbranche zu Richard Neutras (Amerikanisch-österreichischer Architekt, 1892–1970) Kundschaft: Es ist die Instruktorin Grace Lewis Miller, die das Haltungsturnen der in Europa seit 1910 lehrenden Bess Mensendieck für die nordamerikanische Klientel adaptiert hat und in ihrem «Home and studio» in Palm Springs Privatunterricht erteilt. Richard Neutra ist selbst zwar kein ausgesprochen aktiver Sportler, das von den Lovells und später auch von Grace Miller verbreitete Gedankengut hinterlässt bei ihm jedoch großen Eindruck. In seiner Autobiografie «Auftrag für morgen» von 1962 erinnert er sich: Im Jahr 1927 hatte ich meine Arbeit am «Gesundheitshaus» begonnen. [...] Ich hatte es wegen meines lebhaften Interesses für seine biologische Eignung so genannt. Dr. Philip Lovell, mein Auftraggeber, teilte meinen Standpunkt, dass Bauen «heilsam» sein müsse. [...] Ich gelangte zur Ansicht, Medizin sei am wirksamsten, wenn man sie in richtigen Dosen vorbeugend nähme, und die Planung und der Bau von Städten sei vielleicht die geeignete Vorbeugungsmedizin. Architektur als Prophylaxe!


Erklärtes Ziel des Lovells «Gesundheitshaus» (Lovell Health House) ist die Erhaltung der Gesundheit dank «richtiger» Architektur. Das Gebäude ist sowohl für Neutra als auch für seine Bauherrschaft in vielerlei Hinsicht ein Experiment.


Dieses Haus steht an einem steilen Abhang über dem Griffith Park, dem größten Stadtpark Kaliforniens. Man betritt das von der Straße her kaum sichtbare Haus auf der obersten Ebene, dem Schlafgeschoss. Die Erschließung von oben stellt die traditionelle Abfolge auf den Kopf, nach der die lediglich von Familienmitgliedern genutzten Räume am weitesten von der Eingangstür entfernt sein müssten. Das oberste Geschoss verfügt ausschließlich über private Wohn-, Schlaf-und Badezimmer, Lovells kleines study sowie außenliegende Schlafveranden. Eine Etage tiefer folgen die auch für Gäste und Besucher zugänglichen Wohnräume wie die zweigeschossige Halle, das Esszimmer, die Bibliothek, die Küche und ein Gäste-Appartement mit eigenem Zugang. Vor dem Speisezimmer liegt die Veranda (sie wird in einzelnen Bildunterschriften Neutras außerdem als Tanzraum bezeichnet); der nach Süden gerichtete Garten ist von der Bibliothek her betretbar. Im untersten Geschoss befinden sich sowohl das große Schwimmbad mit Dusche und Ankleide sowie zusätzliche innen- und außenliegende Terrassen für Sonnenbäder. Im Inneren dominieren natürliche Farben, die je nach Ort zwischen warmen Rot- und kalten Grautönen variieren. Der Hauptwohnraum hingegen ist fast gänzlich in Grau gehalten: vom silbernen Teppich über die dunkelgrau gespritzten und geschliffenen Holzlackmöbel. Der 16 Meter lange Lichttrog aus Edelstahl, der als Verbindungsglied zwischen Essbereich und Bibliothek funktioniert, beleuchtet den Raum halb direkt durch eine geätzte Glasscheibe. Trotz dieser eher funktionalen Materialisierung und grauen Farbgebung verspüren immer wieder Architekturkritiker in diesen Räumen «Lebensfreude», die von der Architektur ausgeht. Allein das Interieur hat also eine wohltuende Wirkung auf Bewohner und Besucher - eine Ansicht, die Neutra bestimmt geteilt hat. Das «Gesundheitshaus» ist das erste Wohnhaus mit Stahlskelett in den Vereinigten Staaten. Der Rahmen soll in weniger als vierzig Arbeitsstunden errichtet gewesen sein. Aus der Ferne gesehen gleicht die Fassade einer fein proportionierten Collage von kontrastreichen weißen und schwarzen Flächen: einerseits die geschlossenen Brüstungen und Außenwände, andererseits die zahlreichen Fenster. Durch die hohe Aufständerung der oberen Geschosse über die offene Schwimmhalle scheint das Haus schwebend aus dem Hang zu kragen.


Die Lovells empfingen schon zu einem früheren Zeitpunkt Patienten in einer ebenfalls von Neutra umgebauten Praxis mit Gymnastikraum im Zentrum von Los Angeles. Die breite Palette ihrer zeittypischen Betätigungsfelder reicht von Osteopathie über Diätetik beziehungsweise Naturopathie (Rohkostdiät auf der Grundlage von Gemüse und Obst), Gynäkologie und Geburtshilfe bis hin zu Unterrichtung von Haltungsturnen und der Verordnung von kalten Duschen und nackten Sonnenbädern.


Richard Neutra, ebenso wie der Arzt Philip Lovell und seine Frau, die Pädagogin Leah Press-Lovell, sind drei begabte Selbstdarsteller. Das Florieren der Lovell'schen Praxis lässt sich unter anderem auf die Aufmerksamkeit zurückführen, die der Arzt durch seine Kolumne «Gare of the Body» im Sunday Magazine der Los Angeles Times erreicht. Auch der Name «Gesundheitshaus», den Neutra schon in der Planungsphase verwendet hatte und die wiederholte Werbung, die das sogenannte Haus in der Kolumne des Bauherren erhält, führen dazu, dass diesem Bau ein wenig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als er es tatsächlich verdient hätte.


Trotzdem soll er hier stellvertretend für viele andere Bauten stehen, deren Sinn und Zweck die Gesundheit der Bewohner ist. Hätten wir es gewagt im Bereich des Spitalbaus einen erfrischenden Überblick zu verschaffen, hätte es wahrscheinlich den Rahmen dieses Beitrages gesprengt, denn um es nur ansatzweise in einer kurzen Auflistung darzustellen, entstanden parallel zur Errichtung des «Gesundheitshaus» der Lovells in vielen Ländern unterschiedlichste Richtlinien, Normen und Empfehlungen, die man für eine korrekte Planung eines Krankenhauses zu befolgen hatte (wie zum Beispiel im «Manuale dell´architetto», einem aus mehreren Bänden bestehenden Werk von Ingenieur Daniele Donghi, das zwischen 1925 und 1930 in Italien erschien):

– Die Krankenpavillons müssen im Verhältnis zur Sonne und zu den vorherrschenden Winden gut ausgerichtet sein.
– Der Abstand von den unterschiedlichen Gebäudepavillons muss im Verhältnis zur Höhe der Gebäude, so dass eine maximale Sonneneinstrahlung und Belüftung der Zimmer erfolgen kann, ausgerichtet werden.
– Es wäre vorteilhaft, die Gebäudepavillons tangential zu bauen, sodass die entlang der Fassade strömenden Winde zu einer guten Luftrückführung führen können. Zudem sollten nur die oberen Bereiche der Fenster zum Öffnen möglich sein.
– Ausrichtung der Krankensäle: Licht und Wärme hängen von der Sonneneinstrahlung ab, und da beides wichtige Faktoren für Hygiene und Gesundheit sind, sollte der Sonneneinstrahlung maximale Aufmerksamkeit geschenkt werden.
– Die Gruppierung der Gebäude muss in einer Weise geplant werden, dass die Betriebskosten gemäß den oben genannten Bedingungen auf ein Minimum beschränkt werden. Somit müssen die Wege des Personals und der Fahrzeuge entlang der Verbindungswege des Gebäudes sowie die internen Straßen, zu denen der Zugang von außen kurz und bequem sein muss, auf ein Minimum reduziert werden.


Das Bozner Krankenhaus von morgen