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37 Grad im Führerstaat

In Hitlerwetter beleuchtet der Historiker Tillmann Bendikowski den Alltag im Dritten Reich und hält den Deutschen, auch den heutigen, den Spiegel vor
Hitlerwetter
Foto: salto books/spiegel

Das Jahr 1939 markierte eine Zäsur: Seit sechs Jahren waren die Nationalsozialisten an der Macht, sechs weitere standen ihnen bevor. Der Beginn eines neuen Krieges und das Attentat gegen Hitler kündigten schlechter werdende Zeiten an. Bislang hatten die Deutschen, von zunehmend in Bedrängnis geratenen Angehörigen von Minderheiten und der geringen Anzahl politischer Gegner abgesehen, die Diktatur im Frieden verbracht und überwiegend auch ihren Frieden mit den Herrschenden gemacht. So jedenfalls lässt es der Blick auf den Alltag im Führerstaat vermuten.

Bendikowski zeichnet das Bild einer selbstbeschworenen Volksgemeinschaft, in der zumindest oberflächlich vieles funktioniert. Fast alle gehen einer geregelten Arbeit nach, finden genug Vergnügungen, Lohn und Gehalt auszugeben; und am Ende bleibt sogar noch etwas übrig, um mit dem Geld in Urlaub zu fahren. Schaut man jedoch genauer hin, weist das nicht zuletzt von einer gut geölten Propagandamaschine  gezeichnete Idyll Risse auf. Diese werden sichtbarer, je weiter das in Hitlerwetter behandelte Jahr voranschreitet. Am Ende gähnt die Ruine eines verwüsteten Münchner Bürgerbräukellers. Zwar lebt Hitler und entkommt mit viel Glück unverletzt, doch sechs seiner alten Mitkämpfer sind tot, und die Szenerie des Attentats stimmt die bislang nicht an Bombardements gewöhnten Betrachter auch auf das ein, was sie selbst die nächsten Jahre erwarten wird.

Davon ist bis zum Spätsommer nichts zu spüren. Im Alltag, wohlgemerkt. Zwar meckern die meisten Bürger über ihnen auferlegte Pflichten, die ihnen wenig sinnvoll erscheinen oder auch nur persönlich lästig sind. Den Zweck dahinter sehen sie nicht. Weder Oberschülern noch Studierenden, denen sommers ein ‚freiwilliger‘ Ernteeinsatz droht, geht ein Licht auf, dass sie Arbeitskräfte ersetzen, die bereits für militärische Aufgaben abgezogen wurden. Ist solche Ignoranz auf den Umstand zurückzuführen, dass selbst im nicht mit Dekadenz in Verbindung gebrachten Dritten Reich der Nachwuchs immer dümmer wird? „Unsere heutige Jugend“, zitiert Bendikowski einen Wehrmachtinspekteur, „kann aber weder sich konzentrieren, noch hat sie richtig geistig arbeiten gelernt.“ Und auch nicht körperlich, würde mancher Bauer hinzufügen. Hofbesitzer leiden unter dem Personalmangel in der Landwirtschaft und prangern diesen auch öffentlich an. Über die neuen Einsatzorte ihrer Mägde und Knechte, in der Rüstungsindustrie und in den Streitkräften, machen sie sich keinen Kopf.

Die Menschen in den Städten haben andere Sorgen. In Deutschland fehlen anderthalb Millionen Wohnungen, eine weitere halbe Million sind komplett marode. Der Wettbewerb um die verbleibenden Plätze hört sich merkwürdig aktuell an: „Die Wohnungssuchenden überbieten sich gegenseitig“, schreibt Bendikowski, und bekräftigen, „dass sie nicht nur in wirtschaftlich geordneten Verhältnissen leben, sondern überdies ruhige Mieter seien.“ Es gibt noch eine Steigerung, der Autor kann dies wie alles andere üppig mit Quellen belegen: „Einige weisen zudem auf den Vorzug hin, dass sie kinderlos seien. Kinderlosigkeit als Auszeichnung in Zeiten staatlich erwünschter Geburten? Wenn das der >>Führer

Der feiert im April 50. Geburtstag und schenkt seinem Volk einen Tag Sonderurlaub. Überhaupt ist die NS-Führung darauf bedacht, dass fitte Deutsche fleißig arbeiten, sich aber auch gut erholen. Da reicht ein Tag nicht aus. Organisationen wie Kraft durch Freude (KdF) kümmern sich um die Volksgesundheit und sorgen für die Entlastung im wohlverdienten Urlaub. Dabei wird mit Klischees gearbeitet, die auch heutigen Konsumenten öffentlich-rechtlicher TV-Touristik bestens bekannt sind: Traumschiffe der weißen KdF-Flotte kreuzen systemkonform nicht bei Kaiser-, sondern bei Hitlerwetter vor malerischer Kulisse.  Die „mit großem Aufwand öffentlich gefeierten Seereisen“ sind laut Bendikowski „das Vehikel für eines der zentralen Versprechen der Diktatur: Den Deutschen soll es gut gehen, es soll ihnen besser gehen als in der Vergangenheit.“

Was für eine recht große Mehrheit gelten mag, gilt nicht für Juden, nicht für Sinti und Roma, nicht für Oppositionelle, nicht für Menschen mit Behinderungen, nicht für alle diejenigen, aus denen die Nationalsozialisten keinen vollwertigen Nutzen für ihre Zwecke schöpfen können. Sie gehören ausdrücklich nicht zur Gemeinschaft, obwohl sie, wenn sie nicht gerade im KZ sind oder außer Landes getrieben wurden, Seite an Seite mit den ‚wahren‘ Volksgenossen leben. Bendikowski stört sich am Begriff der Volksgemeinschaft: Wie so vieles in der NS-Propaganda sei dieser völlig verlogen; das Zusammengehörigkeitsgefühl im NS-Staat lebt vor allem von der Ausgrenzung.

Es ist diese Politik des Belohnens der Willfährigen und Bestrafens der Außenvorbleibenden, noch dazu finanziert durch einen zum Zeitpunkt des Anschlags auf Hitler bereits eingetretenen Krieg, die Georg Elser später beim Verhör als Grund für sein Attentat anführt. Bendikowski attestiert ihm, logisch nachgedacht und konsequent gehandelt zu haben. Elsers Landsleuten stellt der Autor ein weitaus schlechteres Zeugnis aus. Weder Angst vor persönlicher Verfolgung noch das Bewusstsein, alles laufe auf einen Krieg hinaus, sei bis zum Herbst 1939 das vorherrschende Lebensgefühl der Deutschen gewesen, sondern eine allgemeine Zufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen. Nachteile meiden, Vorteile nutzen: Nach dieser Devise habe man versucht, sich durch die Diktatur zu lavieren.

 

 

Erschreckend normal wirkt jener Alltag. Vor allem scheint er sich vom aktuellen täglichen Leben in Deutschland nicht sehr stark zu unterscheiden: „Das 'Dritte Reich' war kein permanenter Ausnahmezustand“, bilanziert Bendikowski. „Wenn wir heute mit einem Abstand von mehr als 80 Jahren über den Alltag der Deutschen in dieser Zeit lesen, so ist er uns nicht fremd.“ Grund genug, die eigene Demokratietauglichkeit ständig zu hinterfragen. Grund auch, sich dieser Vergangenheit weiter als „unsere eigene Geschichte“ zu stellen, statt eine Schlussstrichmentalität zu dulden.

Bendikowskis ist ein gleichsam entlarvendes wie pädagogisch wertvolles, dabei stets unterhaltsames Buch gelungen. An seinem Ende steht ein Satz, leicht zu merken und wert, häufiger in Erinnerung gerufen zu werden: „Uns verbindet mit den Deutschen jener Jahre mehr, als uns lieb ist.“