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Der Roma-Staat

"Andere Akkorde" heißt der neue Roman von Simone Schönett von Europas größter Minderheit, den Roma. Es geht um die Gründung ihres Staates.
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Foto: Foto: Salto.bz

Europa und die Roma. Simone Schönett, welche vor wenigen Jahren ihren Roman über die Minderheit der Jenischen unter anderem in Jenesien angesiedelt hat, widmet sich im neuen Roman der größten Minderheit in Europa. Sie verbindet Fiktion, reale Ereignisse, utopische Elemente und wirft Fragen auf, etwa:

Was ist ein Staat? Wie entsteht eine Gemeinschaft?

Die Verknüpfung beider Themen ist nicht verwunderlich - bedenkt man, dass Roma seit rund tausend Jahren in ganz Europa leben, über viel „transnationale Erfahrung“ verfügen, nie Kriege geführt oder ein Land für sich beansprucht haben. Sie sind zu einem großen Teil in die verschiedenen nationalen Gesellschaften integriert und dennoch sind sie immer noch Diskriminierung, Vertreibung und Gewalt ausgesetzt. Daran hat auch der 2011 von der Europäischen Kommission veröffentlichte EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 nichts geändert.
Zwei Jahre vor Ablauf dieser Frist und in Zeiten einer Identitätssuche der EU mag es wohltun, sich auf diese Geschichte einzulassen, auf einen aus Entsetzen, Ohnmacht und Zorn erwachsenen Schelmenstreich, auf das Unmögliche, das Größtmögliche, das Bodenlose ...

Der Roman

Hamburg 2008. In einer Hafenkneipe spinnen vier Roma-Aktivisten Seemannsgarn. Vier Jahre später, ein Attentat in Rom. Waren es wirklich die eigenen Leute, die die junge Romnie und ihr Baby ermordet haben? Gar eine Fehde, wie die Polizei vermutet?
Allen, die wissen, dass das nicht wahr sein kann, wird spätestens jetzt klar: Sie müssen endlich etwas tun, etwas wagen, etwas großes, die Kumpania neu beleben. Zusammenstehen und sich aus ganz Europa auf den Weg machen, zu einem Fest, „das alle Dimensionen des Vorstellbaren überschreitet“

Was wäre also, wenn alle Roma an einem Strang zögen? Die Einen, um endlich aus der Perspektivlosigkeit am Rande der Gesellschaften herauszufinden. Die Anderen, um sich aus der Unsichtbarkeit der vollkommenen Integration zu wagen und zu zeigen.
Auch wenn sie verstreut und ganz unterschiedlich leben, sie gehören zusammen und sie gehören zu Europa. Was wäre, wenn sie einen Roma-Staat ausriefen, einen Staat ohne Territorium?

Emanzipation statt Integration?

Noch sind ihre Ideen wie Seemannsgarn. Noch suchen sie nach Möglichkeiten, das tief verwurzelte Misstrauen zu zerstreuen. Auch das der Roma untereinander. Pal bringt den Begriff der großen Kumpania ins Spiel. Diese alte, fast vergessene Organisationsform. Selbst sie am Tisch wissen wenig davon. Ein Zusammenschluss verschiedener Roma-Gruppen. Für eine gewisse Zeit, zu einem bestimmten Zweck. Eine Zusammenarbeit, trotz aller Verschiedenheit. Das sei etwas Altes, von ganz früher, aber womöglich ein vernünftiges Werkzeug, um voranzukommen. Daran könnte man anknüpfen.

Ja, was wäre, wenn die europäischen Roma – und gemeint sind alle Gruppierungen, Roma, Sinti, Jenische, Traveller, Manouches, Kale ..., die sich 1971 auf dem ersten Welt-Roma-Kongress auf diese gemeinsame Bezeichnung geeinigt haben – nicht mehr warten wollten, dass man ihnen nicht nur auf dem Papier die gleiche Achtung, den gleichen Schutz, die gleichen Chancen einräumt wie jedem anderen Bürger der Länder, in denen sie leben?
Was wäre, wenn sie ihren Status als Minderheit überwinden und zu so etwas wie einer eigenen Gesellschaft, vielleicht gar einer Nation werden wollten? Wenn sie sich auf ihre Stärken besinnen und diese als Bereicherung für alle propagieren würden? Wenn sie demokratische Institutionen bildeten, die ihre gemeinsamen Interessen formulierten und durchsetzten? Ein Parlament, eine Regierung, einen Staat? Einen Staat ohne Boden gar, etwas, das es qua Definition gar nicht geben kann - oder doch?