Gesellschaft | Zeitgeschichte

Das Entweder-Oder in Paris

Der Südtiroler Journalist und SVP-Politiker Friedl Volgger war am 5. September 1946 mit dem österreichischen Außenminister Karl Gruber in Paris. Seine Erinnerungen.
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Foto: edition raetia
Am 20. August 1946 fuhr die österreichische Delegation mit dem Arlbergexpress unter Kohle und Dampf mit gemischten Gefühlen der französischen Hauptstadt entgegen. Wir Tiroler bezogen Quartier im Hotel Triomphe in der Rue Troyon. Die Unterbringung rechtfertigte den großsprecherischen Namen in keiner Weise, doch lag der Gasthof ganz in der Nähe der österreichischen Gesandtschaft in der Rue Beaujou, von deren Hausküche wir mustergültig verpflegt wurden. 
Noch am 21. April hielt Minister Gruber in der Vollversammlung der Friedenskonferenz seine Rede. Der englische Außenminister Ernest Bevin, der den Vorsitz führte, folgte den Ausführungen mit so gespannter Aufmerksamkeit, dass er sich immer und immer wieder vorbeugte, um ja jedes Wort zu verstehen. Gruber schloss mit den Worten: „Eine Volksabstimmung wäre das geeignete Mittel, über die Zukunft dieses Landes zu entscheiden. Andere Möglichkeiten können ja vorgeschlagen werden. Wir fordern aber, dass man bei der Suche nach einer Lösung das Volk nicht vergesse. Es geht da um die Südtiroler, die immer Österreicher waren.“ 
 

Die Russen wollen nicht

 
Am gleichen Tage noch hatte ich Gelegenheit, nach einer Pressekonferenz in der tschechoslowakischen Gesandtschaft dem Außenminister Jan Masaryk unser Anliegen vorzutragen. Der Minister hörte zunächst meinen in englischer Sprache – Deutsch war damals ja nicht gefragt – vorgetragenen Ausführungen eine Zeit lang aufmerksam zu. Auf einmal meldete er sich zu Wort und sagte im schönsten Deutsch mit einem tschechischen Akzent: „Ja, mein Lieber, Sie brauchen mir nichts über Südtirol zu erklären; weiß ich doch, dass Südtirol nicht ist Italien. Bin ich doch gewesen österreichischer Offizier in den Dolomiten. Sizilien ist Italien, aber nicht Südtirol.“ 
 
Nachdem ich mich von meiner Überraschung etwas erholt hatte, stellte ich natürlich auf Deutsch um. Ich meinte, wenn Masaryk Südtirol so gut kenne, müsste er sich ganz entschieden für unsere Forderung einsetzen. Er dachte etwas nach, kratzte sich am Hinterkopf und sagte: „Da kann ich nichts machen. Die Russen wollen nicht, und ich ...“ 
Bin ich doch gewesen österreichischer Offizier in den Dolomiten. Sizilien ist Italien, aber nicht Südtirol.“ 
Von Masaryk kursierten auf der Konferenz eine ganze Reihe von Bonmots, so unter anderen: Ein sehr neugieriger Journalist fragte Masaryk, auf welcher Seite er im Falle eines Krieges zwischen Ost und West – die Spannungen hatten damals einen Höhepunkt erreicht – kämpfen würde. Der Minister antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: „Natürlich würde ich mich für die sowjetrussische Seite entscheiden.“ Als der Journalist etwas verwundert bemerkte, dass man ihn in der ganzen Welt als einen liberalen Politiker und Antikommunisten betrachte, entgegnete Masaryk schnell: „Ja, glauben Sie denn wirklich, dass ich im Falle eines solchen Krieges in die russische Gefangenschaft geraten will?“ 
 

Andreas Hofer & Südafrika

 
Am 24. August wurden die drei Südtiroler Delegierten vom Ministerpräsidenten der Südafrikanischen Union, Feldmarschall Jan Smuts, empfangen. Smuts, der ehemalige Burengeneral im Krieg gegen England, galt als der wärmste Befürworter einer Rückkehr Südtirols zu Österreich. Auf einer Reichskonferenz der seinerzeitigen Britischen Dominions (Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika) am 8. Mai in London hatte er als deren Wortführer die Rückgliederung unseres Landes zu Österreich verlangt und versichert, dass diese vier Staaten diese Forderung auf der Friedenskonferenz energisch vertreten würden. 
Wir warteten etwas aufgeregt im Vorzimmer des Ministerpräsidenten bei seinem Schwiegersohn Strauß, der einen Schottenrock trug. Dann ging die Tür auf, und der alte, ehrwürdige Marschall mit seinen weißen Haaren und dem weißen Spitzbart stand im Türrahmen. Er sah sich verwundert um, stutzte etwas und fragte: „And where is the young lady? – Und wo ist die junge Frau?“ Frau Paula Forcher-Mayr hatte uns bei ihm angemeldet. Er hatte wohl an ihr Gefallen gefunden und jetzt vermisste er sie. Wir erklärten ihm, dass sie heute anderweitige Verpflichtungen übernommen habe. 
Dann geleitete er uns sehr väterlich in sein Zimmer. Zunächst erzählte er uns, 
wie er während der Burenkriege die Lebensbeschreibung Andreas Hofers gelesen und daraus immer wieder neuen Mut für die Verteidigung seines Volkes in Südafrika gegen die Engländer geschöpft habe. Mit aller Offenheit ließ er uns aber auch wissen, dass eine Rückkehr zu Österreich derzeit unmöglich zu erreichen sei. 
 
Den Beschluss der vier Großmächte vom 24. Juni, keinerlei Grenzberichtigung zwischen Italien und Österreich zuzulassen, bezeichnete er als unumstößlich. Vor allem deswegen, weil die politische Lage, die Zukunft Österreichs selber noch nicht überschaubar sei. Der Marschall riet uns dringend, in Ergänzung des provisorischen Wortlautes des Artikels 10 des Friedensvertragsentwurfes mit Italien, welcher nur den freien Personen- und Warenverkehr zwischen Nord- und Osttirol beinhalte, noch einen Absatz hinzufügen zu lassen, der eine Selbstverwaltung unseres Landes unter internationaler Kontrolle und Garantie vorsehe. 
Wir ließen natürlich nicht so schnell locker und beriefen uns immer wieder auf die internationale Gerechtigkeit und die Atlantik-Charta. Der weise alte Herr sah uns bei diesen Äußerungen etwas mitleidig an und fragte schließlich: „You still believe in justice? – Ihr glaubt noch an Gerechtigkeit?“ 
 

Italienischer Vorsprung

 
Die Unterredung hatte uns den letzten Funken einer Hoffnung genommen. Gleiche und ähnliche Ratschläge wie von Smuts erhielten wir Südtiroler auch von anderen befreundeten Delegationen. So sicherten uns beispielsweise Kanada, Neuseeland und Australien zu, dass sie sich für die Erreichung einer Autonomie unter internationaler Kontrolle schlagen würden, aber weiter wollten sie nicht gehen. 
Auch die Holländer und Belgier ließen keinen Zweifel daran, dass sie nur bereit seien, eine Lösung der Südtirolfrage zu unterstützen, die aufgrund direkter Verhandlungen zwischen Österreich und Italien zustande kommen würde. 
Bei dieser unserer Pilgerfahrt zu den verschiedenen Delegationen hatte ich am 30. August auch eine Unterredung mit dem jugoslawischen Delegationsmitglied, Minister Dr. Drago Marusic, der mich bei meinem Besuch in Belgrad im April dieses Jahres so rührend betreut und mir auch die Audienz bei Marschall Tito vermittelt hatte. Der Jugoslawe zeigte für unsere Anliegen natürlich Verständnis. Er ließ aber keinen Zweifel daran, dass seine Delegation – genauso wie die aller anderen Ostblockstaaten – nie einen Standpunkt vertreten würde, der sich nicht mit den russischen Absichten decke. Ich werde nie vergessen, wie er mir am Schluss fest die Hand drückte und mich geradezu ermahnte, trotz allem den Mut nicht zu verlieren. Wir harten Tiroler würden doch mit den Italienern noch fertig werden. 
Wir harten Tiroler würden doch mit den Italienern noch fertig werden. 
Minister Gruber hatte die österreichischen diplomatischen Vertreter in London und in Brüssel, die Gesandten Heinrich Schmidt und Lothar Wimmer, zur Friedenskonferenz nach Paris berufen, wo Norbert Bischoff die österreichische Gesandtschaft leitete. Alle drei hatten ihre Posten erst zu Beginn des Jahres 1946 angetreten. 
 
So war ihnen nicht viel Zeit geblieben zur Aufklärung der internationalen Öffentlichkeit über Südtirol. Die Italiener hatten einen großen Vorsprung und hatten diesen auch bestens genützt. Die Österreicher sahen sich jetzt vor die Wahl gestellt, sich in Verhandlungen mit Italien einzulassen oder unter Protest mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren. 
Aus dieser Überlegung reichte die österreichische Delegation am 26. August beim Sekretariat der Friedenskonferenz eine Denkschrift ein, die schon die Grundgedanken des späteren Vertrages enthielt. 
In den ersten Septembertagen traten die Verhandlungen in ein konkretes Stadium. Auf italienischer Seite war Botschafter Graf Nicolò Carandini federführend. Vorschläge und Gegenvorschläge von beiden Seiten jagten einander förmlich. In der Endphase schaltete sich Italiens Ministerpräsident Alcide Degasperi persönlich ein. Gruber unterrichtete uns jeden Tag genauestens über den Stand. Natürlich drängten wir Südtiroler auf eine Vereinbarung mit möglichst umfassenden Schutzbestimmungen.
 

Die Zustimmung

 
Am 4. September nachmittags ließ uns Gruber rufen. Mit ziemlich ernstem Gesicht saß er an seinem Schreibtisch und verlas uns den Text des Abkommens, wie es am nächsten Tag unterschrieben werden sollte. Wir fanden daran dieses und jenes auszusetzen. Der Minister ließ aber keinen Zweifel mehr daran, dass keine Verbesserungen mehr möglich seien. Es gab nur ein Entweder-Oder. 
Wenn wir nicht schnell handelten, würden wir den Omnibus für die Aufnahme des Abkommens in den Friedensvertrag mit Italien verpassen. Sicher, gab Gruber zu, seien einzelne Bestimmungen des Übereinkommens mangelhaft, aber das Wichtigste sei jetzt der Abschluss eines international abgesicherten Vertrages. 
 
Damit erhalte Österreich einen Rechtstitel als Schutzmacht für Südtirol. Österreich könne in Zukunft alle für die Südtiroler lebenswichtigen Fragen auf internationaler Ebene aufwerfen. Solche Schritte würden sich für Italien höchst unangenehm auswirken. Diese internationale Garantie bilde also die stärkste Handhabe für die Durchsetzung der Südtiroler Forderungen. 
Man dürfe sich nicht zu sehr auf Einzelheiten versteifen, sondern müsse die Basis für eine spätere Aufrollung der Südtirolfrage legen, wenn Österreich wieder mehr politisches Gewicht habe. Mit leisem Lächeln fügte er noch hinzu, vielleicht sei es gar nicht gut, wenn alle Punkte des Vertrages ganz klar abgefasst würden. Für einen Schwachen sei es besser, wenn die Klauseln eines Abkommens mit dem Stärkeren elastisch lauten, weil der Schwache dann später, wenn er ein ebenbürtiger Partner geworden sei, über die Auslegung der Klauseln prozessieren könne. 
Mit leisem Lächeln fügte Karl Gruber noch hinzu, vielleicht sei es gar nicht gut, wenn alle Punkte des Vertrages ganz klar abgefasst würden. 
Die Ausführungen des Ministers überzeugten uns. Aus ihnen sprach ein kluger Diplomat und profilierter Staatsmann. Wir gaben unsere Zustimmung zur Unterschrift. Gruber hatte uns versichert, dass er ohne unser Placet das Abkommen nicht unterfertigen würde. 
 

In der Höhle des Löwen

 
Am 5. September unterzeichneten Ministerpräsident Alcide Degasperi und Außenminister Karl Gruber den Vertrag über Südtirol, der als Gruber-Degasperi- Abkommen in die Geschichte eingegangen ist. Der Originaltext ist in englischer Sprache abgefasst. ...(...)....
Nach dem Abschluss mussten nun alle Bemühungen der Südtiroler Vertreter darauf ausgerichtet werden, das Abkommen in den Friedensvertrag mit Italien einzufügen und es auf diese Weise unter internationale Garantie zu stellen. Ursprünglich war zwischen den beiden Staaten vereinbart worden, dass sie beide einen entsprechenden Antrag einbringen würden. 
Degasperi machte aber einen Rückzieher. Aus innenpolitischen Gründen könne er nicht so weit gehen. Auf Ersuchen Österreichs brachten in der ständigen Politisch-Territorialen Kommission der belgische Außenminister P. H. Spaak und der holländische Chefdelegierte, Botschafter Jorda van Starkenborgh, einen entsprechenden Antrag auf Abänderung des provisorischen Artikels 10 des Friedensvertragsentwurfes ein. 
Dagegen stellten sich alle Delegationen der Ostblockstaaten unter Führung Moskaus. Die Russen, die wohl an einem Zankapfel im westlichen Lager interessiert waren, erblickten in diesem Versuch eine englisch-amerikanische Machenschaft gegen den Ostblock, wie mir Drago Marusic am 21. September vor dem Konferenzsaal bestätigte. Die Südtiroler mussten also, wollten sie die gewünschte internationale Garantie nicht gefährden, auch mit den Ostblockdelegationen Fühlung aufnehmen. 
Selbstverständlich mussten wir gleich in die Höhle des Löwen gehen. Auf dem Umweg über einen befreundeten Journalisten ersuchten wir um eine Aussprache mit dem sowjetrussischen Außenminister Molotow. Dieser reagierte überraschend schnell. Bereits einen Tag später, am 17. September, ließ er uns wissen, dass er uns aus Zeitmangel leider nicht „persönlich empfangen könne, dafür aber den Außenminister der Sowjetrepublik Estland, G. Krouous, mit dieser Aufgabe betraut habe. Dies hätte den Vorteil, dass Krouous auch perfekt Deutsch spräche.
Die Sowjets wusste über unseren Lebenslauf besser Bescheid, als wir auch nur ahnen konnten. 
Schon einen Tag später überschritten wir die Schwelle der sowjetischen Botschaft in Paris und wurden höflich zu den Räumen des Ministers geleitet. Er begrüßte uns in bestem Deutsch herzlich. Dr. Otto von Guggenberg, Dr. Thalhammer und ich mussten zunächst unsere Namen, unseren Beruf und unseren Wohnsitz genau angeben. Guggenberg versäumte nicht, gleich zu Beginn der Unterredung zu erwähnen, dass ich unter dem Naziregime im Konzentrationslager Dachau inhaftiert gewesen sei. Für Krouous schien diese Mitteilung keine große Neuigkeit zu sein, denn wie sich bei einem zweiten Gespräch herausstellen sollte, wussten die Sowjets über unseren Lebenslauf besser Bescheid, als wir auch nur ahnen konnten. 
Der Minister erkundigte sich dann eingehend bis in die letzte Einzelheit über die Geschichte und die heutige Lage in Südtirol. Schließlich fragte er uns, ob der österreichisch-italienische Vertrag die Südtiroler wohl zufriedenstelle. 
Die Russen hatten anscheinend erwartet, dass die Südtiroler Vertreter gegen das Abkommen, das weder Österreich noch uns ganz befriedigte, Stellung beziehen würden. Diese Hoffnung war gewiss auch ein Mitgrund dafür gewesen, dass Molotow auf unser Ersuchen so schnell eingegangen war. 
Hätten wir uns zu negativen Äußerungen hinreißen lassen, hätten wir den Ostblockstaaten die beste Handhabe für eine noch härtere Opposition gegen die Aufnahme des Abkommens in den Friedensvertrag zugespielt. Soweit politisch geschult waren wir aber in der Zwischenzeit, dass wir die gewünschte Munition nicht lieferten. 
Wir antworteten also, dass das Abkommen in Anbetracht der derzeitigen internationalen Lage das bestmöglich Erreichbare darstelle. Selbstverständlich hätten wir nichts dagegen einzuwenden, wenn auf der Friedenskonferenz noch Verbesse- rungen vorgenommen werden könnten. 
Dann kam eine zweite Stichfrage: Krouous wollte wissen, ob wir über das Abkommen schon mit den Engländern und Amerikanern gesprochen hätten. Wir konnten mit bestem Gewissen verneinen, weil die Delegationen dieser beiden Länder bis dahin eine direkte Fühlungnahme mit uns abgelehnt hatten. Und jetzt schien ein Bann gebrochen. Das Gesicht von Krouous hellte sich merklich auf. Er wurde viel, viel freundlicher, und von noch liebenswürdigerer Seite zeigte er sich, als wir ihm versichern konnten, dass den Antrag zur Aufnahme in den Friedensvertrag nur die Delegationen der Niederlande und Belgiens einbringen würden. 
Später sollte sich jedenfalls herausstellen, dass die Unterredung der Südtiroler mit dem sowjetrussischen Delegationsmitglied Krouous von beachtlicher Bedeutung war. 
 

Krouous Kehrtwendung

 
Für den 21. September 1946 war die Sitzung der Politisch-Territorialen Kommission der Friedenskonferenz anberaumt, in welcher über den italienischen Friedensvertrag und damit auch über die Aufnahme des Südtirolabkommens in den Vertrag entschieden werden sollte. Die Tage vorher hatten die Amerikaner, Engländer und Franzosen die Österreicher versucht zu bewegen, den Antrag doch noch zurückzuziehen. Sie verwiesen darauf, dass der sowjetische Vizeaußenminister Wischinsky bei der Konferenz der stellvertretenden Außenminister aus allen Rohren gegen das Abkommen geschossen und gedroht habe, dessen Einfügung in den Friedensvertrag mit einem Veto zu blockieren. Minister Dr. Karl Gruber lehnte ein solches Ansinnen entschieden ab. Und die Belgier und Holländer standen zu ihrem Wort. 
Die Sitzung begann. In den für Journalisten reservierten Bänken hatte auch ich zusammen mit Dr. Thalhammer und Frau Dr. Forcher-Mayr Platz genommen.
Wir saßen da in gespanntester Erwartung der Dinge, die da kommen würden. Nacheinander wandten sich die Sprecher von Weißrussland und Jugoslawien gegen die Einbeziehung des Südtirolabkommens in den Friedensvertrag. Sie begründeten ihr Nein damit, dass das Abkommen eine Angelegenheit zwischen den beiden Staaten sei und nicht in die Zuständigkeit der Konferenz falle. Im Übrigen sei dieser Südtirolvertrag viel zu vage abgefasst. Es seien auch schon Meinungsverschiedenheiten bezüglich der gebietlichen Ausdehnung der Autonomie aufgetaucht. 
 
Nach dem Jugoslawen Alex Bebler meldete sich Wischinsky zu Wort. Die Spannung für die Südtiroler und Österreicher erreichte den Siedepunkt. Und dann ging ein großes Aufatmen durch ihre Reihen: Wischinsky teilte nur mit, dass Minister Krouous im Namen der sowjetischen Delegation zu diesem Thema sprechen werde. Krouous blies zunächst in das Horn seiner Vorredner aus den Ostblockstaaten. 
Er behauptete, dass die Friedenskonferenz für ein solches Abkommen überhaupt nicht zuständig sei, weil es sich um einen Vertrag zwischen zwei Staaten handle, die beide im Krieg auf der anderen Seite standen. Nach dieser polemischen Einleitung machte der Redner eine hundertprozentige Kehrtwendung. 
Er fand für unser Land die wärmsten Worte und beteuerte, dass die Sowjetunion schon immer größte Sympathie für Südtirol empfunden habe. Deswegen sei es bedauerlich, dass das Abkommen den Wünschen der Südtiroler leider nicht genügend Rechnung trage. Nun war es klar. Die Sowjetunion würde von ihrem Vetorecht keinen Gebrauch machen. Die Vorsprache der Südtiroler bei den Sowjets hatte sich gelohnt. 
 
 

Eine gute Zweidrittelmehrheit

 
Mit dem Ergebnis der Abstimmung in der Politisch-Territorialen Kommission konnten die Österreicher und Südtiroler zufrieden sein. Von den 20 Mitgliedern (Norwegen war in dieser Kommission nicht vertreten) stimmten 13 für den belgisch-holländischen Antrag, und zwar: Australien, Belgien, Brasilien, China, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Holland, Indien, Kanada, Neuseeland, Südafrika und die Vereinigten Staaten. 
 
Sämtliche Ostblockstaaten ließen sich mit Nein vernehmen: Jugoslawien, Polen, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Ukraine und Weißrussland. Der Delegierte Äthiopiens enthielt sich der Stimme. Er hatte uns zu unserer nicht geringen Enttäuschung bereits bei unserer Vorsprache bedeutet, sein Land wolle sich in europäische Angelegenheiten nicht einmischen. Dabei hatten wir in unserer Einfalt gerade von Äthiopien das größte Verständnis erwartet, war es doch vom Faschismus überfallen worden, der ja auch der Erzfeind Südtirols gewesen war. 
Dabei hatten wir in unserer Einfalt gerade von Äthiopien das größte Verständnis erwartet, war es doch vom Faschismus überfallen worden, der ja auch der Erzfeind Südtirols gewesen war. 
Die drei Westmächte hatten sich verpflichtet, die Anträge, die auf der Friedenskonferenz eine Zweidrittelmehrheit erreichten, auf der letzten Außenministerkonferenz zum italienischen Friedensvertrag zu vertreten. Für uns hatte also auch die Abstention Äthiopiens eine gewisse Bedeutung. Sie brachte uns eine gute Zweidrittelmehrheit. 
Diesmal hielt der Westen sogar sein Versprechen. Molotow soll sich auf der Außenministerkonferenz am 4. Dezember in Washington mit Händen und Füßen gegen die Aufnahme des Südtirolabkommens in den Friedensvertrag gesträubt haben. Doch bekundete der Westen Standfestigkeit, und der Russe lenkte daraufhin auch ein. ...(...)...
Als diese frohe Kunde nach Südtirol kam, begegnete ich am nächsten Morgen auf der Talferbrücke dem Parteiobmann Erich Amonn. Er lächelte in seiner netten Art sehr zufrieden. „Diesmal ist es doch gut gegangen“, meinte er. Amonn verstand zum Unterschied von den meisten Südtiroler Politikern der damaligen Zeit die Bedeutung dieser Einfügung. 
 

Enttäuschte SVP-Leitung

 
Bevor wir von Paris Abschied genommen hatten, ließ mein Kollege Dr. Otto von Guggenberg, ein ganz gewiegter Taktiker, sich vom Minister Gruber noch einen Brief ausstellen, mit welchem jeder Zweifel ausgeräumt wurde, dass ohne Zustimmung der Südtiroler die Autonomie nicht auf das Trentino ausgedehnt werden dürfe. Dies habe ihm Alcide Degasperi ganz ausdrücklich versichert. Das Schreiben wurde von uns immer wieder in die Waagschale der Autonomieverhandlungen geworfen. Degasperi stand nicht zu seinem Wort. Und Österreich wartete noch neun Jahre lang auf den Staatsvertrag. 
Auf unserer Heimfahrt blieb uns der Weg über das Gebirge erspart. Die italienische Botschaft stellte uns großzügig Reisepapiere aus. Alle italienischen Nationalisten in Bozen wurden bitterlich enttäuscht. Sie hatten uns ja schon wegen Hochverrates im Kerker gesehen. Die italienische Behörde löste den Fall unserer unerlaubten Ausreise aber auf echt Italienisch: Sie nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. 
Jahrzehnte mussten vergehen, bis man in Südtirol den wahren Wert des Pariser Vertrages erkannte.
Die Leitung der Volkspartei hörte unseren Bericht über das Abkommen sicher nicht mit Begeisterung an. Wir zwei wurden zwar nicht verurteilt, wir wurden aber auch nicht als Helden gefeiert. Gegen Minister Gruber wurden von gewissen Seiten Vorwürfe erhoben. Man beschuldigte ihn, dass er zu schnell beigegeben, dass er sich von Degasperi habe überspielen lassen und so weiter. 
Jahrzehnte mussten vergehen, bis man in Südtirol den wahren Wert des Pariser Vertrages erkannte. Guggenberg und ich waren nach unserer Heimkehr mona- telang ununterbrochen landauf, landab unterwegs. Es kostete uns nicht geringe Mühe, die Südtiroler nach der Enttäuschung wieder moralisch aufzurichten. Wir mussten uns heiser reden, um in ihnen neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufleben zu lassen.
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19 amet Mi., 05.09.2018 - 21:51

Stellen wir uns eine heutige Verhandlungsdelegation vor mit dem Knoll, dem Kollmann, der Ulli und ein paar anderen Größen
unserer Politszene. Das wär was.

Mi., 05.09.2018 - 21:51 Permalink